Das Problem der Heimat und Ausbreitung der Indogermanen

[876] 561. Es bleibt als letztes und schwierigstes Problem die Frage, wo dieses Volk, dessen Eigenart wir wenigstens einigermaßen zu erkennen vermögen, gelebt hat, wo die Heimat der Indogermanen zu suchen ist. Als die sprachliche Einheit der Indogermanen zuerst entdeckt wurde, stand die Forschung noch ganz unter dem Eindruck des hohen Alters der orientalischen Kulturen und des archaischen Charakters der ältesten indischen Sprache und Literatur, und betrachtete es daher als selbstverständlich, daß die Indogermanen von Asien aus nach Europa gekommen seien. Allmählich zeigte sich, daß es an Beweisen für diese Annahme fehle, und daß auch das Sanskrit seiner sprachlichen Gestalt nach keineswegs die älteste unter den indogermanischen Sprachen sei, sondern [876] in vielen Fällen eine jüngere Entwicklung darstelle, während die europaeischen Sprachen nicht selten ältere Lautformen und älteres Sprachgut bewahrt haben. Dazu kamen manche Indizien, die für einen europaeischen Ursprung der Indogermanen zu sprechen schienen. So hat sich die Auffassung jetzt geradezu umgekehrt: man sucht fast allgemein die Heimat in Europa, und zwar vielfach gerade in den zentralen und nördlichen Gebieten des Kontinents, Deutschland und Skandinavien, die früher für sehr spät besetzt galten, während man die Arier als einen weit nach Osten vorgeschobenen Außenposten der Indogermanen betrachtet. Auf den verschiedensten Wegen hat man versucht, die Heimat der Indogermanen genauer zu bestimmen; aber zu einem auch nur einigermaßen gesicherten Ergebnis hat keiner geführt. So haben die Anthropologen sich bemüht, eine indogermanische Rasse nachzuweisen und das Gebiet zu ermitteln, in dem diese entstanden sein müsse. Nun dürfen wir wohl annehmen, daß wie nach den Schilderungen der Alten die Kelten und Germanen und auch die Slawen (Procop. Goth. III 14, 27), so auch schon die Indogermanen durch hohen Wuchs, helle Hautfarbe, blondes Haar und vielfach auch blaue Augen charakterisiert waren, da sich Spuren derartiger Eigenschaften auch in der Überlieferung der Griechen und der Inder finden; und auch die iranischen Alanen (die heutigen Osseten, § 568) sind nach Ammian (31, 2, 21) »fast alle groß und schön, mit nahezu gelbem Haar (crinibus mediocriter flavis) und grimmem Blick«. Auch daß die Indogermanen langschädlig (dolichokephal) waren, mag richtig sein. Aber helle Hautfarbe und blonde Haare finden sich auch bei den Libyern (§ 166) und sonst in Nordafrika; blond sind auch die Finnen (vgl. Herod. IV 108 »das große Volk der Budinen [die wahr scheinlich Finnen sind, vgl. § 566] ist durchweg sehr hellfarbig [γλαυκόν] und rothaarig)«, dolichokephal auch die Basken, und ebenso z.B. die alten Kreter (§ 522); und wenn die erwähnten somatischen Eigenschaften gegenwärtig bei den Skandinaviern durchaus vorherrschen und in Norddeutschland weiter verbreitet sind als im Süden oder in den romanischen [877] Ländern, wie kann daraus gefolgert werden, daß die Heimat der Indogermanen in jenen Gebieten angesetzt werden müsse? Die Möglichkeit, daß die Indogermanen hier erst in sehr später Zeit eingewandert sind, und daß ein Volk desselben Typus auch in ganz anderen Gegenden gelebt haben kann, bleibt durchaus bestehen, und wird auch dadurch nicht widerlegt, daß die hier gefundenen Schädel aus der Stein- und Bronzezeit größtenteils dolichokephal sind; denn wie die Menschen aussahen, denen diese Schädel angehört haben, lernen wir durch sie nicht, und selbst wenn sie den heutigen Skandinaviern glichen, folgt daraus noch nicht, daß sie bereits eine indogermanische Sprache gesprochen haben. Überdies basieren alle diese Theorien auf dem Axiom, daß jedes ursprüngliche Volk einen durchweg einheitlichen somatischen Typus gehabt habe, und daß man, wo sich in alten Funden Abweichungen z.B. in der Schädelform finden, sofort verschiedene Rassen annehmen dürfe; dieses Axiom ist aber weder bewiesen, noch überhaupt beweisbar. So vermag die somatische Anthropologie die Frage nicht zu lösen.


Eine eingehende und erschöpfende Zusammenstellung und Kritik der Ansichten über die Heimat der Indogermanen gibt O. SCHRADER, Sprachvergleichung und Urgeschichte I 85ff. II 459ff., so daß eine Aufzählung der Literatur hier unnötig ist. Nicht berücksichtigt sind die zahlreichen ganz phantastischen Theorien, welche z.B. die Verhältnisse der Eiszeit heranziehen, sei es, um die Verbreitung der Indogermanen zu bestimmen, sei es, um die Entstehung des Volks daraus zu erklären. Auf derartigen Wunderlichkeiten beruht auch die vielgepriesene Theorie RATZELS über die Entstehung der »weißen oder blonden Rasse«, innerhalb deren die Indogermanen sich gebildet hätten. – Die Vermutung JOH. SCHMIDTS (in der im übrigen sehr viel Wertvolles enthaltenden Abhandlung: Die Urheimat der Indog. und das europaeische Zahlensystem, Abh. Berl. Ak. 1890), die Indogermanen seien auf der Wanderung zeitweilig Nachbarn der Sumerer gewesen, weil sich in der Bildung der Zehner in den europaeischen Sprachen Spuren eines Sexagesimalsystems (und daneben babylonische Lehnwörter wie pilakku, § 553 A.) finden, kann jetzt wohl als allgemein abgelehnt gelten. Auch von Entlehnung kann hier nicht die Rede sein; das Sexagesimalsystem beruht vielmehr auf so natürlichen und bedeutsamen arithmetischen Grundlagen, daß es auch unter der Herrschaft des Decimalsystems immer wieder durchbricht (Schock u.a.;[878] ferner in den französischen Zahlwörtern), so gut wie das Duodecimalsystem (Dutzend). – Ich bemerke noch, daß für die geschichtliche Betrachtung nur die Frage nach den Wohnsitzen der Indogermanen in dem letzten Stadium vor der Auflösung in Einzelvölker in Betracht kommt. Was für Schicksale sie vorher erlebt haben mögen, entzieht sich jeder Erkenntnis. Daher erfordern auch die Hypothesen über eine Urverwandtschaft des Indogermanischen mit anderen Sprachfamilien, wie dem Finnischen oder dem Semitischen, hier keine Berücksichtigung. Sollten sich auf diesem Gebiete in Zukunft noch einmal gesicherte Resultate ergeben, so würde sich allerdings eine Perspektive in eine weit ältere Vergangenheit eröffnen, die jedoch eine für uns noch greifbare Realität auch alsdann schwerlich erlangen wird.


562. Nicht anders steht es mit den archäologischen Beweismitteln. Aus der Kontinuität der in den prähistorischen Funden vorliegenden kulturellen Entwicklung in einem bestimmten Gebiet wird gefolgert, daß dessen Bevölkerung seit Urzeiten nicht gewechselt haben könne, und dann weiter versucht, mit Hilfe der Verzweigung dieser Kultur die Ausbreitung sei es der gesamten Indogermanen, sei es einer bestimmten Gruppe zu ermitteln. Über die Unzulässigkeit dieser Argumentation haben wir schon wiederholt geredet (§§ 534. 545). Es wird dabei übersehen, daß die Fundobjekte nichts für ein bestimmtes Volkstum Charakteristisches aufweisen-wie das die »prähistorischen« Denkmäler Aegyptens mit ihren Malereien und den Vorstufen der Hieroglyphenschrift allerdings enthalten, so daß hier der Schluß auf Kontinuität der Bevölkerung berechtigt ist (§ 169) –, während umgekehrt die ununterbrochene Wirkung fremder Einflüsse, vor allem aus den Kulturgebieten des Südostens, deutlich vor Augen liegt. Was wir zu erkennen vermögen, sind nicht ethnographische Verhältnisse, sondern die Entwicklung von Kulturkreisen, die die verschiedenartigsten Völker umfaßt haben können. Mit denselben Argumenten, aus denen für Norddeutschland und Skandinavien eine ununterbrochene Besiedlung durch Indogermanen womöglich bis zur Zeit der Kjökkenmöddinger hinauf erschlossen wird, ließe sich diese Kontinuität so ziemlich für jedes später von Indogermanen bewohnte Gebiet erweisen, z.B. für die Alpenländer oder für Italien. [879] Läßt sich doch in Italien aus den Funden nicht einmal erkennen, ob sie etruskisch, umbrisch-sabellisch oder latinisch sind; erst als mit der Schrift ein ganz andersartiges Moment hinzutritt, wird eine sichere Grundlage gewonnen. Das einzige, was sich ohne weiteres als etwas Fremdes aussondert, sind die griechischen Erzeugnisse; aber der griechische Import und der griechische Einfluß beschränken sich keineswegs auf das von Griechen besetzte Gebiet, sondern erstrecken sich über die ganze Halbinsel, so daß wir auch hier ohne die Überlieferung und die inschriftlichen Zeugnisse gänzlich in die Irre gehen würden. Und wie schwierig ist es, innerhalb einer so hoch und eigenartig entwickelten Kultur wie der kretisch-mykenischen die Völker zu scheiden und Indizien für sie zu finden, obwohl wir wissen, daß ganz verschiedene Volksstämme in ihr vertreten sind. Daß es ganz unmöglich sein würde, von den Volksverhältnissen Sinears und seiner Nachbarländer ein Bild zu gewinnen, wenn die Entzifferung der Keilschrift und der zahlreichen in ihr geschriebenen Sprachen nicht gelungen wäre, ist früher schon hervorgehoben worden. Was die zum Teil sehr scharfsinnigen archäologischen Rekonstruktionen der indogermanischen Geschichte erreichen können, sind im besten Falle Möglichkeiten; die Gewißheit, die allein sie historisch verwendbar machen würde, können sie aus eigenen Mitteln niemals gewinnen. Nur in dem Falle, daß unabhängige Beweise zeigen, daß die Indogermanen oder ein bestimmtes indogermanisches Volk zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Gebiet gewohnt haben müssen, würde sich, wenn sich Fundobjekte aus derselben Gegend nachweisen lassen, die eben dieser Zeit angehören, aus ihnen der Umfang dieses Gebiets und die weitere Verzweigung und Geschichte dieses Volks ermitteln lassen. Derartige Beweise fehlen aber noch durchaus; von dem einzigen Moment, welches vielleicht einen Anhalt gewährt, der Leichenverbrennung, wird später noch die Rede sein (§ 570).


Die Kontinuität der germanischen Bevölkerung im Norden wird von den skandinavischen Forschern allgemein postuliert, wenn auch MONTELIUS und S. MÜLLER eine Einwanderung in ältester Zeit annehmen. [880] Den Ursitz der Indogermanen hat in die »westbaltischen« Gebiete unter anderen M. MUCH, Die Heimat der Indogermanen im Lichte der urgesch. Forschung, 1902 (2. Aufl. 1905), verlegt, auf Grund gänzlich unzulänglicher Argumentationen. Mit umfassender Verwertung des archäologischen Materials hat KOSSINNA die Heimat der Indogermanen in Norddeutschland und Skandinavien und ihre weiteren Verzweigungen und Wanderungen zu erweisen gesucht (Die indog. Frage, archäologisch beantwortet, Z. f. Ethnologie 1902; wesentlich modifiziert und erweitert in einem Vortrage in der anthropol. Gesellschaft, Juli 1908); weshalb ich seinen Beweisen skeptisch gegenüberstehe und in seinen Ergebnissen auch im besten Falle nur Möglichkeiten, nicht Tatsachen sehen kann, ist im Texte gesagt.


563. Auch die dem indogermanischen Wortschatz entnommenen Argumente, mit deren Hilfe die Sprachforscher die Frage zu lösen versucht haben, haben zu einem sicheren Ergebnis nicht geführt. Die Schwierigkeiten bestehen vor allem darin, daß die Einzelvölker, wenn sie in Wohnsitze von anderer Beschaffenheit kamen, mit den Gegenständen, die hier fehlten, auch das Wort dafür verloren haben, und daß sie vielfach alte Wörter durch Neubildungen oder auch Entlehnungen ersetzten. Daher ist uns der Wortschatz der Ursprache nur sehr unvollständig bekannt, und auch da, wo das Wort erhalten ist, steht seine ursprüngliche Bedeutung nicht immer fest. So hat man daraus, daß das Wort, welches im Deutschen »Buche« lautet, auch im Lateinischen, Griechischen und auf arischem Gebiet wenigstens im Kurdischen erhalten ist (bei den Slawen ist es aus dem Deutschen entlehnt), gefolgert, der Ursitz der Indogermanen müsse in dem ursprünglichen Verbreitungsgebiet der Buche in Mitteleuropa gelegen haben, wodurch Rußland und Dänemark (wohin die Buche erst in der Bronzezeit gedrungen ist) ausgeschlossen wären. Aber griechisch φηγός bezeichnet eine Eichenart, kurdisch bûz die Ulme, so daß es ganz unsicher ist, welchen Baum die Urindogermanen-vorausgesetzt, daß sie das Wort besaßen-durch bhâgos bezeichnet haben. Ebenso fehlt das in den übrigen Sprachen erhaltene Wort mori »Meer« den Ariern und Griechen, das Wort Salz den Ariern; aber der Schluß, daß das Urvolk das Meer und [881] nun gar das Salz nicht gekannt habe, war offenbar übereilt, vielmehr werden die Arier und Griechen diese Wörter durch neue ersetzt haben. Nicht mehr beweist die Tatsache, daß ein indogermanisches Wort für »Löwe« nicht bekannt ist, und daß der Name dieses Raubtiers in den europaeischen Sprachen aus dem Griechischen und hier vielleicht aus einer fremden Sprache (dem Semitischen?) entlehnt ist. Daß die Indogermanen drei Jahreszeiten kannten, Frühling, Sommer und Winter, daß die Ursprache Worte für Schnee und Eis besaß, beweist nur, daß sie in Gebieten gewohnt haben, wo es Winter und Frost gab, woran ohnehin niemand zweifelt. Daß der Herbst überall erst später als besondere Jahreszeit hervortritt, beruht auf der kulturgeschichtlichen Entwicklung, in der Wein- und Obstbau als bedeutsame selbständige Wirtschaftszweige sehr jung sind-wenn natürlich Wein und Obst auch früher schon eingesammelt wurden (§ 532) –; auch für unser Gefühl noch steht der Herbst den anderen Jahreszeiten durchaus nicht gleich, und unser Kalender weist ihm gar eine Zeit zu, von der das natürliche Empfinden nur etwa ein Drittel zum Herbst rechnet. Nicht mehr beweist die Tatsache, daß das Hauptgetreide die Gerste gewesen ist, daneben Weizen und Hirse, und daß die Indogermanen das Pferd kannten: sein Verbreitungsgebiet reicht von Frankreich bis nach Zentralasien. Auch das gleichfalls allen Indogermanen vertraute Rind ist in diesem ganzen Gebiet heimisch. Den europaeischen Völkern sind zahlreiche Baumnamen gemeinsam; die Arier kennen von ihnen natürlich nur wenige, darunter die Birke. Höchstens daß die Indogermanen nicht aus einer baumlosen Steppe oder Wüste, sondern eher aus einer Waldregion stammten, darf man annehmen; aber dadurch ist nicht einmal das Steppenland östlich vom Ural ausgeschlossen, da es auch hier noch Wälder und z.B. Birken gibt. Überdies ist nie zu vergessen, daß auch in der Einheitszeit schon die Lebensverhältnisse der indogermanischen Stämme keineswegs durchweg gleichartig gewesen sind, daß es vielmehr neben fortgeschrittenen, bereits zu einer primitiven Seßhaftigkeit gelangten auch nomadisierende, [882] wesentlich oder ausschließlich von Viehzucht und Jagd lebende Stämme gegeben haben wird (§ 555), daß also auch die Wohnsitze sowohl kulturfähige und bewaldete Gebiete wie Steppen und Wüsten umfaßt haben können.

564. Wenn wir das Gebiet überschauen, welches etwa zu Beginn des ersten Jahrtausends von indogermanischen Völkern bewohnt war, so treten uns manche Anzeichen entgegen, welche auf ihre Wanderzüge Licht werfen. Eine Gruppe für sich bilden die arischen Stämme in Indien und Iran, die sich von hier aus durch die aralo-kaspische Steppe weit nach Osteuropa hinein vorschieben (§ 568). Daß diese Gebiete nicht die Heimat der Indogermanen gewesen sind, ist zweifellos, so fraglich es zunächst auch noch bleibt, ob die Arier von Norden und Nordosten oder von Europa aus nach Iran und Indien gelangt sind. Daß die griechischen Stämme etwa von der Mitte des dritten Jahrtausends an in ihre späteren Wohnsitze eingedrungen sind, haben wir schon gesehen, ebenso, daß auf sie zunächst die Thraker gefolgt sind, dann wahrscheinlich erst im dreizehnten Jahrhundert die Illyrier (nebst den Epiroten), und daß dadurch wahrscheinlich ebensowohl das Vordringen der Nordwestgriechen, die dorische Wanderung, wie die Ausbreitung der thrakischen Indogermanen (der Phryger) nach Kleinasien herbeigeführt ist (§ 525). Die Griechen gehören zu den Centumvölkern, die Thraker zu den Satemvölkern; es haben sich hier also indogermanische Stämme zusammengefunden, die vorher schon lange von einander getrennt gewesen waren und eine ganz verschiedene Entwicklung durchgemacht haben. Die Einwanderung kann nur vom Donaugebiet ausgegangen sein; es ist aber sehr wohl möglich, daß beide Völker ganz verschiedene Wege eingeschlagen haben, die Griechen von Nordwesten her auf dem breiten Bergrücken Bosniens oder auch von der ungarischen Tiefebene aus vorgedrungen sind, wie später die Kelten-dafür spricht vielleicht, daß die jüngere Schicht der Griechen, die dorischen Stämme, von Nordwesten kamen, und daß hier wie in Makedonien alte griechische Ortsnamen weit verbreitet [883] sind –, die Thraker dagegen zunächst, etwa von Südrußland aus, an die untere Donau und von hier dann weiter über den Balkan gezogen sind; sitzen doch thrakische Stämme auch später noch im Norden der Donau. Eine neue weit spätere Invasion hat dann die Illyrier in ihre späteren Wohnsitze geführt, die wohl sicher von Nordwesten gekommen sind. Leider ist aber die Frage umstritten, welcher der beiden großen Gruppen sie angehören (§ 550 A.); sonst würden sich von hier aus wohl weitere Aufschlüsse über die älteren Sitze wenigstens derjenigen Gruppe, zu der sie gehören, gewinnen lassen.

565. Wie die Thraker nach Kleinasien, so sind die Illyrier nach Italien hinübergegangen, teils zu Lande bis an die Etsch (die Veneter), teils über See nach Apulien. Es spricht alles dafür, daß auch die übrigen Indogermanen Italiens, die Latiner und die umbrisch-oskischen Stämme, die zusammen eine einheitliche, von der Wissenschaft als Italiker bezeichnete Gruppe bilden, auf demselben Wege, über See, in die Halbinsel gekommen sind. Denn wären sie aus der ungarischen Tiefebene oder von Oberdeutschland aus zu Lande, über die Alpen, nach Italien gezogen, so wären sie zunächst in die Poebene gelangt. Hier aber findet sich, abgesehen von den Venetern, die nicht über die Etsch hinaus vorgedrungen sind, und von den Umbrern, die sich offenbar von Süden her im Mündungsgebiet des Po ausgebreitet haben, vor der Kelteninvasion keine Spur von Indogermanen. Vielmehr war das Poland offenbar noch, als etwa im sechsten Jahrhundert die Etrusker es besetzten, sehr dünn bevölkert; die zahlreichen Überreste von Pfahldörfern (Terramare) zeigen eine wenig entwickelte Bronzekultur. In der ganzen älteren Zeit Italiens bis auf die Kelten spielt das Poland weder kulturell noch politisch irgend eine Rolle; eine kräftige, leistungsfähige Bevölkerung haben hier erst die Römer geschaffen. Daß nun indogermanische Stämme ins Poland eingedrungen sein und dann es freiwillig geräumt haben sollten, ohne auch nur einen Bruchteil ihrer Bevölkerung hier zurückzulassen, um statt der [884] fruchtbaren Ebene die südlichen, zunächst wenig verlockenden Bergländer zu besiedeln, ist so unwahrscheinlich wie möglich; ein Volk aber, das sie mit Gewalt verdrängt haben könnte, ist nicht vorhanden. Somit ist es weitaus das wahrscheinlichste, daß indogermanische Italiker das Poland vor der Römerzeit überhaupt nicht betreten haben; die Bewohner in der Terramarezeit werden Ligurer gewesen sein, falls wir nicht noch ein anderes, später völlig verschollenes Volkstum hier annehmen wollen. Dann bleibt aber nur die Annahme, daß die Vorfahren der Latiner und Ausoner, der Umbrer und Sabeller und ihrer Verwandten über das Adriatische Meer, von Illyrien aus und vermutlich von den Illyriern gedrängt, nach Italien gekommen sind. Dieser Annahme steht nichts im Wege; denn über See gefahren sind die Menschen schon in der ältesten überhaupt erkennbaren Zeit, wie die Besiedlung der Inseln beweist. Der Übergang von Illyrien nach Italien ist nicht schwieriger als von Kleinasien nach Cypern, Kreta, Griechenland und umgekehrt oder der der Kelten von Frankreich nach England und Irland, von der Besiedlung Corsikas und Sardiniens wahrscheinlich durch iberische Stämme oder der der Antillen durch die Indianer, der Südsee durch die Malaien ganz zu schweigen. Die Gliederung der Wohnsitze der italischen Stämme spricht durchaus für diese Annahme; denn sie zeigt eine Schichtung von Ost nach West, nicht von Norden nach Süden.


Die zuerst von W. HELBIG, Die Italiker in der Poebene, 1879, aufgestellte Hypothese, die Bewohner der Terramare seien die damals noch ein einheitliches Volk bildenden Italiker gewesen, scheint mir ganz unhaltbar, sowohl in dieser Gestalt wie z.B. in der Modifikation durch F. v. DUHN (Geschichtliches aus vorgeschichtlicher Zeit, Neue Heidelb. Jahrb. IV, 1894, 143ff.), nach der sie mit den Latinern, aber nicht mit den angeblich früher eingewanderten indogermanischen Stämmen des Ostens und Südens der Halbinsel zusammenhängen sollen; den Schluß aus einzelnen Übereinstimmungen in Sitten und primitiven Einrichtungen in der Bestattungsart u.ä. auf ethnographische Zusammenhänge kann ich nicht für zulässig halten. Daß die Ligurer in den Bergen in sehr primitiven Verhältnissen lebten, kann die Annahme nicht widerlegen, daß sie in der Poebene weiter fortgeschritten waren. Die Etrusker kommen hier nicht in Betracht, da ernstlich nicht bestritten werden kann, daß sie [885] erst spät von Süden her in die Poebene und ins Alpenland eingedrungen sind; in den Bergen haben sich, wie die Alten angeben, nach dem Kelteneinfall ihre Reste als Rhaeter behauptet. Die Umbrer sitzen nach Herodot I 94 und IV 49 im Bereich der Pomündung; aber von einer älteren umbrischen Bevölkerung im Inneren der Poebene findet sich keine Spur. Die Annahme, daß hier vor den Etruskern ein später verschwundenes Volk gesessen habe [dessen Reste man etwa in den Euganeern suchen könnte], läßt sich natürlich nicht widerlegen.


566. Wie diese Völker zweifellos von weither erobernd in ihre geschichtlichen Wohnsitze gelangt sind, so auch die Kelten. Ihre Ausbreitung über den Westen Europas scheint erst etwa ins sechste Jahrhundert zu fallen. Damals lernen die Griechen sie auf der iberischen Halbinsel im äußersten Westen, an der Mündung des Guadiana, kennen; und um dieselbe Zeit scheinen sie die Ligurer von den Küsten des Kanals verdrängt zu haben (§ 528), und sind dann von hier nach den britischen Inseln hinübergegangen. Erst viel später, zu Anfang des vierten Jahrhunderts, dringen sie das Rhonetal hinab gegen die Ligurer ans Mittelmeer vor; und gleichzeitig, im Jahre 388, fallen sie ins Poland ein. Auch das Land nördlich der Alpen an der Donau und östlich an der Drau und Sau haben sie besetzt; von hier aus sind sie 280 in die Balkanhalbinsel und weiter in Kleinasien eingebrochen. Vor diesen Wanderungen werden wir die Sitze der Kelten vermutlich zu beiden Seiten des Rheins zu suchen haben. – Den Kelten folgen dann bekanntlich die Germanen im Vordringen nach Westen und Süden; auch nach Osten, ans Schwarze Meer, sind germanische Stämme seit dem zweiten Jahrhundert v. Chr. wiederholt gelangt, zuerst die Bastarnen, dann die Gothen. Hinter ihnen erscheinen die Slawen, die (nebst den Lithauern und Letten) am spätesten von allen Indogermanen in der Geschichte auftreten. Man nimmt gewöhnlich an, daß sie identisch sind mit dem Volksstamm der Neuren, die nach Herodot nördlich von den Skythen oberhalb der Quellen des Hypanis (Bug) vom Borysthenes (Dniepr) bis zum Tyras (Dniestr) saßen, also etwa in Wolhynien; er scheidet sie von den Skythen wie von den östlichen, wahrscheinlich dem finnischen Stamm angehörigen [886] Völkern (Androphagen, Melanchlaenen, Budinen), wenn auch ihre Sitten den skythischen glichen. Sicher ist jedenfalls, daß die Slawen lange Zeit in der Nachbarschaft der iranischen Skythen gesessen haben müssen; nur so erklärt sich das Eindringen spezifisch iranischer Wörter, wie bogŭ »Gott« = iranisch baga, ins Slawische. In dem Gebiet östlich von der mittleren Weichsel sitzen die Slawen noch zur Römerzeit, im Norden begrenzt von den ihnen eng verwandten Stämmen der Aisten oder Aestier (Lithauer und Letten); erst im fünften Jahrhundert n. Chr. beginnen sie sich nach Westen, Süden und Osten auszubreiten.


Über die Neuren Herod. IV 17. 51. 100. 105; seine Erzählung, daß sie eine Generation vor Darius' Skythenzug von einer Invasion von Schlangen bedrängt ihr Land geräumt hätten und zu den Budinen östlich vom Don (wahrscheinlich den permischen Finnen, § 561) gewandert seien, hat historisch keine Bedeutung, wie man oft geglaubt hat; denn zu Darius' Zeit und in Herodots Schilderung wohnen sie wieder in ihren alten Sitzen. Außerdem berichtet Herodot, daß nach skythischen Angaben jeder Neure sich in jedem Jahr ein paar Tage in einen Wolf verwandle, was vielleicht aus einem einheimischen Kultbrauch entstanden ist. Die sonstigen Erwähnungen der Neuren von Ephoros an (bei Scymnus 843; ferner Mela II 1 Plin. IV 88. Dion. perieg. 310 mit den Scholien, und daraus Steph. Byz. Ammian XXII 8, 10. XXXI 2, 14) gehen sämtlich auf Herodot zurück. – Darauf, daß das slawische bogŭ ein iranisches (und zwar ein von der Religion Zoroasters geschaffenes) Lehnwort ist, hat W. SCHULZE mich aufmerksam gemacht; ebenso ist slawisch svetŭ, lithauisch szventas »heilig« = pers. spenta zu erklären.


567. Somit zerfällt das von indogermanischen Stämmen besetzte Gebiet etwa um 1000 v. Chr. in drei zusammenhanglose, durch weite Zwischenräume getrennte Gruppen: das Gebiet der arischen Stämme in Asien; die Balkanhalbinsel nebst Mittel- und Unteritalien und den Mysern und Phrygern in Kleinasien-auch nach Norden mögen sich die Thraker damals schon weit über die Donau ausgedehnt haben –; und die von Germanen, Kelten und Lettoslawen besetzten Gebiete, d.i. zum mindesten der Hauptteil Deutschlands und Skandinaviens, vielleicht auch bereits der Osten Frankreichs und die polnischen Lande. Eine Verbindung dieser getrennten Gebiete ist in den [887] folgenden Jahrhunderten hergestellt worden einmal durch die Ausbreitung iranischer Stämme nach Südrußland und weiter nach Westen, sodann durch das Vordringen der Phryger nach Armenien, endlich durch die keltischen Wanderungen. Seitdem erscheint das von Indogermanen besetzte Gebiet äußerlich als eine vom Atlantischen Ozean bis nach Indien reichende Einheit; doch war den einzelnen Völkern längst jede Erinnerung an ihre ursprüngliche Verwandtschaft geschwunden und sie alle standen sich durchaus als fremdartige und feindliche Nationen gegenüber, so daß die neugeschaffene Berührung für das Volksbewußtsein bis auf das neunzehnte Jahrhundert ohne jede Bedeutung geblieben ist. – Von den drei ursprünglichen Gebietsgruppen sind sowohl Iran und Indien, wie die Balkanhalbinsel und Italien erst durch Einwanderung erworbener Besitz, der für die Urheimat der Indogermanen nicht in Betracht kommt. Dagegen liegt die Möglichkeit vor, das Gebiet der Kelten, Germanen und Lettoslawen oder, mit anderen Worten, Norddeutschland und dessen Nachbargebiete als die Heimat der Indogermanen und den Ausgangspunkt ihrer Wanderungen zu betrachten. Alsdann wären sie hier in eine östliche Gruppe, die Satemvölker (zu denen die Lettoslawen gehören), und eine westliche, die Centumvölker, zerfallen, und von beiden wären Wanderungen nach Süden ausgegangen, von den Centumvölkern (abgesehen von den Kelten) etwa auf der großen Völkerstraße durch Schlesien und Mähren nach der mittleren Donau und von hier weiter nach Illyrien, Griechenland, Italien, von den Satemvölkern um die Karpathen herum teils nach Asien, teils nach der unteren Donau und Thrakien. Das würde also den gegenwärtig bei Anthropologen und Prähistorikern weit verbreiteten Annahmen entsprechen. Aber wenn man sich darauf beruft, daß dieser Hypothese direkte geschichtliche Zeugnisse nicht gegenüberstehen, so ist nicht zu vergessen, daß das nur darauf beruht, daß wir, anders als bei den südlichen und östlichen Ländern, solche Zeugnisse aus älterer Zeit hier überhaupt nicht besitzen, weil diese Gebiete eben erst sehr spät in die Geschichte eingetreten sind; bei gleicher Lage [888] der Überlieferung würde man die Heimat der Indogermanen ebensogut z.B. nach Griechenland oder Kleinasien setzen können. Die andere Möglichkeit, daß auch die Kelten, Germanen und Lettoslawen in ihre geschichtlichen Sitze von fern her eingewandert sind, steht dieser Hypothese vollkommen gleichwichtig gegenüber. Und in der Tat sprechen schwerwiegende Bedenken gegen sie und zu Gunsten einer Einwanderung von Osten her.

568. Neben den Annahmen, daß die Heimat der Indogermanen in Asien oder in Deutschland zu suchen sei, hat auch eine vermittelnde Hypothese manche Vertreter gefunden, welche sie nach Südrußland und in das Steppenland nördlich vom Schwarzen und Kaspischen Meer setzt. Auch ich bin früher für diese Annahme eingetreten, vor allem, weil hier die natürlichen Lebensbedingungen für nomadische Stämme vorhanden sind und es wahrscheinlich sei, daß die seßhaften indogermanischen Völker durch das Eindringen von Nomaden ins Kulturland entstanden seien, wie bei den Semiten und den Türken; die nomadisierenden iranischen Stämme, welche wir in geschichtlicher Zeit in diesen Gebieten finden, seien Reste der alten Bevölkerung, welche in den alten Wohnsitzen zurückgeblieben seien. Aber diese Behauptung ist falsch: es steht vielmehr völlig fest, daß diese Stämme erst in geschichtlicher Zeit von Osten her in ihre späteren Wohnsitze gelangt sind. Etwa zu Ende des achten Jahrhunderts sind die Skoloten (Skythen) über den Don gegangen, haben die Kimmerier aus Südrußland verdrängt und das Land bis zur Donau in Besitz genommen. Ihnen folgen die Sarmaten, die zu Herodots Zeit noch östlich vom Don sitzen, später sich bis nach Ungarn hin vorgeschoben haben, wo die Jazygen aus ihnen hervorgegangen sind. Diese Stämme oder wenigstens das in ihnen herrschende Element sind nach Ausweis ihrer Eigennamen und zahlreicher sonstiger Wörter, die uns erhalten sind, Iranier gewesen, wenn auch die Schilderung, welche Herodot und Hippokrates von ihren Sitten und ihrer körperlichen Erscheinung geben, auf eine starke Mischung mit einer älteren (mongolisch-finnischen?) [889] Bevölkerung hinweist, der sie vielleicht auch manche aus dem Iranischen nicht erklärbare Wörter entlehnt haben. Noch weiter im Westen kannte Herodot als ein fernes Volk Zentraleuropas nördlich von der Donau (etwa in Mähren und Böhmen) die Sigynnen, die medische Kleidung tragen und von den Medern abzustammen behaupten; Strabo dagegen kennt sie in Medien am Kaspischen Meer. Auch hier handelt es sich offenbar um einen iranischen Wanderstamm, der weit nach Westen verschlagen ist. Später finden wir nördlich vom Kaukasus den iranischen Stamm der Alanen, von dem sich ein Rest im Kaukasus in dem Volk der Osseten erhalten hat, das sich selbst Ir, d.h. Arier, und sein Land Iron, d.i. Ariana, nennt; ein anderer Teil ist bekanntlich durch die Völkerwanderung mit germanischen Stämmen zusammen nach Portugal und Nordafrika verschlagen worden. Sie erscheinen in ihren späteren Wohnsitzen zuerst zu Anfang des ersten Jahrhunderts v. Chr. unter dem Namen Aorser; vorher haben sie östlich vom Kaspischen Meer in Chwaresm gesessen. So finden wir bei den iranischen Wanderstämmen durchweg ein Vorschieben von Ost nach West, aber niemals eine Wanderung in entgegengesetzter Richtung. Die Heimat aller iranischen Nomaden ist der Nordosten Irans und die turanische Steppe; falls die Arier von Europa gekommen sind, müßten diese Stämme in Gebiete eingerückt sein, die ihre Vorfahren schon einmal in umgekehrter Richtung durchzogen, aber damals geräumt haben würden. Das ist nicht gerade sehr wahrscheinlich und spricht nicht zu Gunsten einer europaeischen Heimat der Arier und damit der Indogermanen. Auch sonst weisen die Indizien für die Herkunft der Arier nicht gerade auf Europa (vgl. § 575 f.). Entscheidend freilich sind auch diese Argumente nicht. Denn ein Naturgesetz ist es keineswegs, daß nun alle indogermanischen Wanderungen von Osten nach Westen gegangen sein müßten; im Gegenteil, nicht nur die Kelten und die phrygisch-armenischen Stämme sind weit nach Osten gezogen, sondern auch germanische und slawische Völkerschaften.


[890] Die iranische Nationalität der Skythen und Sarmaten und ihrer Verwandten ist von ZEUSS, Die Deutschen und die Nachbarstämme, und von MÜLLENHOFF (Ber. Berl. Ak. 1866; jetzt Deutsche Altertumskunde III) erwiesen worden; vgl. auch MARQUART, Über einige skythisch-iranische Völkernamen, Unters. zur Gesch. von Eran II (Philologus, Suppl. X) 77ff. Beimischung fremder Volkselemente ist dadurch natürlich nicht ausgeschlossen. – Über die Sigynnen Herod. V 8. Strabo XI 11, 8 (vgl. m. Bemerkungen Z. vgl. Sprachf. 42, 26f. MYRES, The Sigynnae of Herodotus (Anthropol. Essays pres. to Tylor 1907), folgert aus Herodots Angabe σιγύννας καλέουσι Λίγυες οἱ ἄνω ὑπέρ Μασσαλίης οἰκέοντες τοὺς καπήλους, Κύπριοι δὲ τὰ δόρατα [von da ist das Wort im späteren Griechisch geläufig geworden], daß die Sequaner ein Zweig der Sigynnen seien, und daß die eisernen Speere von ihnen durch Mitteleuropa und den Kaukasus nach Cypern gekommen seien; es liegen aber offenbar nur zufällige Gleichklänge vor). – Die Identität der Alanen = Osseten mit den Aorsern haben HIRTH, China and the Roman Orient 139 und GUTSCHMID, Geschichte Irans 68f. erkannt; ihre Herkunft aus Chwaresm hat ANDREAS in einem ungedruckten Vortrag auf dem Kopenhagener Orientalistenkongreß durch sprachliche und sachliche Argumente erwiesen; vgl. auch MARQUART, Erânšahr (Abh. Gött. Ges. 1901) S. 156. Östlich vom Kaspischen Meer kennen sie nicht nur die chinesischen Nachrichten (unter dem Namen An-tsai), sondern auch Ptolem. VI 14, 10 (vgl. Ἀλανορσοί ib. 9), vgl. Strabo XI 5, 8; und nach Ammian 31, 2, 12 = 23 5, 16 sind die Alanen mit den Massageten der Alten identisch, vgl. § 578 nebst der Anmerkung sowie § 572 A.


569. Diese Argumente sind neuerdings durch eine Epoche machende Entdeckung wesentlich verstärkt worden. Späte und wenig zuverlässige chinesische Nachrichten berichteten von einem zentralasiatischen Stamm der Wusun, der in ihren Annalen seit 176 v. Chr. mehrfach erwähnt wird, sie »seien von allen Barbaren der westlichen Gebiete ihrer Gestalt nach völlig verschieden, und zu ihrer Rasse gehörten die heutigen Hu (d.i. die Bewohner von Turkestan, Iranier, Inder) mit grünlichen (oder blaßblauen) Augen, roten Bärten und affenartiger Erscheinung«. Man hat diese Nachricht, auf die seiner Zeit KLAPROTH weitgreifende ethnographische Hypothesen gebaut hat, meist als wertlos verworfen; aber gegenwärtig ist sie durch neue Funde in ein ganz anderes und überraschendes Licht gerückt worden. In naher Beziehung zu den Wusun [891] stehen die Yue-tschi und die Tochârer, die um 160 v. Chr. durch das Sakenland in Sogdiana eindrangen und sich von hier aus, in Verbindung mit anderen Stämmen, erobernd nach Süden ausbreiteten; sie werden gewöhnlich unter dem Namen der Indoskythen zusammengefaßt. Ein Bruchteil der Yue-tschi und Tocharer ist in Ostturkestan am Südabhang des Tianschan zurückgeblieben; und hier hat die Erforschung der Ruinenstädte aus der Mitte des ersten Jahrtausends n. Chr. neben Überresten zahlreicher anderer Sprachen und Literaturen auch buddhistische Texte in tocharischer Sprache zu Tage gefördert. Diese Sprache ist nun indogermanisch. Sie hat zwar vielfache Beimischung fremder Elemente erfahren, sowohl im Wortschatz wie in der Flexion; aber der indogermanische Grundcharakter ist ganz unverkennbar, sämtliche Zahlwörter, die Pronomina, zahlreiche Nomina und nicht wenige Flexionsendungen sind rein indogermanisch. Wenn es schon eine große Überraschung ist, hier weit im Osten Indogermanen anzutreffen, so wird diese noch weiter dadurch gesteigert, daß die tocharische Sprache nicht arisch ist, wie man vielleicht hätte erwarten können, sondern nach Lautform und Wortschatz zu den europaeischen Sprachen und zwar zu der westlichen Gruppe derselben, den Centumsprachen, gehört. Das wirft alle bisherigen Vorstellungen über die Verbreitung der Indogermanen über den Haufen. Allerdings ist die Möglichkeit durchaus nicht ausgeschlossen, daß ein Volksstamm aus Zentraleuropa, etwa von der Nordsee oder Ostsee her, nach Zentralasien gezogen und über den Tianschan oder etwa durch die Dsungarische Pforte in das Tarymbecken Ostturkestans eingedrungen wäre; aber große Wahrscheinlichkeit hat diese Annahme nicht. Vielmehr hat die älteste Hypothese, welche die Indogermanen aus Asien kommen läßt, durch diese Entdeckung von neuem bedeutend an Gewicht gewonnen; ja wir müssen jetzt mit der Möglichkeit rechnen, daß die Heimat der Indogermanen, sowohl der Centum- wie der Satemgruppe, noch weiter östlich zu suchen ist, als man ehemals annahm, daß auch sie, wie später die Hunnen, Türken und [892] Mongolen, aus dem großen zentralasiatischen Hochland gekommen sind. Dazu würde z.B. die Übereinstimmung der arischen Bestattungsgebräuche mit den mongolischen (§ 554) aufs beste stimmen. Alsdann wären die Centumvölker und ein Teil der Satemvölker von hier aus durch die aralokaspische Steppe nach Westen gewandert, vermutlich in verschiedenen Zügen und zu verschiedenen Zeiten-von ihrer Schichtung legt die Besiedlung der Balkanhalbinsel Zeugnis ab –; eine Gruppe der Satemvölker, die Arier, hätte sich dagegen nach Südwesten gewandt, nach Iran und Indien, während die diesen angehörenden Nomaden, die Skythen und ihre Verwandten, sich in der aralo-kaspischen Steppe in derselben Richtung ausbreiteten, in der ihre Brüder in weit früherer Zeit gezogen waren. Zurückgeblieben wäre ein Bruchteil der Centumstämme, von dem sich in den Tocharern ein Rest erhalten hätte. Wir sind noch weit davon entfernt, diese Hypothese als irgendwie gesichert hinstellen zu können; aber wir dürfen hoffen, daß weitere Entdeckungen und vor allem die volle Erschließung des Tocharischen, die zur Zeit noch in den ersten Anfängen steht, in der Tat eine feste Grundlage geben werden.


Die chinesischen Nachrichten über die Wusun und die übrigen zentralasiatischen Stämme habe ich nach O. FRANKE, Beiträge aus chines. Quellen zur Kenntnis der Turkvölker und Skythen Zentralasiens, Abh. Berl. Ak. 1904, S. 17ff. (vgl. S. 24f.) gegeben; zu einem irgendwie selbständigen Urteil fehlen mir alle Vorkenntnisse. – Der Name der tocharischen Sprache ist von F. W. K. MÜLLER, Ber. Berl. Ak. 1907, 958ff. nachgewiesen; die ersten Mitteilungen über die Sprache geben SIEG und SIEGLING, Tocharisch, die Sprache der Indoskythen, Ber. Berl. Ak. 1908, 915ff. (mit einem Nachwort von PISCHEL). Eine umfassende Veröffentlichung steht binnen kurzem in Aussicht. Ich bemerke, daß auch die Bildung der Zehner europaeisch, nicht arisch ist: 30 tarjâk, 40 śtwarâk, 50 pñâk, 60 saksak, aber 70 šaptuk, 80 oktuk, 90 nmuk (wie lat. sexaginta cet., aber septuaginta, octoginta). 100 heißt kandh (spr. kant), 1000 wälts = χίλιοι. – Welche weiteren, ganz neuen Resultate sich von hier aus noch ergeben können, lehrt folgende Tatsache. Unter den ganz unindogermanischen Kasusformen des Tocharischen erscheint auch ein Kasus auf –aśśäl, nach SIEG und SIEGLING S. 922 ein [893] Comitativus. Dasselbe Suffix erscheint in der Aufzählung der arischen Götternamen von Mitani in der § 455 A. erwähnten chetitischen Urkunde aus Boghazkiöi (WINCKLER, Mitt. der D. Orientges. 35 S. 51), wo das erste Götterpaar mi-it-ra-aš-ši-il u-ru-w-na-aš-ši-el (var. a-ru-na-aš-ši-el) lautet. Auch hier ist –aššil deutlich ein »comitatives« Suffix, das den beiden zu einer einheitlichen Gruppe zusammengefaßten Namen angehängt ist; Mitraššil Uruwnaššil kann nur bedeuten; »Das Götterpaar Mitra-Varuna«, etwa Mitras-que Varunas-que. Wie diese Übereinstimmung zu erklären ist und was für geschichtliche Folgerungen daraus zu ziehen sind, ist noch völlig dunkel-da müssen wir die weitere Erschließung der beiden Sprachen abwarten; aber ein bloßer Zufall ist sie gewiß nicht.


570. Wenn wir mithin von einer definitiven Lösung des Problems der Heimat der Indogermanen und des Verlaufs der Wanderungen der Einzelvölker auch noch weit entfernt sind, so ist doch jetzt die Erwartung gerechtfertigt, daß die Forschung demnächst bedeutend weiter führen wird. Zum Schluß sei daher noch eine Vermutung erwähnt, die vielleicht, wenn auch nicht auf die Frage der Urheimat, so doch auf die Wanderungen eines Zweigs der Indogermanen Licht werfen kann. Wir haben früher die Gruppe von Ansiedlungen aus dem Ende der neolithischen Zeit und dem Beginn der Kupferzeit (etwa 2500-2000 v. Chr.) im Dniestr- und Dnieprgebiet östlich von den Karpathen kennen gelernt, die einerseits durch die Leichenverbrennung, andrerseits durch ihre eigenartige bemalte Keramik mit Spiralornamenten und gelegentlich dazwischen stehenden Zeichnungen von Tieren und Menschen charakterisiert ist und dadurch einen Zusammenhang mit der Entwicklung der Aegaeischen Gebiete zeigt, wie sie auch selbst weiter nach den Donauländern (einschließlich Thrakiens) und darüber hinaus ausstrahlt (§§ 533. 537. 545). Falls die Annahme richtig ist, daß bereits das Einheitsvolk die Leichenverbrennung gekannt hat und daß diese durch indogermanische Völker verbreitet ist (§ 554), so liegt die Vermutung sehr nahe, in diesen Ansiedlungen zwar nicht das indogermanische Urvolk, aber doch einen indogermanischen Stamm zu suchen, der einige Jahrhunderte lang hier ansässig gewesen wäre. Daß diese Kultur [894] zu Anfang der Kupferzeit schroff abbricht und in diesen Gebieten keinerlei Fortsetzung findet, stimmt dazu aufs beste; denn wir müssen daraus schließen, daß das hier ansässige Volk damals ausgewandert ist. Welche äußere Einwirkungen dazu den Anstoß gegeben haben und wohin es gezogen ist, läßt sich natürlich nicht erkennen. Eine Fortsetzung dieser Kultur an anderer Stätte hat sich bis jetzt nicht gefunden; denn die Entwicklung im Bereich des Aegaeischen Meers folgt nicht auf sie, sondern läuft ihr parallel, und die Vermutung v. STERNS (§ 537 A.), daß wir es hier mit den Vorfahren der Griechen zu tun hätten, ist gewiß nicht haltbar. Eher wird man an die thrakischen Stämme denken dürfen, deren Eindringen in die Balkanhalbinsel ja vielleicht bis in das zweite Jahrtausend hinabzurücken ist; die Funde aus thrakischen Gräbern sind in der Tat denen des ostkarpathischen Gebiets verwandt. Auch hier dürfen wir von der Zukunft noch weitere Aufklärung erwarten.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 876-896.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon