Chirurgie

[375] Chirurgie ist derjenige wichtige Theil der Heilkunde (s. d.), welcher die Behandlung der äußern Krankheiten, oder die der innern durch äußere Mittel umfaßt, und den Namen von den griechischen Wörtern Hand (Cheir) und Werk (Ergon) erhalten hat. Weil aber in vielen Fällen das äußere und innere Verfahren, Instrumentalhilfe und Arzneimittel nicht zu trennen sind, kann man eigentlich die Chirurgie nicht von der Medicin trennen und muß dieselbe bloß als die Kunst bezeichnen, welche mit bloßer Hand oder Instrumenten zur Heilung der Uebel wirkt. In den ältesten Zeiten umfaßte die in der Kindheit begriffne Heilkunde alle Lehren vereinigt und dasselbe Individuum war Arzt, Chirurg und Apotheker. Später lernten die Menschen die Anwendung innerer Mittel damit verbinden und aus den geschichtlichen Dichtungen Homers[375] erfahren wir, daß die gefeierten Helden zugleich Chirurgen waren, denn Achilles that den Rost seiner Lanze auf die Wunde des Telephus und Patroklus schnitt einen Pfeil aus dem Fleische. Die Griechen machten den Aeskulap, den Gott der Heilkunst zum Sohn des Panakee träufelnden Sonnengottes, und verehrten das göttliche Geschenk so, daß Könige, Krieger und Priester sie übten. Aber schon beim Argonautenzuge waren Melampus, der Centaur Chiron und dessen Schüler Aeskulap die Aerzte, und vor Troja verbanden die Söhne des Letztern, Machaon und Podalirius, die Wunden der Griechen. Schon 2460 Jahre vor Christus waren in China der König Cinigo und sein Nachfolger Ho-Hamti als Aerzte berühmt, und Indiens sagenreiche Vorzeit hatte Gaukler zu Aerzten. Der weise Salomo, der 200 Jahre nach dem trojanischen Kriege regierte, hatte viel Sinn für die Heilkunst, die er verstand. In den Tagen der Vorzeit waren die Tempel das Forum der priesterlichen Aerzte, und die Instrumente wurden im Heiligthume auf. bewahrt. Die ägyptischen Gottheiten waren zugleich Aerzte gewesen, und man betete Osiris, Apis, Hermes als Wohlthäter der Menschheit an, und heilte in den Tempeln nach ihren heilig gehaltenen und niedergeschriebenen Vorschriften. Aber die Kenntniß mußte beschränkt sein, weil die Grundlage der Chirurgie, die Anatomie aus Abscheu vor der Verstümmelung der heilig geachteten Leichen nur unvollkommen bekannt war. - Hippokrates, der göttliche Genius von der Insel Kos, dessen Werke die heilige Schrift der Aerzte sind, sammelte mit riesigem Fleiße und unendlich praktischem Scharfsinn das damals (460 Jahr vor Christus) Bekannte, läuterte und vermehrte es mit seiner gediegenen Erfahrung und gab uns die erste Schrift über Medicin und Chirurgie. Nach ihm, der alles Bekannte erschöpft hatte, schweigt die Geschichte über das Vorwärtsschreiten, bis 200 Jahre später Erasistratus und Herophilus in Alexandrien Leichname zergliederten und wichtige Entdenkungen machten. Einige Jahre nach Christus trat C. Celsus[376] ein gebildeter Römer und Nichtarzt, als Schriftsteller auf, und zeigte die Fortschritte der Chirurgie seit Hippokrates. Zu dieser Zeit singen die Sklaven an Chirurgie auszuüben, und die Kunst machte wenig Fortschritte, welche der Brand der Bibliothek in Alexandrien noch mehr hemmte. Nur die Araber bewahrten sie vor dem ganzlichen Untergange, übersetzten die geretteten griechischen Schriften und erfanden viele Instrumente und Mittel. Im Mittelalter übten Mönche, Priester und Juden die Chirurgie, bis zur Zeit der Kreuzzüge den Geistlichen die blutigen Operationen verboten wurden, und wegen der nach Europa verpflanzten Ausschlagskrankheiten, die Zunft der Bader, und nach Verbannung der Bärte durch Erzbischof Wilhelm von Rouen, Barbierstuben entstanden, wodurch die Chirurgie von der Medicin getrennt, und von den Universitäten verwiesen ward. Nur einzelne große Köpfe in Frankreich bewahrten den wissenschaftlichen Werth einer Kunst, die alte Knechte oder niedere Frauen übten. Ambrosius Paräus von Laval hat den Ruhm, die Chirurgie auf's Neue begründet zu haben, und sein Ruf rettete ihm das Leben in der Blutnacht. Nach ihm blieb sie in Frankreich stehen, schritt aber in England, Italien, Deutschland und Holland rasch vorwärts. Vor hundert Jahren aber erstand in Frankreich eine neue Chirurgie, und die größten Köpfe erhoben sie zur Norm für Europa. Jetzt, wo eine Gemeinschaft des Wissens alle gebildeten Völker umfaßt, ist die Chirurgie ein edles, mit der Medicin innig verbundenes Wissen, und nur in der Ausübung häufig davon getrennt; und neben den größten Namen des Auslandes verdienen in Deutschland genannt zu werden Ruft, Gräfe, Dieffenbach, Langenbeck, Walter, Chelius u. s. w. – Die Chirurgie ist wie die Geburtshilfe das mehr, Positive und Sichere der Heilkunst; ihr Erfolg kann unsicher sein, aber selten wird die Erkenntniß und Wahl des Heilverfahrens schwankend sein.

D.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 2. Leipzig 1834, S. 375-377.
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