Vererbung

[624] Vererbung besteht darin, daß körperliche und geistige Eigenschaften der Vorfahren als Anlagen (s. d.), Dispositionen (s. d.) der Keimzellen schon in der Formation dieser zum Organismus sich geltend machen und auch später, am ausgebildeten Organismus, wirksam werden oder (unter bestimmten Bedingungen) wirksam werden können, so daß der Sproß dem Vorfahr (s. Atavismus) in einer Reihe von Eigenschaften oder Actionstendenzen gleicht. Ob auch Individuell erworbene Eigenschaften erblich sind, ist noch strittig. Jedenfalls nur solche, die auf längerer »Einübung« beruhen oder von eingreifendem Einflusse auf den Organismus (und damit auf die Keimzellen) sind (s. Übung). Die Tatsache der Vererbung ist von hoher Bedeutung für die Lehre von der Evolution (s. d.). Es gibt auch eine psychische (geistige) Vererbung, aber nicht von fertigen Gebilden, sondern von (allgemeinen oder bestimmten) Anlagen Dispositionen (s. Talent). Auch diese Vererbung hat ihre physikalischchemische und physiologische Seite, sowie anderseits der biologischen Vererbung etwas Psychisches (Strebungen und Strebungsdispositionen) entsprechen muß (s. Instinct).

Nach J. B. VAN HELMONT ist im Samen eine »vis formativa«, die Frucht dem Erzeuger ähnlich zu machen (De morbis, C. 5). Über den Einfluß von Vater oder Mutter auf die Vererbung bemerkt GASSENDI: »Si foemina quidem vi subita commulxit corripuitque semen masculeum, tum foetus matri similis sit. si mas foemineum, similis patri. si ex aequo uterque, similis utrique, sed mixtim« (Philos. Ep. synt. II, sct. III, p. 7). Vgl. LINNÉ, Syst. natur. I, p. 8.[624]

Eine psychische Vererbung lehrt u. a. HEINROTH (Psychol. S. 259). Nach SUABEDISSEN ist das »Anerben« »nicht eigentlich ein Übergehen von den Eltern zu den Kindern, sondern es ist das Ausgezeugtwerden derselben Lebenseigentümlichkeit in einer Mannigfaltigkeit von besonderen Richtungen und Bestimmtheiten«. Was sich eigentlich forterbt, ist die Constitution, das Temperament, die Anlage, der Naturcharakter, damit auch die Gestalt, in der sich das Innere darstellt (Grdz. d. Lehre von d. Mensch. S. 384 f.). BURDACH erklärt: »Im ganzen genommen, hat das Männliche mehr Einfluß auf Bestimmung des irritabeln Lebens, das Weibliche hingegen mehr auf die Sensibilität« (Physiol. I, § 306). Nach SCHOPENHAUER ist es wahrscheinlich, »daß, bei der Zeugung, der Vater, als sexus potior und zeugendes Princip, die Basis, das Radicale des neuen Lebens, also den Willen verleihe, die Mutter aber, als sexus sequior und bloß empfangendes Princip, das Secundäre, den Intellect. daß also der Mensch sein Moralisches, seine Neigungen, sein Herz von Vater erbe, hingegen den Grad, die Beschaffenheit und Richtung seiner Intelligenz von der Mutter« (W. a. W. u. V. II. Bd., C. 43). »Es ist derselbe Charakter, also derselbe individuell bestimmte Wille, welcher in allen Descendenten eines Stammes, vom Ahnherrn bis zum gegenwärtigen Stammhalter, sich findet. Allein in jedem derselben ist ihm ein anderer Intellect, also ein anderer Grad und eine andere Weise der Erkenntnis beigegeben« (ib.).

Die Vererbung erworbener Eigenschaften als Entwicklungsfactor lehrt CH. DARWIN (S. Evolution). Von verschiedener Seite wird die directe Vererbung individuell erworbener Eigenschaften bestritten, besonders von A. WEISMANN, der die »Continuität des Keimplasmas« lehrt und mir eine Vererbung der auf selectorischem Wege (s. d.) entstandenen Abänderungen des Keimplasmas annimmt, neuerdings aber der directen Vererbungstheorie Concessionen macht. Die Vererbung erworbener geistiger Eigenschaften lehren u. a. LOTZE (Grdz. d. Naturphilos. S. 95 ff.), G. H. SCHNEIDER (Menschl. Wille, S. 50 ff.). Er betont, daß nur Dispositionen, Organisationen, causale Beziehungen zweier psychischen Bewußtseinserscheinungen zueinander, nicht aber Vorstellungen (gegen BAIN, Emot. and Will3, p. 63, 67) vererbt werden (l. c. S. 53 ff.). Ferner RIBOT, nach welchem die Erblichkeit eine Art Gattungsgedächtnis ist (Erblichk. S. 54 ff., 234 ff.). »L'hérédité est l'habitude d'une famille, d'une race ou d'une espèce« (vgl. schon HERING, Üb. d. Gedächtn. 1870). So auch PAULHAN (Physiol. de l'espr. p. 167 ff.) u. a. (vgl. RENAN, Philos. Dial. S. 69 f.. JANET, Princ. de mét. p. 264 ff.). Psychische Vererbung von Dispositionen lehren auch F. GALTON (Hereditary genius, 1869), H. SPENCER (s. A priori), SULLY (Handb. d. Psychol. S. 55 f.), BALDWIN u. a. (s. Instinct). So auch ELSENHANS (Wesen u. Entwickl. d. Gewissens, S. 264 ff., 290 ff.), DU PREL, welcher betont: Nur die genügend befestigten, bis zur unbewußten Anlage und Fertigkeit werdenden Fähigkeiten werden vererbt (Monist. Seelenlehre S. 99). Es besteht ein »transcendentales Erinnerungsvermögen« (I. c. S. 100). WUNDT bemerkt: »Wenn... auch zuzugeben ist, daß eine von einem Individuum erworbene Eigenschaft im allgemeinen noch keine Vererbungswirkung ausübt, so ist doch nicht einzusehen, warum Gewohnheiten des Handelns, die zwar indirect durch äußere Naturbedingungen angeregt werden, zunächst aber auf den innern psychologischen Eigenschaften der Organismen selbst beruhen, nicht, fall. sie Generationen hindurch geübt werden, grade so gut Veränderungen der Keimanlage bewirken sollen, wie die directen Einflüsse der Naturzüchtung« (Gr. d. Psychol.5, S. 342). [625] Physisch ist zur Erklärung der Vererbung eine »Continuität der chemischen Vorgänge, die bei allem Wechsel der Elemente die Grundform bestehen läßt«, anzunehmen. Physiologisch erscheinen die Vererbungsvorgänge als Reizungserscheinungen, psychophysisch als einfache Triebacte (Log. II2 1, 453 ff.. Syst. d. Philos.2, S. 542 ff.). – FR. SCHULTZE erklärt: »Jede Ursache hat die ihr entsprechende Wirkung, welche letztere so weit reicht, als nicht andere Ursachen einschränkend auf die Wirkung miteinfließen. Ins Biologische übersetzt, heißt dies: Jedes Erzeugte gleicht seinem Erzeuger in seinen Eigenschaften so weit, als nicht andere miteinfließende Ursachen eine Abänderung der Eigenschaften hervorrufen. Das Gesetz der Vererbung ist also nur ein besonderer Ausdruck des allgemeinen Causalitätsgesetzes« (Philos. d. Naturwiss. II, 344). – G. LANDAUER bemerkt: »Bei der Vererbung handelt es sich um eine sehr reale und stets gegenwärtige Macht, die ausgeübt wird, um das Weiterleben der Vorfahren in neuen Formen und Gestalten. Das Individuum ist das Aufblitzen des Seelenstromes, den man je nachdem Menschengeschlecht, Art, Weltall nennt« (Skepsis u. Metaphys. 1903, S. 29, 34 f.). – Vgl. O. LIEBMANN, Zur Anal. d. Wirkl.2, S. 429 ff.. L. BÜCHNER, Üb. Vererb.. GUYAU, Héréd. et Éducat.

A. GOETTE, Über Vererb. u. Anpass. 1898. HELLPACH, Grenzwiss. d. Psychol. S. 436. – Vgl. Evolution, Instinct.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 624-626.
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