Roraffe

1. Roraffen immer schrien: hüte den Seckel.Eiselein, 530.

Der Roraffe im Münster zu Strasburg war in der That eine kaum glaubliche Ungeheuerlichkeit. Es war dies eine unter der herrlichen 1489 von Krebser aus Anspach erbauten Orgel befindliche, verzerrte Holzfigur, halb Mensch, halb Thier, ein Gebilde wie es eben nur eine rohe Phantasie des frühern Mittelalters zu ersinnen vermochte. Es hatte schon die älteste, 1260 errichtete Orgel des Münsters ge- oder vielmehr verunziert; und der neue Orgelbauer war genöthigt worden, die hässliche, jedoch volksthümliche Fratze dem Werke anzuhängen. Die affenartige Figur hatte einige bewegliche Körpertheile und stand mit dem Pfeifenwerk wie den Windladen der Orgel selbst in Berührung, sodass beim Spielen die laugen Arme sich bewegten, das weite Maul sich öffnete und laut schallend wieder zuklappte; und dies alles während des feierlichsten Gottesdienstes und zur, wenn auch nicht Erbauung, doch Erheiterung der Andächtigen. Daran war es aber noch nicht genug. Die Figur war hohl, und zu Pfingsten verbarg sich irgendein witziger Laie oder gemeiner Priester in dieselbe. Zogen dann die Processionen der Landleute mit ihren Fahnen und Heiligthümern, mit ihren Geistlichen und frommen Gesängen in den Münster, von den mächtigen Klängen der Orgel, dem Singen der Priester am Hochaltar und auf dem Chor begrüsst, so begann auch der Roraffe sein Spiel, indem er in die heiligen Hymnen die unflätigsten Lieder brüllte, die rohesten Spässe und Spottreden über Laien und Pfaffen losliess, sodass die Bauern anfänglich verwundert und entsetzt darein schauten, dann aber in lautes Lachen ausbrachen, während am andern Ende des Münsters der Gottesdienst weiter ging. Ob Hochamt oder Predigt u.s.w., die Spottfigur liess nicht eher in ihrem Treiben nach bis dem in ihr verborgenen Urheber alle Kraft der Lunge ausgegangen war. Das war der Roraffe im Münster zu Strasburg, der, so lange wie die Kirche bestand, sein Wesen getrieben. Wenn sich auch zeitweise Stimmen gegen denselben erhoben, Rath und Geistlichkeit schützten ihn. Zu Ende des 16. und des folgenden Jahrhunderts donnerte Geiler von Kaisersberg von der Kanzel gegen den Roraffen, verklagte ihn beim Rath, aber vergebens. Sogar die Reformation, die sich in Strasburg nicht ohne Kampf vollzog, überdauerte er, wenn er auch in der öffentlichen Gunst nicht mehr so fest wie früher stand. Aber auch sein Stundlein kam. Es war im Jahr 1500 als sich in der katholischen Bevölkerung zwei Parteien bildeten, von denen die eine seine Entfernung anstrebte. Ein junger Bildschnitzer der letztern hatte für Pfingsten dieses Jahres zwei andere angemessene Figuren für die Orgel angefertigt und sie, um die Aufmerksamkeit des Volks vom Roraffen abzulenken, auf der Orgel aufgestellt. Der Goldschmied Wumser, der früher oft am Pfingstfest sich im Roraffen verborgen gehalten und seinen Spott getrieben [1722] hatte, wollte die neuen Figuren, welche der Bildschnitzer Tobel aufgestellt hatte, noch vor dem Pfingstfeste entfernen. Er schlich sich nachts in die Kirche, bestieg, um sie mittels einer Stange erlangen zu können, den Roraffen und brach mit ihm zusammen. So wurde derselbe aus dem Münster entfernt. (Vgl. Allgem. Familienzeitung, Stuttgart 1872, Nr. 45, S. 354, in dem Artikel Die Meistersinger von Strasburg, von Ernst Basqué.)


*2. Dem Roraffen an den Bart greifen.Eiselein, 530.


*3. Den Roraffen gesehen haben.

»Von jemand, der sich mit grosser Weisheit brüstet. Manch Narr helt sich gar hoch darumb, das er auss Welschen landen kumb vnd sey zu Schulen worden weiss ... vnd den Roraffen gesehen het.« (Brandt, Nsch., 92, in Kloster, I, 712.)


*4. Den Roraffen zugiehnen (zusehen).Eiselein, 530.

Zunächst von einem Kirchenbesuch aus Gewohnheit oder um Geschäfte abzuthun, sich zu unterhalten, seine Neugier zu befriedigen u.s.w. »Viel stehn in Kirchen vnd im Chor, die schwetzen u.s.w .... Das ist andechtig gbett vnd gut, da man solch Ding aussrichten thut, vnd werden Pfründen wol verdient, so man den Roraffen zu gient.« (Brandt, Nsch., 91, in Kloster, I, 709.)

Quelle:
Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon, Band 3. Leipzig 1873, Sp. 1722-1723.
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