Russland (Frauen)

[19] Russland (Frauen). Jahrhunderte vergingen, eh' in den Wäldern und Steppen der nordöstlichen Slavenländer die Grazie ihren Scepter erheben durfte. Die Frauen der Russen lebten in der unwürdigsten Sclaverei, namentlich waren die jungen Mädchen zu einer wahren Gefangenschaft verurtheilt. Sie durften niemals öffentlich erscheinen und nur sehr selten die Kirche besuchen, mußten unablässig nähen und spinnen, und kannten kein anderes Vergnügen als das Schaukeln. Selbst die Töchter der Fürsten vertrauerten ihr Leben eingekerkert in ihrem Schlosse oder in Klöstern, und erschienen nur bei großen Feierlichkeiten vor dem Volke und da stets tief verschleiert. Dabei waren sie alle, wie noch jetzt zum Theil die russ. Frauen der niederen Stände, großen Härten von Seiten ihrer Gatten, Brüder oder Väter ausgesetzt, und erst Peter der Große that den ersten Schritt zur Emancipation der so frevelhaft Gefesselten. Er lud die Moskowitischen Damen an seinen Hof, und gebot ihnen, sich ohne Scheu vor den Männern sehen zu lassen, und gab in seinen Palästen Feste, Gastmähler, Spiele und Bälle, wobei die Frauen in englischer, französischer oder deutscher Tracht erscheinen mußten. So gleichen denn jetzt die russischen Frauen der höhern Stände in Kleidung, Manieren, Luxus, Sitte und Geistesbildung den ausgebildetsten ihrer westeuropäischen Standesgenossinnen, und leben ungefähr in denselben Verhältnissen, ja sie haben in ihrer äußern Stellung vielleicht noch Vortheile voraus. So können sie z. B. ohne Vorwissen ihres Mannes über ihr ganzes eingebrachtes Vermögen verfügen. In den meisten russischen Städten gibt es Klöster und gute Pensionsanstalten für junge Fräulein, so wie auch für Mädchen aus dem Mittelstande. Geschichte, Mathematik, Zeichnen, ausländische Sprachen, Musik und Tanz sind die Gegenstände des Unterrichts, worauf fast mit übertriebener Sorgfalt gehalten wird. Das wahre Leben der russ. Frauen, nachdem sie in die Welt eingetreten, beginnt mit den Winterabenden. Da kommen die Kartenspiele, Musik und Gesang, der Shawltanz und die Masurka Ein Kenner des schönen Geschlechts sagt: »Die russ. [19] Frauen haben eigenthümliche markirte Züge. Es liegt Beweglichkeit in ihren Mienen, Schlauheit in ihrem Blicke und Ausdruck in ihrer Stimme; ihre Sprache ist sanft, liebkosend, schmeichlerisch; ihr Lächeln reizend, verliebt und leidenschaftlich, aber ihr Herz ruhig und kalt.«

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Damen Conversations Lexikon, Band 9. [o.O.] 1837, S. 19-20.
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