Gedächtniss

[156] Gedächtniss ist das Vermögen, Vorstellungen, Worte, Zahlen und dergl. in der Seele festzuhalten, sodaß man dieselben nach Belieben ins Bewußtsein rufen kann. Das Gedächtniß ist also Erinnerung, aber so, daß der Gegenstand nicht nur im Allgemeinen und in unbestimmten Umrissen, sondern nach allen seinen Theilen auf das Bestimmteste vor der Seele steht. Um ein gutes, d.h. Seeleneindrücke festhaltendes und nie versagendes Gedächtniß zu besitzen, ist nöthig, daß man überhaupt den Gedankeninhalt seines Geistes stets zusammenhalte und übersehe, d.h. daß man besonnen sei. Der besonnene Mensch besinnt sich leicht, welches selbst der Ausdruck für »er hat ein gutes Gedächtniß« ist. Der zerstreute Mensch ist unbesonnen und ohne Gedächtniß. Man unterscheidet das Gedächtniß häufig nach den Gegenständen, auf die es sich bezieht, und spricht in dieser Beziehung von einem Namen-, Zahlen-, Ortgedächtniß, von einem Gedächtniß für Thatsachen (Sachgedächtniß) u.s.w., und allerdings kommt es vor, daß dieselbe Person ein ausgezeichnetes Gedächtniß z.B. für Thatsachen und ein sehr schlechtes für Zahlen hat. Niemals aber werden ein gutes Namengedächtniß und ein schlechtes Zahlengedächtniß vereinigt sein. Personen von lebhafter Einbildungskraft werden nämlich Vorstellungen sehr leicht in der Seele behalten, wogegen andere, bei denen die Verstandesthätigkeit vorzugsweise ausgebildet ist, ein besseres Gedächtniß für abstracte Gegenstände haben. Thatsachen sind Gegenstände der Vorstellung, Zahlen und Namen dagegen des abstracten Verstandes. Zur Bildung eines guten Gedächtnisses sind schon in der Jugend gepflegte Übungen das beste Mittel. Der jugendliche Geist ist nämlich durch die Neuheit, die alles ihm Entgegenkommende für denselben hat, am meisten zur Zerstreutheit geneigt, und durch die Gedächtnißübungen, das sogenannte Auswendiglernen oder Memoriren, wird derselbe nicht allein mit nützlichen Kenntnissen erfüllt, sondern überdies zur Besonnenheit geführt, ohne welche es kein Gedächtniß gibt. Die Alten hatten eine eigne Gedächtnißkunst, welche sie Mnemonik nannten und die eine Belehrung über die mannichfaltigen Kunstgriffe enthielt, welche man anwenden kann, um Worte, Reden, Namen und dergl. mit Leichtigkeit zu memoriren. Dahin gehört z.B., daß man eine Rede leichter memorirt, wenn man die einzelnen Theile derselben vorzugsweise sich merkt und [156] vielleicht diese mit geläufigen Vorstellungen, die übrigens gegen den zu memorirenden Gegenstand ganz fremdartig sein können, combinirt, etwa mit den Theilen des menschlichen Körpers. Im Allgemeinen besteht die Mnemonik in der Kunst, Vorstellungen und abstracte Gedanken so zu verbinden, daß die einen an die andern erinnern und jene mithin diese hervorrufen helfen. Die beste Zeit zum Memoriren ist der Morgen, weil des Morgens der Seele noch wenig Gegenstände entgegengetreten sind, welche eine Zerstreuung hätten veranlassen können, der Geist also gesammelt ist. Auch ist das Überlesen des dem Gedächtnisse Einzuprägenden vor Schlafengehen zu empfehlen, weil im Schlafe die Seele sich mit den letzten und lebhaftesten Eindrücken zu beschäftigen pflegt. Wahre Gedanken haften in dem Geiste, ohne daß man sie memoriren kann, weil sie nicht etwas Aufgenommenes, sondern vom Geiste selbst Geschaffenes sind; sie sind ein ewiges, unveränderliches Eigenthum des Geistes, welches er, einmal gewonnen, nicht wieder verlieren kann. Die beste Regel zum Memoriren ist folglich die, daß man das auswendig zu Lernende erst zu verstehen suche, dann besitzt man es als Gedanke und kann, wenn auch die Form, doch den Inhalt desselben nie vergessen. Am leichtesten, ja ganz von selbst werden daher Worte behalten, die einen Gedanken auf die angemessenste, vollkommenste Weise ausdrücken, z.B. einzelne Verse. Das nur dem Gedächtniß Eingeprägte verschwindet allmälig aus der Seele, wenn es nicht von Zeit zu Zeit wieder hervorgerufen wird, auch bei völliger Gesundheit des Geistes. Wie alle geistigen Vermögen, wird auch das Gedächtniß im Alter und in heftigen Krankheiten schwach, ja verschwindet oft ganz, zuweilen nur auf gewisse Zeit, zuweilen für immer. Am Gedächtniß selbst kann man drei Thätigkeiten unterscheiden: das Auffassen, welches schnell oder langsam geschehen kann; das Festhalten, welches sich auf längere oder kürzere Zeit erstreckt, stark oder schwach ist, und endlich das Wiedergeben des Eingeprägten, welches leicht oder schwer geschieht und hierdurch ein treues oder untreues Gedächtniß bedingt.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 156-157.
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