Volksredner

[661] Volksredner, sind Redner, welche die Absicht u. die Fähigkeit haben durch den mündlichen Vortrag aus die Gefühle u. Entschließungen der großen Masse des Volks einen bestimmenden Einfluß auszuüben. Am nächsten liegt die Übung der Volksberedtsamkeit den Geistlichen, den Predigern, indem es die Aufgabe der geistlichen Beredtsamkeit ist Jeden, den Ungebildeten wie den Gebildeten, den Niedrigen wie den Hohen, religiös zu erbauen u. sittlich zu erwärmen. Peter von Amiens, Savonarola, Geiler von Keysersberg, Tauler, Luther, Abraham von Sta. Clara sind, wenn auch in sehr verschiedener Weise, solche geistliche V. gewesen, während die oratorischen Meisterwerke eines Bourdaloue, Massillon, Bossuet, Schleiermacher u.A. mehr auf das entgegenkommende Verständniß der Gebildeten gerechnet haben. Der andere Hauptzweig der Volksberedtsamkeit ist die politische. Sie kann sich nur da ausbilden, wo das Volk selbst an den öffentlichen Angelegenheiten lebendigen u. rechtlich gesicherten Antheil nimmt u. die bedeutendsten politischen Maßregeln von den Beschlüssen der Volksversammlung abhängen. Daher waren z.B. in Athen in der Blüthezeit seiner demokratischen Verfassung die großen Staatsredner auch zugleich große V. u. diese Beredtsamkeit eine der unentbehrlichsten Eigenschaften, um zu politischem Einflüsse zu gelangen. In den modernen Staaten mit ihren Repräsentativverfassungen treten an die Stelle der V. die Parlamentsredner (vgl. Politische Beredtsamkeit) u. die Presse; in politisch aufgeregten Zeiten aber, wie z.B. in der ersten Französischen Revolution, in Deutschland in den Jahren 1848 u. 1849, traten in der Regel sehr bald eigentliche V. auf Die allgemeinste Bedingung der Volksberedtsamleit ist die Fähigkeit des Redners sich in die Denk- u. Gefühlsweise der Volksmassen hineinzuversetzen u. seinen Gegenstand von diesem Gesichtspunkte aus klar u. faßlich darzustellen; in politischen Dingen hat außerdem die Kunst die Phantasie der großen Menge aufzuregen, deren Vorurtheilen zu schmeicheln u. deren Leidenschaften aufzustacheln zu allen Zeiten den V-n einen nicht geringen Theil ihres Einflusses verschafft; daher schon im griechischen Alterthum diese Art von Volksberedtsamkeit einer oft sehr bittern Kritik unterworfen worden ist.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 18. Altenburg 1864, S. 661.
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