Russland (Geographie)

[7] Russland (Geographie). Von den malerischen, blumendurchwirkten Gestaden des schwarzen Meeres und den Tempethälern des hesperischen Frühlings von Astrachan, von den weit in Mittelasien sich verlierenden öden Steppen und traurigen Flächen der nomadischen Mongolen und Tataren, in seinem Innern unabsehbare, getreidereiche Ebenen mit stolzen Strömen und metallreichen Gebirgszügen, zieht sich das unermeßliche, ohne die nordamerikanischen Besitzungen, auf viertehalbhunderttausend Quadrat M. große, russische Kaiserreich bis an die arctischen Ufer des Eismeers und der nördlichsten Spitze des fernen Sibiriens, von nie zerrinnendem Schnee, von ewigem Eise bekränzt. In allen seinen Einzelnheiten und Beziehungen, in seinen Seen und Flüssen, wie in seinen Grenzen und Flächen von riesenhafter Dimension, und allen Zonen zugleich angehörend, entrollt es uns ein so wunderbar gemischtes, buntfarbiges, das Fremdartigste in seinen äußersten Enden umfassendes Gemälde, wie es wohl kein anderes Reich der Welt so reich an schroffen und imposanten Contrasten der Klimate, Produkte und der Nationalverschiedenheit seiner Völkerstämme aufweisen kann. Wundersame Binnenmeere, wie das kaspische, und der ungeheure Ladogasee, Urgebirge und Höhen, wie der fabelhafte Kaukasus, der[7] durch die heiligen Geschichten bekannte Ararat, – alles dieß, schon verbunden oder sich doch mehr oder weniger annähernd der eigenthümlichen Natur Asiens, ohne dabei schon ganz das europäische Element zu verläugnen, gibt diesem Lande einen höchst merkwürdigen und originellen Charakter. Traurig und öd' sind seine nordöstlichen Länder, die sibirischen Statthalterschaften Tobolsk, Tomsk und Irkutzk, wo zwei unermeßliche, durch die Beringsstraße verbundene, meist nur von Wallrossen, Wallfischen und Robben belebte Oceane, der große und der nördliche Eisocean, die Grenze R's bilden. Hier, längs den Ufern der Dwina, des Ob und Anadyr, erblickt das Auge nichts als unabsehbare Schnee- und Eisfelder, undurchdringliche Wüsten mit kärglichem Moos und Gestrüppe, während sich südlicher schauerliche Birkenwälder ausdehnen, die seit Jahrtausenden im unheimlichen Schweigen der Wildniß erstarrt und in ewige Nebel gehüllt sind. Nur einzelne, tollkühne Jäger lockt die Jagd auf Zobel, Hermeline und andere kostbare Pelzthiere in diese Urnacht der Wälder, wo leicht Kälte und Mangel ihnen für immer den Rückweg versagen. Fruchtbarer sind am obern Ob die Hochebenen mit fetten Wiesen und gutem Getreideboden, und milder selbst ist das so ganz nördlich liegende Kamtschatka, die Heimath des schnellfüßigen Rennthiers. Aber die reichsten Länder des Staats, wo Ceres am längsten weilte, als sie mit des Samens Korn Sitte und Menschlichkeit den Enkeln Rurik's brachte, sind die weiten und fruchtbaren Ebenen im mittleren und südlicheren Rußland, die mit blühenden Städten und Dörfern bedeckten Ufer der einen Weg von 430 M. durcheilenden, segensreichen Wolga (s. d.), des Königs der europäischen Ströme, ferner die Gestade des Kur und Ural, die sich sämmtlich in das kaspische Meer ergießen, die Landschaften Volhynien, Podolien, das Moskauer Gouvernement und die Ukraine. Gewerbfleiß und Wohlstand herrschen in diesen Provinzen, aus welchen Moskau und Petersburg ihre wesentlichsten Bedürfnisse ziehen, und welche die vornehmsten russ. Ausfuhrartikel, [8] Flachs, Hanf und Talg liefern. Hinter der Wolga hinweg vom äußersten Polarmeere, dem kurischen Meerbusen, zieht sich die große Grenzscheide des europ. und asiat. R's, der Platina- und Diamantengarten der alten Welt, der Ural, in die mittelasiatischen Salzsteppen. Aber R's Paradies sind die Gegenden am schwarzen Meere, welches mit dem Asowschen, nebst der europäischen und asiatischen Türkei, Gallizien, Krakau, Persien, Turkistan und der Mongolei R's Südgrenze bildet. Der gewaltige Don, der reißende Dnieper mit seinen Klippen und Fällen, der Dniester und der Kuban (zum Theil auch die Donau), bewässern herrliche Thäler, die namentlich in Georgien, Transkaukasien und der südlichen Krimm, von italischer Sonne durchglüht, reich an Wein und den Goldfrüchten des Südens, mit Hesperien an Ueppigkeit der Vegetation, an Milde des Klima, an Reichthum seiner Erzeugnisse wetteifern. Treffliche Schäfereien, starke Bienen-, Rindvieh- und Pferdezucht belebt sie, wie auch die Gouvernements von Pultawa und Jekaterinoslaw. Nordöstlicher wird dieß reizende Südland durch Steppen unterbrochen voll salzreicher Seen, die einen großen Theil des Königreichs Astrachan einnehmen, bis sie endlich in ein völliges Steppenland auslaufen, das nur von raubgierigen Horden der Kirgisen (s. d.) und andern rohen Nomaden durchschwärmt, in seiner öden, nackten Einförmigkeit einen eben so traurigen und trostlosen Anblick darbietet wie Sibiriens Wüsteneien, und in dessen verdorrten, baumlosen Flächen der verschmachtete Wanderer oft Tage lang vergebens sich nach ein wenig Schatten, nach einem labenden Trunk umsieht. Einen ebenfalls rauhen, aber doch erhabenen Charakter tragen die nördlichen Provinzen des westlichen R., wo Norwegen, Schweden und die Ostsee mit den beiden großen Meerbusen, dem finnischen und bottnischen, angrenzen, besonders die Gouvernements von Archangel, Petersburg, Wologda und Finnland (s. d.). Hier hat Neptun seinen Dreizack geschwungen, und sich in barokker Laune eine Landresidenz erbaut. Wasser ist das Hauptelement[9] dieser Gegenden, und unzählige Granitgebirge ziehen sich zwischen den vielen Morästen, Seen und dichtumwaldeten Flüssen hin, während die noch westlicheren, von der Weichsel, der Düna, dem Niemen durchströmten und an die Ostsee, Preußen und Oestreich anstoßenden Provinzen, wie Liefland, Kurland, Polen etc., schon größtentheils den Charakter der mitteleuropäischen Länder tragen. Eine so bizarre Mannichfaltigkeit aber hat nur das gigantische Czarenreich, so seltsam contrastirend ist nur die Verschiedenheit seiner Klimate! Man denke: im Süden Mandelbäume, Feigen, Oliven, Granaten, und im dunkeln Laube glühend die Goldorangen, im Norden eine Kälte, daß das Quecksilber gefriert; ganz Petersburg noch im Schnee vergraben, wenn bereits am Kaukasus und in Taurien der Lenz mit seiner ganzen Herrlichkeit eingezogen ist; den Scheitel umflochten mit elendem Heidekraut und dem dürren isländischen Moose, die Füße aber umschattet von dunkelgrünen Myrthenzweigen, – welch' ein Koloß dieses Reich! Das Schiff der Wüste, das Kameel, kann hier wie in Arabien seine glühenden Sandmeere durchwandern, und zugleich findet der Polarbär hier seine ewigen Eisgrotten. Unendlich ist daher auch der Reichthum der Produkte dieses Landes, die nie versiegende Quelle eines natürlichen, noch nicht erkünstelten Wohlstandes. Obwohl selbst in seinen fruchtbareren Provinzen noch nicht zum dritten Theile angebaut, hat es doch schon zuweilen für 130 Mill. Rubel Getreide ausgeführt. Aus russ. Flachs und Hanf werden die Taue und Segel der europ. Flotten verfertigt, und die stolzen Masten der engl. Dreidecker kommen aus R's undurchdringlichen Urwäldern. Millionen von Füchsen und Zobeln liefern das kostbarste Pelzwerk, und auf den üppigen Triften der Krimm, der Ukraine etc. weiden unablässig und dichtgedrängt die Rinderheerden, von welchen seit mehr als 30 Jahrzehenden ganz Europa mit russ. Talg und Leder versorgt wird. Prächtiger Granit in solcher Menge, daß er für das gewöhnlichste Baumaterial erachtet wird, Topase, Achate, Carneole, Amethyste, [10] vornehmlich das meiste Gold, Platina und jetzt am Ural selbst Diamanten, ein unerschöpflicher Reichthum an Eisen, Kupfer, Salz, Mineral-, Vitriol- und Naphtaquellen, – das ist die Fülle der Gaben, die Pluto mit seltener Freigebigkeit dem Kaiserreiche spendete. Die Kunst und Industrie bestrebten sich zugleich in neuerer Zeit immer mehr, diese Schätze nach Würden auszubeuten. Bedeutende, wenn auch jetzt noch nicht zureichende, Fabriken in Metall, Leder, Talg, Wachs, Glas, Linnen, Baumwolle, Wolle etc. liefern wichtige Ausfuhrprodukte. Dazu befördert R's Lage an der Ostsee und dem schwarzen und kaspischen Meere und die zahlreichen Canäle und anderen Wasserwege im Innern den Handel ungemein, welcher zur See vornehmlich von Petersburg, Archangel, Riga und Odessa, nach Persien hin von Astrachan und Kisljar, und auf den Binnenwegen von Moskau und der Hauptmeßstadt Nischnei-Nowgorod (s. d.) betrieben wird. – Was will aber diese noch so große Mannichfaltigkeit der physischen Welt in R. wohl sagen gegen die wundersame Verschiedenheit, gegen die seltsam gehäuften Contraste, welche die Vereinigung von 100 verschiedenen Völkerschaften zu einem einzigen Staate darbietet! Unter demselben Scepter leben Russen, Kaukasier, Kamtschadalen, Mongolen, Finnen, Lappen, Polen, Armenier, Perser, Deutsche etc., alle durch Sitte und Lebensweise unendlich von einander geschieden. Während in Petersburg und den großen Städten des europ. R. überh. die Kultur, die intellectuelle und industrielle Ausbildung anderer europ. Länder herrscht, leben in andern Gegenden des Riesenreiches Wilde, bloß von der Jagd und dem Fischfange, ziehen Nomaden in Wüsten umher oder verkriechen sich in unterirdische Höhlen und wickeln sich in elende Thierhäute. Hier kleidet sich die vornehme Welt in Seide und Perlen, und genießt die feinsten Leckerbissen der französ. Küche, und dort kaut der Kamtschadale heißhungrig an einer schon ganz in Verwesung übergegangenen Robbe. Griechische und römisch-katholische Christen, Juden und Muhammedaner, Anbeter des Dalai-Lama, wie[11] des Brahma und Götzendiener aller Art genießen den gleichen Schutz der Gesetze. Und alle diese Contraste kann man auf einer einzigen Reise durch R., gleichsam von der Straße aus, beobachten, nur muß man es sich gefallen lassen, wenn weiter hinein an die Stelle des bequemen Reisewagens ein etwas harter Bauerwagen und zum Vorspann anstatt der Pferde später nach und nach Kameele, Ochsen, Maulesel und endlich Rennthiere und Hunde genommen werden, bis man auch damit nicht mehr fortkommt, sondern Schneeschuhe anschnallen muß, um über die unermeßlichen Schneefelder gleiten zu können. Ja, diese Verschiedenheit des Reisens bekundet gleich von vorn herein am besten die verschiedene Lebensweise der Völkerfamilien R's, die in ihrer gesammten Kopfzahl ungefähr 62 Millionen betragen, und ungerechnet der Armenier, der einzelnen Völker in Ostsibirien, der Deutschen, Juden etc., sich auf fünf Hauptstämme zurückführen lassen: den slavischen, finnischen, kaukasischen, tatarischen und mongolischen. (Vergl. die einzelnen Nationen und Völkerschaften.) Der Russe, der eigentliche Herr des Landes, ist von mittler Größe, stark, aber proportionirt gebaut, außerordentlich herzhaft, gastfrei, gutmüthig und duldsam. Mit großer Geschicklichkeit ahmt er die Erfindungen des Auslandes fast beim ersten Anblicke nach, obwohl eine gewisse Neigung zur Trägheit, zur Trunkenheit und andern gröberen sinnlichen Genüssen, namentlich auch sein Aberglaube, oft seine weiteren Fortschritte aufhält. Sonst ist er sorglos, gutmüthig, schlauer Kaufmann, rasch und ein leidenschaftlicher Freund von Musik, Gesang, Tanz und Jagd, zum Verwundern ausdauernd, gastfrei und ein eifriger Verehrer seines Schutzpatrons. Er entwickelt sich in der Regel körperlich sehr früh, wird aber auch früher alt. Der Knabe ist gewöhnlich mit 14, das Mädchen mit 13 Jahren mannbar, und es ist allgemeine Sitte auf dem Lande, sich in diesem Alter zu verheirathen. Der Vornehme redet die vorzüglichsten Sprachen Europa's, besitzt große Bekanntschaft mit den Wissenschaften und schönen [12] Künsten, zeigt die feinsten Sitten, Urbanität und Würde in seinem ganzen Benehmen, und führt eine Lebensart, die den Forderungen des verfeinertsten Geschmackes entspricht. Er trägt sich, wie im Auslande, nach Belieben, und man sieht deutsche, englische, französische Moden. Beim gemeinen Manne geht der Rock (Kaftan) von Tuch bis über die Knie, kreuzt sich schief über die Brust und wird da durch Metallknöpfe zusammengehalten. Um die Mitte des Leibes trägt er einen leinenen Gürtel, und der Hals ist bloß. Das gewöhnliche Kostüm der Kaufleute ist ein langer Tuchkaftan, der bis auf die Fersen herabgeht; er schließt dicht an und wird über der Brust zugeknöpft, hat unter der Taille eine Menge Falten und nur vorn herunter Knöpfe. Um den Leib tragen sie eine seidene Schärpe, und die langen Bärte stehen ihnen recht gut. Jetzt gibt es in R. etwa noch 20 Millionen Leibeigene, die entweder Kronbauern (der Krone zugehörig) oder Leibeigene von Privaten sind, deren Lage jedoch die Regierung immer mehr und mehr zu erleichtern sucht. – Gewisse Nationalvergnügungen sind das Ballspiel, das Schaukeln und besonders die Rutschberge. Ihre lustigste Zeit ist die sogenannte Butterwoche, der russ. Carneval, indem am Schlusse dieser Woche die 56 Tage langen Osterfasten anfangen. Sie heißt Butterwoche – im Russ. Masliza – weil in derselben kein Fleisch, wohl aber Butter, Milch und Eier zu essen erlaubt ist. Ein in eine Bärenhaut genähter Russe fährt dann auf einem Schlitten durch die Stadt und gibt Veranlassung zu allerhand Neckereien. Ein anderes uraltes russ. Volksfest ist der Samik, am Sonntag nach Himmelfahrt, gleichsam ein Frühlings- und Freudenfest. An demselben werfen Witwen und junge Mädchen einen Kranz in den nächsten Fluß oder Bach, und geben Achtung, ob derselbe fortschwimmt oder untersinkt. Jenes bedeutet, daß der Freier nahe ist, dieses, daß er leider so bald noch nicht kommen wird. Um Weihnachten feiert man die Maskenfeste, Akrutschniks genannt, und die Osterwoche, welche die lange und strenge Fastenzeit endigt, wird[13] von allen Klassen des Volkes auf das Festlichste begangen. – Das Baden ist bekanntlich gleichfalls eine besondere Nationalsitte der Russen.

P.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 9. [o.O.] 1837, S. 7-14.
Lizenz:
Faksimiles:
7 | 8 | 9 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14
Kategorien:

Buchempfehlung

Auerbach, Berthold

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 5-8

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 5-8

Die zentralen Themen des zwischen 1842 und 1861 entstandenen Erzählzyklus sind auf anschauliche Konstellationen zugespitze Konflikte in der idyllischen Harmonie des einfachen Landlebens. Auerbachs Dorfgeschichten sind schon bei Erscheinen ein großer Erfolg und finden zahlreiche Nachahmungen.

554 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon