Vers

[595] Vers. Die Dichtkunst versteht unter Versen den in metrisch bestimmtem und gegebenem Umfang sich rhythmisch bewegenden sprachlichen Ausdruck von Gedanken, wozu in den neuern Sprachen noch der Reim (s.d.), Alliteration und Assonanz (s.d.) sich gesellen. Den metrischen Umfang, das sprachliche Zeitmaß einer Versart oder ihr Versmaß, ihr Metrum bestimmt die Metrik (s.d.), die Anwendung der Versmaße aber ist Sache der Verskunst, welche aber außer Metrum, Rhythmus und Text eines Gedichts, auch noch die Prosodie, oder das Maß der einzelnen Sylben nach ihrem Zeitverhältniß im Auge haben muß. Nach hergebrachtem Sprachgebrauche wird auch wol eine bestimmte Folge verbundener Verse wieder ein Vers genannt, und in diesem Sinne spricht man z.B. von Liederversen, wofür aber richtiger Strophe und Stanze zu sogen ist. Die kleinste Abtheilung eines Versmaßes ist der Fuß, der aber für sich keinen Vers gibt; dieser entsteht erst durch eine Folge von Versfüßen und zwei davon oder ein Doppelfuß, eine Dipodie, würden einen kleinen, ein unvollständiger Doppelfuß den möglichst kleinen Vers geben. Die gewöhnlichen Versfüße sind: Spondeus, der aus zwei langen Sylben (– –) besteht, wie die Worte Wahrheit, Zukunft, deren es aber wenige im Deutschen gibt; Trochäus, eine lange und eine kurze Sylbe (– ñ); Jambus, eine kurze und eine lange ( ñ –) Sylbe; Daktylus (– ñ ñ); Anapästus ( ñ ñ –); Molossus (– – –); Tribrachys ( ñ ñ ñ); Choriambus (– ñ ñ –). Die Verse oder Versmaße werden theils nach den Füßen benannt, aus welchen sie bestehen, theils nach ihrem Charakter, nach Dichtern und andern Eigenschaften. Man spricht daher von trochäischen, anapästischen, jambischen Versarten; ein sechsfüßiges, jambisches Versmaß ist der Alexandriner (s.d.); der heroische oder daktylische Vers, der Hexameter, in welchem Daktylen und Spondeen wechseln, bildet mit dem Pentameter das elegische Versmaß. (S. Distichon) Nicht immer werden die Füße eines Verses sprachlich ganz ausgefüllt und ein Vers, an dessen letzterm Fuße (Takte) eine oder mehre Sylben fehlen, wird ein unvollständiger oder katalektischer, ein vollständiger dagegen als ein akatalektischer bezeichnet. Ohne einen Ruhepunkt oder Einschnitt (s. Cäsur) wird jeder Vers matt, schleppend und dem Ohre unangenehm. Was in der deutschen Sprache die Bestimmungen über Länge und Kürze oder die sogenannte Quantität der Sylben anlangt, so hängt diese nicht allein von der Natur derselben, sondern vielfach vom Accent (s.d.) und andern Rücksichten ab, während in der franz. Sprache zum Versemachen nur das Abzählen der Sylben erfoderlich ist. Von Dillschneider ist eine »Verslehre der deutschen Sprache« (Köln 1823) herausgegeben worden, jedoch fehlt es noch an einem Hauptwerke über deutsche Verskunst.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 595.
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