Vers libres

[107] Vers libres (spr. wǟr lībr') heißen im Französischen Verse von verschiedener Silbenzahl, die ohne feste Regel aufeinander folgen und in der Anordnung der Renne gleiche Freiheit aufweisen. In v. 1. sind z. B. Lafontaines Fabeln und Molières »Amphitryon« geschrieben. Auch in der deutschen Literatur sind die »freien Verse«, die nicht mit den sogen. »freien Rhythmen« verwechselt werden dürfen, häufig gebraucht worden (Gellert, Goethe u. v. a.). Vgl. Ch. Comte, Les stances libres dans Molière (Versailles 1893). In der modernen französischen Literatur ist der vers libre in andrer Form von größter Bedeutung geworden. Jules Laforgue (1860–87) hat[107] nach deutschem und englischem Vorbild (Beispiele Goethes »Nachtlieder«) von jedem Silbenmaß abgesehen und auch den Reim von den Regeln der französischen Metrik befreit. Die »Dekadenten«, »Symbolisten« und andern modernen Gruppen pflegten ihn von 1890 an mit Eifer. Hauptvertreter der vers libra-Dichtung waren Henri de Régnier, Francis Vielé-Griffin, Stuart Merrill, Francis Jammes, die Belgier Émile Verhaeren, Charles van Lerberghe, Maurice Maeterlinck (reimlose Stücke der »Serres chaudes«), André Fontainas, Albert Mockel. Nach dem Erscheinen der Gedichte Albert Samains (1893 und 1897), die modernen Geist wieder mit strenger Metrik vereinten, sagten mehrere dieser Dichter (Régnier, Lerberghe) dem vers libre ab. Am heftigsten wurde der Kampf für und wider den vers libre in Belgien geführt und war dort sehr fruchtbar. Vgl. O. Hauser, Die belgische Lyrik von 1880–1900 (Großenhain 1902). In der deutschen Dichtung trat eine Rückbeeinflussung ein, so in Richard Dehmels Epos »Zwei Menschen«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 107-108.
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