Die ältesten Kulturschichten im Gebiet des Aegaeischen Meers. Das Festland, Kreta und die Kykladen

[770] 508. An keiner Stätte der Welt des Aegaeischen Meers reichen die bis jetzt entdeckten Überreste menschlicher Ansiedlungen in so frühe Zeit hinauf, wie in dem Hügel bei Knossos auf Kreta, auf dem im zweiten Jahrtausend der große Palast stand, dessen Ruinen die Griechen als das Labyrinth bezeichnen. Der Fußboden seines Westhofs liegt etwa 21/2 Meter unter der jetzigen Oberfläche des Hügels. Er gehört sowohl in seiner späteren Gestalt, die er durch einen Umbau des sechzehnten Jahrhunderts erhalten hat, wie in der ursprünglichen, etwa um 1700 entstandenen Gestalt der Blüteperiode der kretischen Kultur an, die EVANS als Middle Minoan III und Late Minoan I und II bezeichnet hat (§ 504 A.). Unter ihm liegen die Trümmer eines älteren Palastes; die Kultur, der er angehört, ist charakterisiert durch die Tongefäße, die den Namen Kamaresvasen erhalten haben (§ 518). Diese Schicht ist durch Funde solcher Gefäße in Aegypten (§ 291), die sich ständig mehren, als gleichzeitig mit der zwölften Dynastie erwiesen worden; die Blüte dieser Kamareskultur (von EVANS als Middle Minoan II bezeichnet) beginnt also um 2000 v. Chr. Der Palast der Kamareszeit ist über den Trümmern der weit dürftigeren Ansiedlungen erbaut, welche den vorausgehenden, die Anfänge einer höheren Zivilisation darstellenden Epochen angehören, denen EVANS die Namen Early Minoan I-III und Middle Minoan I gegeben hat. Diese Schichten, die zusammen etwa 11/2 Meter umfassen, führen uns mithin einige Jahrhunderte weiter hinauf. Unter dem ältesten ihnen angehörenden Fußboden liegt bis zum gewachsenen Boden eine Schuttschicht von nahezu 61/2 Metern, die einer rein steinzeitlichen (neolithischen) Kultur angehört, welche das Metall noch nicht kennt. Reste von Gebäuden sind bis jetzt noch nicht entdeckt worden; wohl aber zeigen die zahllosen Gefäßscherben, welche die ganze Schicht anfüllen, daß die Stätte ständig bewohnt [771] gewesen ist; sie lassen zugleich einen allmählichen Fortschritt der Technik und die Anfänge einer Dekoration erkennen. Eine einigermaßen zuverlässige Abschätzung des Zeitraums, den diese Entwicklung umfaßt hat, ist völlig unmöglich, zumal der Boden für die darauf stehenden Bauten künstlich aufgeschüttet und geebnet ist. Immerhin aber wird man nicht zweifeln können, daß diese Schicht, die nicht unwesentlich mächtiger ist als die, welche die zweite Stadt in Troja von der ältesten Ansiedlung (§ 491) oder den ältesten Tempel in Nippur (§ 366 A.) von dem Urboden trennt, uns in ihren Anfängen jedenfalls weit ins vierte, wenn nicht ins fünfte Jahrtausend hineinführt, die älteste Besiedlung der Stätte mithin zeitlich den ältesten Funden in Aegypten (§ 169f.) nahe kommt, wenn sie auch schwerlich ganz so weit hinaufreicht wie diese. – Die in Knossos aufgedeckten Schichtungen sind, sei es zum Teil, sei es vollständig, auch an zahlreichen anderen Stätten der Insel vertreten, am reichhaltigsten in Phaestos. Neben Kreta steht die Inselwelt der Kykladen; und auch hier haben, nach gelegentlichen Funden in früherer Zeit, systematische Aufdeckungen von Gräbern und vor allem die Ausgrabung der Stadt Phylakopi auf Melos oder vielmehr der drei Städte, die hier übereinander liegen, einen lebendigen Einblick in die älteste Kulturentwicklung gewährt. Dagegen sind auf dem Festlande Überreste der ältesten, vor der mykenischen Zeit liegenden Epochen erst in den letzten Jahren in größerem Umfang aufgedeckt worden. In der vorigen Auflage konnten hier, außer sporadischen Funden, fast nur die ältesten Ansiedlungen in Orchomenos verwertet werden; seitdem ist in Thessalien und auch für große Teile Mittelgriechenlands die neolithische Periode erschlossen worden.


Querschnitt der Fundschichten in Knossos: EVANS im An nual of the British School at Athens X p. 19. – Die neolithischen Funde: EVANS l.c. und VI p. 6. Die Tonscherben: MACKENZIE, J. Hell. Stud. XXIII 158ff. und Taf. IV. Auch in Phaestos hat sich unter dem Palast eine neolithische Schicht gefunden: Mon. dei Lincei XII 22. Rendiconti dei Lincei XVI 1907, 267ff. So wenig eine absolute Chronologie für die Anfänge der neolithischen Schicht möglich ist, so ist doch EVANS' [772] Ansatz auf 10-12000 v. Chr., den er selbst als ein moderate estimate bezeichnet, ohne Zweifel maßlos übertrieben [vgl. VOLLGRAF, Rhein. Mus 63, 320], ganz abgesehen davon, daß er das Alte und Mittlere Reich in Aegypten beträchtlich zu hoch setzt. – Für die Kykladenkultur (zahlreiche Einzelarbeiten s. § 512 A.; für die Gräber TSUNTAS, Εφ. αρχ. 1898. 1899; aus früherer Zeit vor allem DÜMMLER, MAI. XI; TZUNTAS and MANATT, Mycen. age 256ff.) sind grundlegend die reichen Ergebnisse der Ausgrabungen auf Melos (1896-1899), veröffentlicht zuerst im Annual, dann: Excavations at Phylakopi in Melos, 1904 (Soc. for the promotion of Hellenic Studies, paper no. 4); dazu der Bericht über eine neue Grabung 1910 zur Nachprüfung der älteren Ergebnisse im Annual XVII. Weiteres s. § 512 A. – Die früheren dürftigen Überreste der Steinzeit in Griechenland sind von BLINKENBERG, Archaeol. Studien (1904) 1ff. zusammengestellt. Seitdem haben vor allem die Forschungen von TSUNTAS in Thessalien ein ganz neues Gebiet erschlossen: αἱ προϊστορικαὶ ἀκροπόλεις Διμηνίου καὶ Σέσκλου, ὑπὸ Χρ. Τσούντα 1908; seine chronologischen und ethnographischen Kombinationen freilich sind vielfach sehr problematisch (vgl. JOLLES im Archaeol. Jahrb. XXIV, Anzeiger 406ff.). Jetzt ist das gesamte Material, auch die Ausgrabungen von SOTIRIADIS in Phokis und Boeotien (MAI. XXX und XXXI. Ἐφ. ἀρχ. 1908) sorgfältig durchgearbeitet von WACE u. THOMPSON, Prehistoric Thessa ly, 1912. Jetzt kommt noch eine neue große Ansiedlung Haghia Marina bei Drachmani hinzu: SOTIRIADIS, Fouilles préhist. en Phocide, rev. des ét. grecques 25, 1912, 253ff. – In Orchomenos in Boeotien sind die beiden ältesten Ansiedlungen von FURTWÄNGLER aufgedeckt und von BULLE, Orchomenos I, Abh. bayr. Akad. 1907, vortrefflich publiziert. Reste der vormykenischen Zeit sind in Tiryns (SCHLIEMANN, Tiryns 62ff., 285ff. und bei den neuen Ausgrabungen, s. inzwischen KARO im Jahrb. d. arch. Inst. XXIII, Anz. S. 126) und Mykene unter den Palästen gefunden, sowie auf der Aspis in Argos (VOLLGRAF, BCH. XXX), in Olympia (DÖRPFELD, MAI. XXXII. WEEGE, MAI. XXXVI), Leukas u.a.


509. Es kann nicht die Aufgabe der geschichtlichen Darstellung sein, die Entwicklung, die, durch viele Jahrhunderte sich hinziehend, in diesen ältesten Schichten ihre Überreste hinterlassen hat, im einzelnen und in ihren mannigfachen lokalen Bestandteilen zu verfolgen. Überall finden sich auch hier die Werkzeuge aus Stein und Knochen, die Spinnwirtel von Ton, die mannigfachen Formen der tönernen Gefäße, die mit linearen Ornamenten verziert werden, teils eingeritzt und mit weißem Farbstoff ausgefüllt, wie in Troja und auf [773] Cypern (§§ 492. 498), aber auch in Mitteleuropa und sonst (vgl. § 533), teils aufgemalt; diese Gefäßmalerei ist in Nordgriechenland schon in den ältesten bis jetzt bekannten Schichten weit verbreitet. Überreste geschlossener Ansiedlungen sind mehrfach aufgedeckt worden; in Thessalien liegen diese Ortschaften auf flachen Hügeln am Rande oder inmitten des Ackerlandes und sind zum Teil von mehreren Ringwällen aus Bruchsteinen umschlossen. Die Häuser sind auf dem Festland wie auf den Inseln zum Teil aus Zelten erwachsene runde Hütten von Schilf und Lehm, wie sie sich, bereits mit einem Fundament von Bruchsteinen, in einer uralten Ansiedlung in Orchomenos in Boeotien erhalten haben; darüber liegt eine zweite, in der die Rundhäuser zu länglichen Ovalbauten geworden sind, mit einer Herdgrube (oder Kellerraum?) im Innern; darüber folgt dann eine Ansiedlung mit rechteckigen Häusern, die nach den in ihnen gefundenen sogenannten »minyschen« (»frühmykenischen«) Scherben der Zeit um 1600 v. Chr. angehören mag. Die alten Rundhäuser leben in späterer Zeit noch in den Graburnen in Hausform weiter, die sich wie in Italien und sonst, so auf den Kykladen (vgl. § 512) und in Kreta vielfach erhalten haben. Doch hat daneben immer schon-wenigstens seit frühneolithischer Zeit-das rechteckige Haus gestanden, ursprünglich eine einfache Wohnkammer mit Lehmwänden und Pfosten an den Ecken, die die Dachbalken tragen, dann durch Verbindung mehrerer solcher Kammern zu einem wirklichen Hause erweitert. Die Leichen werden auch hier in der Lage des Schlafenden in zusammengezogener »Hocker«stellung beigesetzt, und zwar vielfach in den Häusern, wie in Sinear, ein Brauch, der sich bei Kinderleichen oft lange erhalten hat. Für die Erwachsenen dagegen werden gesonderte Friedhöfe die Regel. – Im übrigen ist die Inselwelt von dem eurpaeischen Festland ziemlich scharf geschieden. Aller Fortschritt geht von jener aus; das Festland dagegen stagniert und hat auch neue Errungenschaften von dort nur spät und zögernd übernommen. Allerdings bezog man von Melos schon früh den Obsidian, den man für Steinmesser [774] und Pfeilspitzen brauchte (§ 511), und wenn wir die Bemalung der Gefäße und die Verwendung des Firnisses sowohl auf dem Festland wie auf Kreta finden, so muß da ein bisher noch nicht sicher aufgeklärter Zusammenhang vorliegen. Aber der Gebrauch des Metalls ist von Süden her nur spät und vereinzelt nach Thessalien und Mittelgriechenland vorgedrungen, ebenso wie sich gelegentlich einmal frühkretische Siegel (in Knopfgestalt) in einer der oben erwähnten Ortschaften Thessaliens finden: so kommt es, daß diese Ortschaften, obwohl sie der vollentwickelten altkretischen Kultur der Kamareszeit etwa gleichzeitig sind, doch einen viel älteren, neolithischen Eindruck machen. Dagegen finden sich mancherlei Beziehungen zwischen Nordgriechenland und dem Hinterlande der Balkanhalbinsel (Bosnien) bis zur Donau hinauf und darüber hinaus, so in der Ornamentik der Tongefäße (über die Spirale s. § 512 A.) und in den ganz rohen Figuren (Idolen?) von Ton, vor allem den ganz realistischen fetten Frauengestalten, die die starken Brüste mit den Händen stützen. Ob aus diesen Übereinstimmungen aber irgendwie auf einen ethnographischen Zusammenhang geschlossen werden darf, läßt sich nicht entscheiden.

Für die älteste Keramik auf dem Festlande s. vor allem WACE u. THOMPSON (§ 508 A.), für die kretische EVANS, Annual IX 94ff., HOGARTH u. WELSH, J. Hell. Stud. XXI 96f., und vor allem MACKENZIE, J. Hell. Stud. XXIII und XXVI. Zur Verbreitung der weißinkrustierten geometrischen Dekoration vgl. § 500. Auf Cypern haben sich die schwarzen Gefäße mit weißpunktierten Linien lange erhalten; von hier stammen wahrscheinlich derartige Schalen aus der 12. Dyn. § 291. – Über den ältesten Haustypus ist viel gestritten worden, wie auf dem Gebiet der europäischen, so auf dem der griechischen Prähistorie, zumal seitdem BULLE, Orchomenos (§ 508 A.) die dortigen Rundhäuser bekannt gemacht und durch zahlreiche ethnographische Parallelen vortrefflich erläutert hat. [Seine Ansicht jedoch, daß die Aschengruben sakrale Bedeutung hätten, ist gewiß nicht richtig; es sind Herd- und Abfallgruben wie in den neolithischen Häusern in Deutschland.] Hier wie sonst ist es falsch, eine Form für die ursprüngliche oder alleinige zu erklären. – Eine fortgeschrittene Stufe des Ovalhauses ist in Sitia im Osten Kretas erhalten (Middle Minoan I), auch hier mit Aschengruben, aber mit zahlreichen, durch gerade Wände getrennten Zimmern; XANTHUDIDES, Εφ. αρχ. 1906, 117ff., NOACK, Ovalhaus und Palast in Kreta, 1908, mit vortrefflicher Rekonstruktion [775] des Dachs S. 56f. Daneben steht, noch aus neolithischer Zeit, also viel älter, ein einkammeriges Haus mit geraden Wänden auf Fundamenten von Feldstein in Palaekastro an der Ostküste: DAWKINS, Annual XI 263. Ein erhaltenes altes Ovalhaus scheint das »Haus des Oenomaos« (Pausan. V 20, 6) in Olympia gewesen zu sein: PFUHL, Archaeol. Jahrb. XXI 147ff. – Vier Siegel aus Sesklo in Thessalien: TSUNTAS, Dimini u. Sesklo (§ 508 A.), S. 339f. Die Idole ebenda Taf. 32ff. sowie Taf. 31. – BULLE nimmt in Orchomenos einen wiederholten Bevölkerungswechsel an; aber darüber läßt sich aus den Funden wirklich gar nichts erkennen.


510. Auf Kreta scheint gegen das Ende der neolithischen Zeit ein langsames Fortschreiten einzusetzen: der Ton wird besser gereinigt und im Ofen schwarz gebrannt, die Gefäße werden mit einem Instrument von Knochen oder Stein geglättet, die lineare Ornamentik tritt auf. Vielleicht stammen einige in den aegyptischen Gräbern der »vorgeschichtlichen« Zeit gefundene Schalen mit gleichartiger Dekoration (§ 172) aus Kreta und bezeugen so einen uralten Verkehr zwischen der Insel und dem Niltal. – Dann folgt, etwa zu Ende des vierten Jahrtausends, die Zeit, in der man Geräte aus Kupfer anzufertigen beginnt. Gleichzeitig setzt langsam eine Fortentwicklung der Keramik ein; an die Stelle der eingeritzten Dekoration tritt die Bemalung, und die Epoche beginnt, die EVANS als Early Minoan bezeichnet hat (rund 3000-2000 v. Chr.). Man überzieht das Gefäß mit glänzender schwarzer Farbe und trägt weiße Linien und Punkte darauf, oder bemalt umgekehrt den hellbraunen Grund mit schwarzen Linien; oder das Gefäß wird mit verschieden abgetöntem rotem Firnis überzogen und braune Streifen darauf gesetzt (geflammte Ware). Die Motive sind noch rein linear (geometrisch); erst gegen Ende der Epoche beginnt die Spirale aufzukommen (§ 512). Die Form der Gefäße, vor allem Schnurösengefäße und die überall verbreitete Schnabelkanne, ferner verkoppelte Gefäße und Gefäße in Tiergestalt, entspricht im allgemeinen denen der zweiten Stadt von Troja und der cyprischen Ware; nur Gesichtsurnen fehlen gänzlich, bis auf ein Thongefäß aus Mochlos in Gestalt einer Frau, die die als Ausguß dienenden Brüste mit den Händen [776] stützt30. Auch rohe Figuren (Idole) von Stein und Thon kommen auf. Aber die Lebenshaltung ist reicher geworden; Waffen von Kupfer und Bronze treten neben die von Stein, und wenn die ärmere Bevölkerung in Massengräbern oder in viereckigen Graben beigesetzt wird, deren Wände mit Steinen oder Lehm geschützt werden (sogenannte Kistengräber), so bauen sich die Wohlhabenderen große rechteckige Grabkammern von Stein, mit Türen aus mächtigen Blöcken. Im mittleren Teil der Insel dagegen, so in Kumasa und Hagia Triada bei Phaestos, finden sich als Massengräber Rundbauten aus Bruchsteinen, bei denen der Steinring oben mit einer Lehmbedeckung, vielleicht auch mit Holzbedachung geschlossen war; es sind die Vorläufer des späteren unterirdischen Kuppelgrabes oder Tholos. Solche Grabbauten finden sich in derselben Zeit auch in den Küstenländern Europas (§ 535); aus ihnen sind dort, ähnlich wie später in Kreta und in der mykenischen Kultur des Festlands, die gewaltigen megalithischen Grabbauten hervorgegangen. – In diesen Gräbern finden sich denn auch kostbare Beigaben, so in den von Mochlos reicher Goldschmuck aus dünnem Goldblech, ähnlich dem von Troja, und Halsketten aus Gold und edlen Steinen, ferner zahlreiche Gefäße aus buntem Gestein, die eben so vortrefflich gearbeitet sind wie die besten aegyptischen, die aber sicher einheimische Arbeit und nicht etwa aus Aegypten importiert sind. So hat Kreta schon ein ziemlich ansehnliche Kulturhöhe erreicht. Die Insel muß damals schon recht dicht bevölkert gewesen sein; denn neben zahlreichen anderen Orten, die vor allem im Osten der Insel aufgedeckt sind, geht die Besiedlung der schon erwähnten kleinen felsigen Landzunge von Mochlos (in der Bai von Mirabello), die gegenwärtig in eine Insel verwandelt ist, in diese Zeit [777] zurück, und selbst auf dem benachbarten Inselchen Pseira, einem schmalen Felsrücken ohne Wasser und Vegetation, aber mit einem gegen die Nordwinde geschützten Hafen, ist bereits damals eine Ansiedlung entstanden. Das beweist zugleich einen lebhaften und gewinnbringenden Seeverkehr, der gewiß nicht nur die aegaeische Welt, sondern auch Aegypten aufgesucht hat (vgl. § 228). Diesem Verkehr mit Aegypten verdankt Kreta den Gebrauch des Siegels in der Form von Cylindern und Prismen aus Stein, Ton, Elfenbein, mit eingravierten Abzeichen, der auf Kreta früh aufkommt; denn babylonische Elemente finden sich hier gar nicht. In den jüngsten Schichten des Early Minoan finden sich dann zahlreiche durchbohrte Siegel in Knopfform, die an einer Schnur getragen wurden, wie sie in Aegypten seit der sechsten Dynastie aufkommen, mit den aegyptischen gleichartigen Eigentumsmarken (§ 291); in einer alten Nekropole am Abhang des Hügels von Hagia Triada bei Phaestos haben die Toten diese Siegel mit ins Grab genommen und tragen sie um den Hals. Auch das Elfenbein, das auf Kreta für Idole und Siegel vielfach verwendet wird, wird aus Aegypten importiert sein, ebenso wie sich aegyptische Fayence findet. Die Hanebu, welche die Aegypter seit uralter Zeit als ein Volk des großen Meeres im Norden kennen (§ 228), sind offenbar die Bewohner Kretas und der Nachbarinseln gewesen.


In Knossos hat EVANS das Early Minoan nach drei Fußböden in drei Epochen geschieden; aber zu klarer Erkenntnis reicht das Material aus Knossos nicht aus, und diese Scheidung scheint im einzelnen ziemlich willkürlich (vgl. § 504 A.). Ebenso geht Early Minoan III in Middle Minoan I ohne bedeutsamen Einschnitt über. – Hauptquelle für Early Minoan sind die Gräber von Mochlos, publ. von SEAGER (§ 504 A.) und die von Vasiliki, gleichfalls am Golf von Mirabello, bei BOYD HAWES, Gournia p. 49f. Über Mochlos und Pseira (SEAGER in Anthropol. Publ. of the Univ. of Pennsylvania III 1910) s. auch MARAGHIANNIS, Ant. crétoises II, sowie KARO im Archaeol. Jahrb. XXIII 1908, Anz. 125 und XXIV 1909, Anz. 100. – Nekropole von Palaekastro: BOSANQUET, Annual VIII 290ff. TOD, ib. IX 336ff. DAWKINS, ib. XI 268f. Die Nekropole von Hagia Triada mit Kuppelgrab: HALBHERR, Mon. dell' Ist. Lombardo XXI, 1905, 248ff., vgl. KARO im Archiv für Religionswissenschaft VIII 519ff. [778] Ähnliche Gräber liegen auch sonst bei Phaestos (Hagios Onuphrios, EVANS, J. Hell. Stud. XIV 325. Scripta Minoa I, 117f.) und, von XANTHUDIDES ausgegraben, bei Kumasa südlich von Gortyn (Jahrb. d. archaeol. Instituts 23, 1908, Anzeiger S. 122). Daß aegyptische Steingefäße in diesen Schichten vorkämen (EVANS, Annual VIII 121ff. IX 89), war ein Irrtum, s. § 228 A. – Über die kretischen Siegel vor allem EVANS, Primitive pictographs and a prephoenician script, J. Hell. Stud. XIV 1894, speziell p. 324ff., und weiter ib. XVII 319ff., sowie Scripta Minoa I 11. 116ff.


511. Im wesentlichen gleichartige Funde sind auch auf den übrigen Inseln des Aegaeischen Meers überall zu Tage gekommen, wo Ausgrabungen bis in die ältesten Schichten vorgedrungen sind. Aber auch die Kultur des Festlandes (§ 509) und die von Kreta und Cypern steht, trotz aller lokalen Variationen z.B. in der Dekoration der Tongefäße, in den Grundformen auf der gleichen Stufe; im dritten Jahrtausend herrscht in den entscheidenden Elementen noch eine gleichförmige, ziemlich primitive Kultur in dem ganzen Gebiet von Cypern und dem inneren Kleinasien bis zum Adriatischen Meer hin. Sie steht in Verbindung und Wechselwirkung mit der Zivilisation der Bevölkerung der nördlichen Gebiete bis weit über die Donau hinaus (§§ 500. 533ff.), und greift ebenso nach Italien hinüber, wo vielfach, namentlich in Etrurien, in den ältesten Gräbern ganz gleichartige Objekte sich finden. Eine ethnographische Verwandtschaft oder gar Identität der Bevölkerung folgt daraus natürlich nicht, wohl aber ein vor allem durch die See vermittelter Austausch, neben dem es an Kriegen und Umwälzungen nicht gefehlt haben wird. Die See schafft zugleich eine Verbindung mit Aegypten, dessen Einfluß wir mehrfach erkannt haben und die Zukunft voraussichtlich noch in weit größerem Umfang nachweisen wird. Daneben gelangen Elemente, die der Kultur Sinears entstammen, auf dem Landweg nach Kleinasien und ebenso nach Cypern, greifen aber von hier aus in älterer Zeit höchstens vereinzelt (§ 499) in die aegaeische Welt hinüber. – In der Einzelgestaltung freilich entwickeln sich allmählich die lokalen Besonderheiten immer stärker. Gelegentlich zeigt sich eine Einwirkung Kretas, wie sich Knopfsiegel vereinzelt in Thessalien [779]509) und auf den Inseln gefunden haben; auch die schriftartigen Abzeichen auf trojanischen Siegeln (§ 496) scheinen damit zusammenzuhängen. Im übrigen aber schreitet, während Troja und Cypern im wesentlichen auf derselben Stufe stehen bleiben, auf den Inseln die Entwicklung weiter vor; und hier scheinen zunächst die Kykladen in höherem Maße als Kreta die Führung gehabt zu haben. Besonders bedeutsam tritt uns die Insel Melos entgegen. Hier befindet sich ein großes Lager von Obsidian, einem harten, vulkanischen Gestein, das leicht in dünne Späne mit scharfer Kante splittert, und daher als Material für Messer, namentlich auch Rasiermesser, Pfeilspitzen u.ä. sehr begehrt war; es spielt in der Welt des Aegaeischen Meeres dieselbe Rolle, wie anderswo, namentlich in Nordeuropa, der Feuerstein, dem es an Brauchbarkeit noch überlegen ist. So hat sich auf Melos ein lebhafter Exporthandel von Obsidian entwickelt, teils in kleinen Blöcken, teils in verarbeiteter Gestalt; die Obsidianmesser, die sich in dieser Zeit überall in Griechenland (vgl. § 509) und auf Kreta, sowie (neben Feuerstein) in Troja finden und auch nach Aegypten gelangt sind, stammen sämtlich aus den Brüchen von Melos. Von der Stadt, die hier, in der Nordostecke der Insel (j. Phylakopi), in ältester Zeit gelegen hat, sind manche Überreste erhalten, die eine planmäßige Anlage, durchweg mit rechteckigen Häusern, erkennen lassen; in der Folgezeit ist sie zweimal durch eine neue Stadt mit regelmäßigen engen Gassen und starken Befestigungen ersetzt worden, von denen die zweite der Kamareszeit, die dritte der mykenischen Epoche angehört.

512. In der ältesten Ansiedlung von Phylakopi und in den derselben Epoche angehörigen Grabfunden von anderen Inseln tritt uns die Kultur, wie sie sich seit der Mitte des dritten Jahrtausends gestaltet haben mochte, in reicheren Formen entgegen als auf Kreta. Das gilt schon von der eingeritzten Ornamentik, die auf Melos meist recht sorgfältig ausgeführt ist und neben Bändern, Rhomben und eckigen Streifen auch Kreise, Zweige u.ä. und einmal einen Fisch und ein langes [780] schmales Boot mit großem Steuerruder aufweist, ganz ähnlich den auf den alten aegyptischen Gefäßen gemalten (§ 172). Dann wird das Gefäß, um es dichter zu machen, mit Farbe überzogen und bemalt, meist in glänzendem Schwarz auf hellem Grunde, doch oft auch weiß auf schwarzem oder rotem Überzug. Hier gelangt die geometrische Ornamentik, welche die natürliche Gliederung des Gefäßes scharf hervorhebt, zu voller Entwicklung; zu den geradlinigen und eckigen Mustern kommen kleine Wellenlinien und weiter konzentrische Kreise, die durch Tangenten verbunden sind, die Vorläufer der Spirale. In die leerbleibenden Räume werden dann Zweige, Fische, Wasservögel, laufende Vierfüßler gesetzt, und mehrfach auch Menschen. Diese Zeichnungen sind unbeholfen genug und ordnen sich noch ganz dem geometrischen Stil unter, Arme und Hals sind nur durch Linien dargestellt; aber im Gegensatz zu den trojanischen Zeichnungen (§ 494) besetzen sie den runden Kopf mit Haaren und versuchen den Rumpf als Körper zu bilden, indem sie zwei Dreiecke auf einander setzen; die zusammenstoßenden Spitzen bezeichnen die eng eingeschnürte Mitte. Ebenso werden die Vierfüßler als schmale Streifen, die Fische als Rhomben gezeichnet, mit dreieckigen Flossen. Dem entsprechen zahlreiche Idole aus Marmor: nackte Figuren von Frauen mit kräftig ausgeführten Geschlechtsteilen und oft riesigem Gesäß, unendlich langem Hals (in charakteristischem Gegensatz zu der altsumerischen Kunst), flachem Kopf mit riesigen Nasen, eckig auf der Brust zusammengelegten Armen; die Beine sind oft nur durch einen Schlitz angedeutet, doch nicht selten auch schon von einander getrennt. Es werden wohl Bilder einer Göttin des Geschlechtslebens sein, deren Gegenstück die gleichfalls häufig vorkommenden Phalli von Marmor bilden. Auf den Inseln haben sich diese Figuren lange erhalten; so roh sie sind, so bezeichnen doch auch sie bereits einen Fortschritt über die Idole von Troja (§ 494) hinaus. Solche Idole, aus parischem Marmor und also importiert, haben sich auf Kreta in der dem Early Minoan angehörigen Begräbnisstätte von Hagios Onuphrios bei Phaestos und sonst gefunden; und verwandt, aber[781] nicht identisch, sind weiter die rohen Idole in Thessalien (§ 509) und in Bosnien und dem Donaugebiet (§ 533). – Auch Steingefäße sind, wie auf Kreta, so auf den Inseln noch sehr gewöhnlich; für Messer und Pfeilspitzen verwendet man Obsidian. Dagegen die wichtigsten Waffen, Lanzenspitzen und die auf den Inseln weit verbreiteten Dolche werden aus Bronze gegossen-auch Gußformen von Stein und Ton haben sich gefunden –, ebenso kleine Meißeln u.ä.; dazu kommen Nadeln und Pfriemen. Die Einwirkung der Metallkultur tritt besonders anschaulich in zahlreichen tönernen Tiegeln auf Syros hervor, deren Form deutlich die Nachbildung metallener Vorlagen erkennen läßt. Auf der Außenfläche tragen sie mehrfach die rohe Zeichnung eines Schiffs-eine hübsche Illustration der regen Seefahrt dieser Epoche –, außerdem aber durchweg ein verschlungenes Spiralmuster, das aus aufgerollten Streifen besteht, die durch Tangenten mit einander verbunden sind. Hier ist das metallische Vorbild gezogener und aufgerollter Drähte unverkennbar. Dasselbe Ornament kehrt nicht nur in der Gefäßmalerei von Melos gelegentlich wieder, sondern auch auf einer Marmorbüchse von Amorgos und einer anderen von Melos. Letztere ist die Nachbildung von sieben Rundbauten, die sich um einen Hof gruppieren, zu dem ein großes Tor mit Giebeldach hineinführt: hier tritt uns der Versuch, durch Zusammenfügung runder Hütten (§ 509) zu einem größeren Wohnhaus zu gelangen, sehr anschaulich entgegen.


Zur Literatur vgl. § 508 A. Eingeritztes Boot: Εφ. αρχ. 1899, 86ff. Phylakopi pl. V 8 a. c; gemalt pl. XII 23; Menschen pl. XIII 14-18. Schiffsdarstellungen aus Amorgos Εφ. αρχ. 1900. – Ruinen und Gefäße von Thera und Therasia FOUQUÉ, Santorin et ses éruptions, 1879. DUMONT et CHAPLAIN, Céramiques de la Grèce propre I 19ff. FURTWÄNGLER und LÖSCHCKE, Myk. Vasen 188. ZAHN bei HILLER v. GÄRTRINGEN, Thera III 41ff. – Sogenannte geometrische Idole von den Inseln: THIERSCH, Abh. Münch. Ak. 1835. Ross, Archaeol. Aufs. I. 53ff. II 423. KÖHLER, MAI. IX 156ff. [die beiden Figuren, ein Flötenbläser und ein Leierspieler, der auf einem den kretischen ähnlichen Stuhl sitzt, gehören trotz aller Roheit wohl erst einer jüngeren Zeit an]. WOLTERS, MAI. XVI 46ff. (ebenda S. 52 gleiche Figuren aus Sparta). TZUNTAS, Εφ. αρχ. 1898. Eine gleichartige Figur von parischem Marmor [782] aus Delphi: MAI. VI 361. – Die Tiegel von Syra: TZUNTAS, Εφ. αρχ. 1899, 86ff. (einer vorher bei POLLAK, MAI. XXI 189 und Taf. V, 14). Gleichartige Tiegel sind auf Amorgos und in alten Gräbern bei Chalkis auf Euboea gefunden, neben marmornen Inselidolen: Jahrb. d. archaeol. Inst. XXIII, Anzeiger S. 133. – Steinbüchse von Amorgos (in Berlin): DÜMMLER, MAI. XI Beil. 1. TZUNTAS and MANATT, Mycen. Age p. 260; von Melos (in München) ib. p. 259. BULLE, Orchomenos S. 45. – Die Ansicht von EVANS u.a., die Spirale stamme aus Aegypten, kann unmöglich richtig sein; sie findet sich hier-abgesehen von der praehistorischen Zeit (§ 172), in der ja fast alle in der Ornamentik anderer Völker vorkommenden Motive zeitweilig auftauchen, in der aber die Spirale gegen den Beginn der 1. Dynastie definitiv verschwindet-nur auf den Skarabaeen seit der 12. Dynastie (§ 291), wo sie einen durchaus fremdartigen Eindruck macht und viel eher aus Kreta entlehnt ist als umgekehrt. Dagegen erwächst sie in der aegaeisch-kretischen Kultur zu einem charakteristi schen Grundelement des Dekorationsstils. Hier kommt sie, ebenso wie in Troja (§ 495), mit der Entwicklung der Metalltechnik auf und ist offenbar unter deren Einfluß entwickelt [womit nicht behauptet werden soll, daß sie überall, wo sie vorkommt, aus dieser abgeleitet sein müsse]. Wir können ihr schrittweises Entstehen aus Wellenlinien und verbundenen konzentrischen Kreisen hier klar verfolgen, und haben daher keinen Anlaß, sie aus der Fremde abzuleiten. Weiter nördlich, in den Tumuli von Salonik, in Butmir in Bosnien, in Südrußland (§ 533), in Siebenbürgen findet sie sich in Gräbern rein neolithischer Zeit in der Gefäßornamentik in zum Teil völlig identischen Formen; deshalb hat HUBERT SCHMIDT (Tordos, Z. Ethnol. 1903; Troja, Mykene, Ungarn ib. 1904; Keramik der maked. Tumuli ib. 1905) und ähnlich E. v. STERN (§ 537 A.) die aegaeisch-kretische Spirale aus nördlichen Einflüssen ableiten wollen. Ich halte das für unmöglich, weil mir ihre Autochthonie im aegaeischen Kulturkreise evident scheint; sondern sie wird in beiden Gebieten autochthon, aber vielleicht aus verschiedenen Motiven erwachsen sein. Seitdem SCHUCHHARDT in dem grundlegenden Aufsatz: Das technische Element in den Anfängen der Kunst, Praehist. Z. I 1909 und II 1910, gezeigt hat, wie das Spiralornament auch aus Nachbildung von aufgerollten Schnüren und geflochtenen Körben ganz naturwüchsig entsteht, ist es vollends unnötig, überall wo sie vorkommt, geschichtliche Zusammenhänge anzunehmen. Vgl. § 533.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 770-783.
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