Urteile (1)

[607] Urteile, analytische, heißen seit KANT solche Urteile, deren Prädicat nur die Verdeutlichung des im Subjectbegriffe schon (notwendig) Gedachten ist. Dagegen sind synthetische Urteile solche, in welchen das Prädicat über das im Subject notwendig zu Denkende, den Subjectsbegriff wesentlich Constituierende hinausgeht. Der Unterschied beider Urteile ist aber ein bloß relativer. Vgl. LOCKE, Ess. IV, ch. 3, § 7.

KANT erklärt: »In allen Urteilen, worinnen das Verhältnis eines Subjects zum Prädicat gedacht wird..., ist dieses Verhältnis auf zweierlei Art möglich. Entweder das Prädicat B gehöret zum Subject A als etwas, was in diesem Begriffe A (versteckterweise) enthalten ist. oder B liegt ganz außer dem Begriff A, ob es zwar mit demselben in Verknüpfung steht. Im ersten Fall nenne ich das Urteil analytisch, im andern synthetisch. Analytische Urteile (die bejahenden) sind also diejenigen, in welchen die Verknüpfung des Prädicats mit dem Subject durch Identität, diejenigen aber, in denen diese Verknüpfung ohne Identität gedacht wird, sollen synthetische Urteile heißen. Die ersteren könnte man auch Erläuterungs-, die andern Erweiterungsurteile heißen, weil jene durch das Prädicat nichts zum Begriff des Subjects hinzutun, sondern diesen nur durch Zergliederung in seine Teilbegriffe zerfällen, die im selbigen schon (obschon verworren) gedacht waren: dahingegen die letzteren zu dem Begriffe des Subjects ein Prädicat hinzutun, welches in jenen gar nicht gedacht war und durch keine Zergliederung desselben hätte können herausgezogen werden. z.B. wenn ich sage: Alle Körper sind ausdehnt, so ist dies ein analytisches Urteil. Denn ich darf nicht aus dem Begriffe, den ich mit dem Wort Körper verbinde, hinausgehen, um die Ausdehnung als mit denselben verknüpft zu finden, sondern jenen Begriff nur zergliedern, d. i. des Mannigfaltigen, welches ich jederzeit in ihm denke, mir nur bewußt werden, um dieses Prädicat darin anzutreffen. es ist also ein analytisches Urteil. Dagegen, wenn ich sage: Alle Körper sind schwer, so ist das Prädicat etwas ganz anderes als das, was ich in dem bloßen Begriff eines Körpers überhaupt denke. Die Hinzufügung eines solchen Prädicats gibt also ein synthetisches Urteil« (Krit. d.[607] rein. Vern. S. 39 f.). Princip des analytischen Urteils ist der Satz des Widerspruchs (l. c. S. 151). Princip des synthetischen Urteils ist: »Ein jeder Gegenstand steht unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung« (l. c. S. 155). Synthetische Urteile sind »Urteile, durch deren Prädicat ich dem Subject des Urteils mehr beilege, als ich in dem Begriffe denke, von dem ich das Prädicat aussage, welches letztere also das Erkenntnis über das, was jener Begriff enthielt, vermehrt. dergleichen durch analytische Urteile nicht geschieht, die nichts tun als das, was schon in dem gegebenen Begriffe wirklich gedacht und enthalten war, nur als zu ihm gehörig klar vorzustellen und auszusagen« (Üb. eine Entdeck. 2. Abschn., S. 52). – Es gibt synthetische Urteile a posteriori und a priori. Erstere stützen sich auf Erfahrung, letztere haben ihren Rechtsgrund, über den Subjectsbegriff allgemeingültig vor aller Erfahrung hinaus zu einem neuen Begriff überzugehen, in den apriorischen (s. d.) Formen des Geistes, sind möglich durch die präempirische, Erfahrung erst constituierende Einheitsfunction des Bewußtseins. »Auf solche Weise sind synthetische Urteile a priori möglich, wenn wir die formalen Bedingungen der Anschauung a priori, die Synthesis der Einbildungskraft und die notwendige Einheit derselben in einer transcendentalen Apperception auf ein mögliches Erfahrungserkenntnis Überhaupt beziehen und sagen: die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung und haben darum objective Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori« (Krit. d. rein. Vern. S. 155 f.. Prolegom. § 2). Ein Prädicat, welches durch ein Urteil a priori einem Subjecte beigelegt wird, wird »als dem letzteren notwendig angehörig (von den Begriffen desselben unabtrennlich) ausgesagt« (Üb. eine Entdeck. 2. Abschn., S. 52). Die synthetischen Urteile a priori sind nur »unter der Bedingung einer dem Begriffe ihres Subjects unterlegten Anschauung« möglich, sie können »über die Grenze der sinnlichen Anschauung hinaus nicht getrieben werden« (l. c. S. 66 f.). Synthetische Urteile a priori sind es, welche in der reinen Mathematik (s. d.), Naturwissenschaft und in der Metaphysik notwendig-allgemeine Fundamentalerkenntnisse constituieren, die für alle mögliche Erfahrung (s. d.), freilich auch nur für solche, gelten (s. Kriticismus). – Mathematische Urteile sind »insgesamt synthetisch«. »Zuvörderst muß bemerkt werden, daß eigentliche mathematische Sätze jederzeit Urteile a priori und nicht empirisch sind, weil sie Notwendigkeit bei sich führen, welche aus Erfahrung nicht abgenommen werden kann.« »Man sollte anfänglich wohl denken, daß der Satz 7 + 5= 12 ein bloß analytischer Satz sei, der aus dem Begriffe einer Summe von sieben und fünf nach dem Satze des Widerspruchs erfolge. Allein wenn man es näher betrachtet, so findet man, daß der Begriff der Summe von sieben und fünf nichts weiter enthält als die Vereinigung beider Zahlen in eine einzige, wodurch ganz und gar nicht gedacht wird, welches diese einzige Zahl sei, die beides zusammengefaßt. Der Begriff von zwölf ist keineswegs dadurch schon gedacht, daß ich mir bloß jene Vereinigung von sieben und fünf denke, und ich mag meinen Begriff von einer solchen möglichen Summe noch so lange zergliedern, so werde ich doch darin die zwölf nicht antreffen. Man muß über diese Begriffe hinausgehen, indem man die Anschauung zu Hülfe nimmt, die einem von beiden correspondiert, oder... fünf Punkte und so nach und nach die Einheiten der in der Anschauung gegebenen fünf zu dem Begriffe der sieben hinzutut. Man erweitert also wirklich seinen Begriff durch diesen [608] Satz, 7 + 6= 12 und tut zu dem ersteren Begriff einen neuen hinzu, der in jenem gar nicht gedacht war.« »Ebensowenig ist irgend ein Grundsatz der reinen Geometrie analytisch. Daß die gerade Linie zwischen zweien Punkten die kürzeste sei, ist ein synthetischer Satz. Denn mein Begriff vom Geraden enthält nichts von Größe, sondern nur eine Qualität. Der Begriff des Kürzesten kommt also gänzlich hinzu und kann durch keine Zergliederung aus dem Begriffe der geraden Linie gezogen werden. Anschauung muß also hier zu Hülfe genommen werden, vermittelst deren allein die Synthesis möglich ist« (Prolegom. § 2).

Nach J. G. FICHTE gibt es »dem Gehalte nach gar keine bloß analytischen Urteile« (Gr. d. g. Wissensch. S. 33). BIUNDE erklärt: »Unsere Urteile entstehen gemeiniglich durch Beziehungen von solchen Begriffen auf die vorgestellten Dinge, welche wir aus den Anschauungen anderer Dinge allmählich abgezogen haben. wir geben ihnen dann Bestimmungen, die in ihrem Begriffe nicht liegen, und erweitern so unser Denken über den Gegenstand und seinen Begriff hinaus. die so entstehenden Dinge sind synthetisch« (Empir. Psychol. I 2, 99). G. E. SCHULZE betont: »Für den einen Menschen ist... ein analytisches Urteil, was für den andern ein synthetisches ausmacht« (Üb. d. menschl. Erk. S. 196). Auch nach SCHLEIERMACHER ist der Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Urteilen ein fließender (Dialekt. S. 264, 563). Nach CHR. KRAUSE sind die analytischen identische Urteile (Vorles. S. 291 f.). Nach TRENDELENBURG ist jedes Urteil analytisch und synthetisch zugleich (Log. Unters. II2, 241 ff.), so auch JODL (Lehrb. d. Psychol. S. 616). SCHOPENHAUER bemerkt: »Ein analytisches Urteil ist blos ein auseinandergezogener Begriff ein synthetisches hingegen ist die Bildung eines neuen Begrifs aus zweien, im Intellect schon anderweitig vorhandenen.« »Jedes analytische Urteil enthält eine Tautologie, und jedes Urteil ohne alle Tautologie ist synthetisch« (Parerg. II, § 23). VOLKMANN bestimmt das analytische Urteil als »das Bewußtwerden einer Apperception« (Lehrb. d. Psychol. II4, 268.) Nach O. CASPARI gibt es echte synthetische Urteile a priori »nur in der ästhetisch-logischen Grundanschauung, innerhalb welcher sich die Ideen mit dem Empirischen und Concreten, mit Rücksicht auf die Freiheit des Individuellen tief genug durchdringen« (Grund- u. Lebensfrag. S. 90). Wie Kant lehrt u. a. F. SCHULTZE (Philos. d. Naturwiss. II, 15 ff.). A priori ist, was »als wahr einleuchtet, auch ohne daß es des Beweises durch Induction bedürfte« (ib.). Die Erkenntnis besteht in synthetischen Urteilen a priori (ib.). Im Sinne Kants unterscheidet die Urteile auch KROMANN (Unsere Naturerk. S. 39 ff.). Nach HAGEMANN ist ein synthetisches Urteil a priori nicht möglich (Log. u. Noët. S. 145). Nach L BUSSE gibt es nur analytische Urteile und synthetische Urteile a posteriori (Philos. I, S. 149). Wertlos ist die Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile nach STEUDEL (Philos. I 1, 219). Nach HEYMANS sind alle aus Definitionen aufgebauten Urteile analytisch, alle andern synthetisch (Ges. u. Elem. d. wissensch. Denk. S. 109). Ähnlich H. CORNELIUS (Psychol. S. 341 f.. Einl. in d. Philos. S. 283 ff.). Nach WUNDT entsteht das Urteil stets synthetisch, ist aber selbst ein analytischer Proceß. Analytisch sind »nur diejenigen Urteile, in denen ein Element oder einige Elemente, die im Subject notwendig schon mitgedacht werden müssen, zu irgend einem Zweck im Prädicat besonders hervorgehoben werden. alle übrigen Urteile sind synthetisch« (Log. I, 151). E. v. HARTMANN »Jedes Urteil ist... ein analytisches, wenn ich es auf einen Subjectbegriff oder eine Subjectwahrnehmung[609] beziehe, die so vollständig ist, daß sie den Prädicatsbegriff bereits einschließt, dagegen synthetisch, wenn ich es auf eine noch unvollständige Subjectvorstellung beziehe, die durch den Erkenntnisact vervollständigt wird, aus dem das Urteil vorspringt« (Kategorienlehre, S. 239). »Im discursiven, bewußten Denken gibt a keine synthetischen Urteile« (l. c. S. 240). Nach SCHUBERT-SOLDERN ist alles Gegeben »ursprünglich analytisch, unterschieden, es ist synthetisch in räumlichem oder zeitlichem oder räumlich-zeitlichem Zusammen und in Ähnlichkeits- und Verschiedenheitsbeziehungen zu anderem gegeben« (Gr. ein. Erk. S. 206 f.). Gegen die Kantsche Auffassung der synthetischen Urteile ist ERDMANN (Log. I, 209 ff.. vgl. SIGWART, Log. I2, 128 ff., 237, 407, 411 ff.). Nach HUSSERL sind analytische Sätze »solche Sätze, welche eine von der inhaltlichen Eigenart ihrer Gegenstände (und somit auch der gegenständlichen Verknüpfungsformen) völlig unabhängige Geltung haben« (Log. Unters. II, 247). Die synthetischen Urteile a priori anerkennt RAVALSSON (Franz. Philos. S. 249). RENOUVIER unterscheidet: 1) »synthèses a priori données comme conditions à l'intelligence et à l'expérience, indémontrables par conséquent« (Nouv. monadol. p. 128). 2) »jugements synthétiques a posteriori, c'est-à-dire certaines relations constantes qui ne nous sont connues que par l'expérience« (ib.). Analytisch ist »tout jugement qui est tel qu'il ne dépasse pas la limite de la notion primordiale, dont il ne fait qu'éclaircir ou développer le contenu propre« (ib.). Vgl. M. PALÁGYI, Kant u. Bolzano, S. 92 f.. SPICKER, K., H. u. B. S. 19.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 607-610.
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