Wissenschaft und Philosophie. Demokrit.

Die Sokratiker. Plato

[330] In reicher Fülle waren im fünften Jahrhundert die Wissenschaften erblüht; aus der Enge eines kleinen Kreises von Fachgelehrten [330] waren sie hinausgedrungen vor ein größeres Publikum und ihre Probleme und Ergebnisse vielfach in die allgemeine Diskussion verschlungen. Eine Reihe von Erkenntnissen, die im fünften Jahrhundert noch das Eigentum einiger weniger Gelehrten waren, beginnen jetzt Gemeingut der Gebildeten zu werden, vor allem auf geographischem und astronomischem Gebiet; ja die Mathematik gewinnt durch die Pythagoreer, deren Forderungen Plato aufnahm, eine feste Stelle im propädeutischen Unterricht. Die wissenschaftliche Literatur wächst an Umfang und infolgedessen an Spezialisierung; neben zusammenfassende Werke treten die Einzeluntersuchungen, neben die streng wissenschaftliche Behandlung die popularisierende Darstellung für das große Publikum; und wie früher begegnen sich auf beiden Gebieten die Fachgenossen mit den von universelleren Bestrebungen aus auf die Einzeluntersuchung geführten Arbeiten der Sophisten und Philosophen. So dürftig unsere Kunde im einzelnen ist, so können wir doch mit voller Sicherheit behaupten, daß es in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts bereits keinen Gegenstand gegeben hat, der irgendwie das Interesse erregen konnte, über den nicht bereits eine ganze Anzahl von Schriften erschienen wäre; so auch über praktische Fragen, wie Landwirtschaft, Pferdezucht, Kriegskunst, Kochkunst u.ä. – In der Geschichtsschreibung hat Thukydides neben die populäre Erzählung, die in Herodot ihren Höhepunkt erreicht hatte, die wissenschaftliche Behandlung gesetzt. Der Torso seines Werks, der um 395 veröffentlicht sein mag, hat alsbald eine gewaltige Wirkung geübt. Unter den gleichartigen Werken, die es hervorrief, war weitaus das bedeutendste die sizilische Geschichte des Philistos. Im Mutterlande hat, etwa dreißig Jahre nach Thukydides' Tode, Xenophon den Faden da aufgenommen, wo er abgerissen war, und ihn durch die ganze Zeit, die er mit durchlebt hatte, fortzuführen versucht. Daneben gab es nicht wenige Schriften über einzelne Gebiete und Episoden (Bd. IV 1, 259.). Die alte Geschichtsschreibung im ionischen Stil, die nach Herodot in Hellanikos' Chroniken und rationalistischen Bearbeitungen der Sagengeschichte zu einem gewissen Abschluß gelangte, findet noch einzelne Nachzügler, so in den vorwiegend geographischen [331] Arbeiten des Damastes von Sige und in der Geschichte des Orients von Ktesias. Aber auch aus diesem Gebiete, für dessen halbmärchenhaften Inhalt sie sich am besten eignete, schwand sie mit der nächsten Generation: Deinon von Kolophon und Herakleides von Kyme (Bd. IV 1, 9) schrieben die Geschichte des Perserreichs und seiner Vorgänger in durchaus wissenschaftlicher Weise, die namentlich in dem Versuch, die inneren Zustände des Reiches darzulegen, sehr Beachtenswertes leistete. Das gleiche gilt von der Lokalgeschichte: die Atthis des Kleidemos (um 380) war noch ganz in der rationalistischen Art des Hellanikos gehalten, die des Androtion (gegen 340), eines Schülers des Isokrates, war formell und inhaltlich ein modernes Werk, das den aristokratischen Standpunkt vertrat. Ähnliche Schriften hat es in großer Zahl gegeben; etwas näher kennen wir nur die Geschichte Megaras von Dieuchidas, der Athens Ansprüche auf seine Heimat und Salamis scharf zurückwies und die Homerverse, auf die es sich berief, für eine Fälschung des Pisistratos erklärte.

Von den älteren Philosophenschulen gelangen die Pythagoreer in Unteritalien zu neuem Glanz, vor allem durch Archytas von Tarent (o. S. 161), und haben auch im Mutterlande Eingang gefunden; ihre wissenschaftliche Bedeutung liegt nach wie vor in der Fortbildung der Mathematik und Astronomie, ihre Wirkung auf die Masse in der ernsten Sittlichkeit, die sie fordern und im Leben bewähren, und in der Verkündung des Unsterblichkeitsglaubens und der Seelenwanderung. Die übrigen Schulen sind meist abgestorben oder leben nur noch in einzelnen Nachzüglern fort wie die Herakliteer in Ephesos. An die Eleaten knüpfen die Paradoxien der Eristiker (o. S. 325) an; zu ihnen gehört auch Euklides von Megara, der aber zugleich ein eifriger Schüler des Sokrates war und dessen Tugendlehre mit der eleatischen Dialektik verband. Die universale Naturwissenschaft der Ionier hat sich lebenskräftig nur noch in der jüngsten ihrer Hauptrichtungen erhalten, der Atomistik Leukipps. In Demokritos von Abdera (vgl. Bd. IV 1, 876.) hatte dieser den Schüler gefunden, der seiner Lehre erst die volle und allseitige Durchbildung geben sollte. Demokrit hat lange Jahre ein Wanderleben geführt, bei dem er die [332] griechische Welt und den Orient weithin kennen lernte, wo er bei den Weisen der Ägypter und Chaldäerin die Lehre ging. Dann hat er sich in Abdera zur Ruhe gesetzt und bis ins höchste Alter – er scheint etwa um 370 v. Chr. gestorben zu sein – das gewaltige durch Forschung und Denken gesammelte Material wissenschaftlich verarbeitet. An Zahl und Umfang haben seine Werke die Platos vielleicht noch übertroffen; aber sie konzentrieren sich nicht auf einen sein ganzes Denken beherrschenden Gegenstand, sondern streben, wie es vor ihm schon Anaxagoras versucht hatte, im ganzen wie im einzelnen die Gesamtheit der menschlichen Forschung zu umspannen. So ist Demokrit ein typischer Vertreter des »Vielwissens«, das Heraklit so arg geschmäht hatte, und der echte Vorläufer des Aristoteles. »Ich bin«, so rühmt er sich selbst, »von den Menschen meiner Zeit der, der die größten Länderstrecken durchwandert und das Entfernteste durchforscht hat, und ich habe am meisten Klimate und Länder gesehen und kundige Menschen gehört; und in der Konstruktion von Figuren mit Demonstrationen hat mich nie jemand übertroffen, auch nicht die ägyptischen 'Seilspanner' (Feldmesser), mit denen ich fünf Jahre in der Fremde zusammengelebt habe.« Neben systematischen Werken schrieb er zahlreiche Einzelaufsätze und ausführende Untersuchungen, welche das atomistische System durch alle Reiche der Natur verfolgten und Entstehung und Beschaffenheit der Einzelwesen darlegten; neben Himmelskunde und Kosmophysik tritt bei ihm zum ersten Male der Versuch einer wissenschaftlichen Mineralogie, Botanik und Zoologie auf. Wie in den gleichzeitigen medizinischen Schriften finden sich hier neben manchen seltsamen Behauptungen sehr achtungswerte Kenntnisse, namentlich in der Anatomie. Auch Medizin hat Demokrit studiert und eine ganze Anzahl medizinischer Schriften verfaßt, in denen gleichfalls exakte Beobachtungen und wunderliche alte und neue Theoreme in sehr charakteristischer Weise gemischt sind, z.B. in der Embryologie. Daran reihen sich so gut wie verschollene Abhandlungen über angewandte Wissenschaften und Technologie, über Ackerbau, Kriegskunst, Perspektive (wie Anaxagoras), Sternkunde, Wetterprognose, den Kalender u.a. Nicht selten zeigt sich freilich, daß [333] der große Systematiker da, wo die Wissenschaft bereits auf fester Grundlage aufgebaut war, mit den Fortschritten der Fachmänner nicht Schritt halten konnte. Die Länge des Sonnenjahrs von 3651/4 Tag entlehnte er den Ägyptern, aber die Länge des Mondmonats bestimmte er gegenüber Oinopides und Meton (Bd. IV 1, 844) beträchtlich zu hoch. Seine zahlreichen mathematischen Schriften haben offenbar, trotz der Beherrschung der Technik, deren er sich rühmt, die Entwicklung der Wissenschaft nicht wesentlich gefördert; sonst wurden wir wenigstens etwas davon erfahren. Daß ihm der echte mathematische Geist fehlte, der die Forscher im Westen belebte, ist eigentlich für einen atomistischen Materialisten selbstverständlich und wird dadurch bestätigt, daß er wie Anaxagoras sein Leben lang an der Scheibengestalt der Erde festgehalten hat und daß ihm für die Neigung zur Himmelsachse und das Schweben in der Mitte derjenigen der unzähligen Welten, in der wir leben, naive Erklärungen nach Art des Anaxagoras genügten – hier steht er tief unter Plato, der auf diesem Gebiete allen Fortschritten der Wissenschaft gefolgt ist und schließlich sogar die neueste Theorie der Pythagoreer angenommen hat, daß die Erde sich um ihre Achse drehe und die scheinbar regellose Bewegung der Planeten in Wirklichkeit völlig gesetzmäßig verlaufe (Tim. 40b, vgl. Arist. de caelo II 13. leg. VII 821ff.). – Für die Länderbeschreibung dagegen scheint Demokrit Bedeutendes geleistet zu haben; auch war er der erste, der behauptete, der bewohnte (d.h. tatsächlich der den Griechen bekannte) Teil der Erdoberfläche sei länger als breit, und zwar um ein Drittel. – Auch alle Gebiete des geistigen Lebens, mit Ausnahme der Geschichte, hat Demokrit in den Bereich seiner Forschung gezogen; unter seinen Schriften finden sich Werke über Rhythmus und Harmonie, Gesang, Poesie, über leicht und schwer zu sprechende Worte, d.h. über Phonetik, über Grammatik und Wortwahl, über Homererklärung. – Daß uns von all diesen Werken so gar nichts erhalten ist, ist ein unersetzlicher Verlust. Mochte auch Demokrit mehr in die Breite als in die Tiefe gehen, einen selbständigen und vor keiner Konsequenz zurückschreckenden Denker würden wir in jedem von ihnen kennenlernen, und zugleich würden sie uns einen [334] lebendigen Einblick geben in den Stand des Wissens, den die hellenische Nation nach einem Jahrhundert entwickelter Einzelforschung erreicht hatte.

Das Interesse der alten Zeit war auf die Erklärung der Naturerscheinungen gerichtet; die Gegenwart verlangte von dem Weisen in erster Linie einen Wegweiser durch die Wirrnisse des politischen und sozialen Lebens. Auch dieser Forderung hat Demokrit zu genügen gesucht; in einer ganzen Anzahl von Schriften hat er seine ethischen Anschauungen vorgetragen, nicht sowohl als geschlossenes System, als vielmehr als Ratschläge für eine rationelle Lebensführung, in aphoristischer Form, die sich nicht selten mit Sätzen Heraklits berührt. Die Grundgedanken stehen natürlich im Einklang mit seiner Weltanschauung: jede religiöse Motivierung wird abgelehnt, ebenso der Unsterblichkeitsgedanke. Den Ausgang für alles Handeln bildet das Streben nach Lust und die Vermeidung der Unlust. Aber nicht jede Lust ist ein Gut; jedes Übermaß ist vielmehr schädlich und führt zum Gegenteil, und die geistigen Genüsse stehen höher als die kurzen und vergänglichen Genüsse des Leibes oder der Sinne – diese sind für das ethische Verhalten ebenso irreführend wie die Sinneseindrücke für die wahre Erkenntnis (Bd. IV 1, 879). Auch auf sittlichem Gebiete ist die richtige Einsicht das Wichtigste, die Unwissenheit der schlimmste Feind. Das Höchste, was der Mensch erreichen kann, ist die innere Ruhe des Gemüts, das »Wohlsein« (εὐεστώ)595 oder die »gute Gemütsstimmung« (εὐϑυμία), die sich durch nichts aus der Fassung bringen läßt und den Zustand des nil admirari, die ἀϑαμβία oder ἀταραξία, erreicht. So berühren sich Demokrits ethische Vorschriften in den Grundgedanken wie in der Einzelausführung vielfach mit den Sätzen Platos, und dieser hat, wie neuerdings erkannt ist, wiederholt mit hoher Anerkennung von ihnen gesprochen596. Aber ein fundamentaler Unterschied trennt beide [335] Systeme: Demokrits Ethik ist durchweg und ausschließlich individualistisch und daher im Grunde ziemlich quietistisch. Zwar erkennt auch Demokrit den Wert der sozialen Güter, vor allem der Freundschaft; und er rät zur Unterordnung unter die Gebote des Staats und handelt gelegentlich von der besten Einrichtung desselben. Aber alle diese Dinge kommen doch nur in Betracht, soweit sie dem Weisen die Möglichkeit eines ungestörten beschaulichen Daseins gewähren. Er soll alles von sich fern halten, was ihn von einer friedlichen, harmonischen Existenz in einem durch die Gesetze der Sittlichkeit und des Maßhaltens geregelten geistigen Genußleben ablenken könnte. Selbst Kinder in die Welt zu setzen, rät Demokrit ab, denn man weiß nicht, wie sie ausschlagen werden; besser ist es, wenn man so gestellt ist, den Sohn eines Freundes zu adoptieren, dessen Anlagen schon erkennbar sind. Für eine praktische Tätigkeit im öffentlichen Leben ist in dieser Ethik kein Raum, und die Probleme, die dieses bietet, werden nach Möglichkeit beiseite geschoben. Darauf beruht es, daß Demokrit auf seine Zeit keine größere Wirkung ausüben konnte; die Zeit des staatlosen Individualismus war noch nicht gekommen. – Auch Demokrits naturwissenschaftliches System hat einen Fortsetzer zunächst nicht gefunden; in den Händen seiner Nachfolger (Metrodoros von Chios, Anaxarchos von Abdera u.a.) wandelte es sich, in natürlicher Konsequenz des inneren Widerspruchs zwischen der Behauptung von der absoluten Realität der Atome und der trügerischen und rein subjektiven Sinnenerkenntnis (Bd. IV 1, 879.), mehr und mehr zur Skepsis um, zur Leugnung jeder Möglichkeit der Erkenntnis, zu der sich Demokrits Enkelschüler Pyrrhon und Nausiphanes bereits offen bekannten.

Für Demokrit bildeten die Probleme des praktischen Lebens nur eines der vielen Gebiete, mit denen er sich beschäftigte; ja im Grunde existierte das Erziehungsproblem für ihn überhaupt nicht. Für Sokrates und seine Schüler war es das Fundamentalproblem ihres Denkens und Lehrens, das seine Lösung dringend erheischte, sollte nicht Griechenland trotz seiner hohen Kultur oder vielmehr infolge derselben unrettbar zugrunde gehen. – Die Hinrichtung des Sokrates hat das Gegenteil von dem bewirkt, was seine Ankläger erstrebt hatten. Den lästigen Frager und Mahner, den Verderber [336] der Jugend glaubte man los zu sein; aber sofort zeigte sich, daß mit seinem Leibe weder seine Person zu Grabe getragen war noch seine Lehre. Die Probleme, mit denen er gerungen und an denen mitzuarbeiten er die Menschen gezwungen hatte, gaben keinen, den er einmal gepackt hatte, wieder frei; und über ihnen erhob sich immer gewaltiger das verklärte Bild seiner Persönlichkeit und seiner Art zu diskutieren. Mit seinem Tode begann die sokratische Literatur; Jahr auf Jahr folgten in unübersehbarer Fülle die Schriften, die ihn und seine Lehre der Welt vorführten. Es waren Aufzeichnungen der Gespräche, die er geführt hatte: der sokratische Dialog ist nicht die Schöpfung eines Einzelnen, weder des Plato noch des Antisthenes, sondern die notwendige und selbstverständliche Form dieser Literatur, die Fortsetzung des mündlichen Gesprächs des Meisters im Gegensatz zu den Lehrvorträgen und Prunkreden der Sophisten und Rhetoren. Viele der Schüler des Sokrates hatten kein weiteres Ziel, als seine Sache zu verteidigen, der Welt zu zeigen, welches Verbrechen die Stadt begangen hatte, die sich die Hochburg der Kultur zu sein rühmte, sein Bild festzuhalten und jetzt, wo sein Mund verstummt war, wenigstens seine Worte den nach Erkenntnis lechzenden Mitmenschen zu übermitteln. Daß dabei ein subjektives Moment sich eindrängte, war unvermeidlich; ein jeder gab die Lehre so, wie er sie verstanden hatte, er mochte auch wohl mit unbewußter Abweichung von dem Meister die Diskussion so zu Ende führen, wie er es für richtig hielt, oder jenen ein Problem besprechen lassen, das ihm fern gelegen hatte, dem Jünger aber am Herzen lag. Die Tendenz wird dadurch nicht geändert; die Person des Aufzeichnenden tritt überall völlig hinter der des Lehrers zurück. Derart waren die Dialoge des Äschines von Athen, von denen gerühmt wird, daß sie die Art des Sokrates am treuesten wiedergaben, die des Phädon von Elis, wohl auch die des Euklides von Megara, später die Aufzeichnungen des Xenophon und daneben viele andere, die bald diesem, bald jenem zugeschrieben werden, weil ihre Verfasser überhaupt nicht bekannt waren – darunter ohne Zweifel neben manchen achtbaren auch recht viele unbedeutende Erzeugnisse597.

[337] Manche dieser Jünger mochten daneben, wo die Gelegenheit sich bot, mündlich von Sokrates erzählen und in seiner Art die Diskussion der Probleme fortsetzen. Ein höheres Ziel, die selbsttätige Fortführung seines Werks, die Gründung einer sokratischen Schule, die mit dem Anspruch auftrat, die wahre Erziehung für das Leben geben zu können, haben nur einige wenige erstrebt. Sie sahen sich daher auch gezwungen, den Kampf aufzunehmen, den Sokrates sein Leben lang gekämpft hatte sowohl gegen die Unwissenheit und Lethargie der Masse auch derer, die sich ihrer Bildung rühmten, wie gegen die konkurrierenden Lehren und das Scheinwissen der Sophisten. Drei Männer und drei Systeme treten uns entgegen, die von Sokrates ausgegangen und zu selbständiger Bedeutung erwachsen sind – denn Euklides (o. S. 332) hat für die weitere Entwicklung weder als Lehrer noch als Philosoph größere Bedeutung, und Phädon noch weniger –: Aristippos, Antisthenes und Plato. – Aristippos von Kyrene598 war, durch Sokrates' Ruf gelockt, als junger Mann nach Athen gekommen. Seinem Naturell lag Sokrates' Auffassung der Tugend ebenso fern wie sein politisches Ziel; er war ein Weltmann, auf den die Verhältnisse seiner Heimat – wir wissen, daß es in Kyrene gerade um diese Zeit zu einer blutigen Revolution kam (Bd. IV 1, 601) – keinen Reiz ausübten und der es viel behaglicher fand, sich ohne festen Aufenthalt in der Welt herumzutreiben, unbehelligt von[338] allen politischen Händeln und frei von der Pflicht des Steuerzahlens, als sich für ein politisches Ideal aufzuopfern oder wie ein eingebildeter Tor dem Phantom der Macht nachzujagen. Aber die Persönlichkeit des Sokrates und sein Verhalten im Angesicht des Todes haben einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn gemacht. So hat er mit seiner Anschauung, daß die Lust, und zwar in erster Linie die Sinnenlust, das höchste Gut sei – denn, so lehrte er in extremster Konsequenz des Satzes des Protagoras, unsere Empfindungen sind das einzig Reale, von den Dingen wissen wir überhaupt nichts; unser Meinen darüber hat nicht einmal für uns selbst Gültigkeit –, dennoch sokratische Lehren verbunden. Denn nur die Einsicht gibt die innere Freiheit und den Gleichmut, der zum wahren Genuß befähigt und den Menschen zum Herrn, nicht zum Knecht seiner Begierden macht. So wird Aristipp zum Lehrer der Lebensklugheit, die sich jederzeit in die Dinge zu schicken weiß; wo er hinkommt, sammelt er nach Sophistenart einen Kreis von Schülern um sich, die er gegen ein ansehnliches Honorar in die Kunst einführt, wirksam zu reden und sich von Aberglauben und Todesfurcht frei zu halten, indem sie die Lehre von den Gütern und Übeln auswendig lernen. In Vorträgen und Aufsätzen hat er seine Anschauungen ausgeführt; von allen theoretischen Fragen hält er sich fern, sowohl von der Dialektik wie von der Naturwissenschaft; das hat keinen praktischen Nutzen. In seiner Ethik berührt er sich mit Demokrit, sowohl im Ausgangspunkt wie im Ziel und in dem uneingeschränkten Individualismus; aber gerade weil er die Lust weit niedriger faßt, hat er, der gewandte und geistreiche Lebenskünstler, der auch da, wo er sich tief erniedrigt, seine intellektuelle Superiorität doch immer zu wahren weiß, und sei es auch nur durch ein schlagendes Witzwort, blasierte Leute an sich zu ziehen vermocht, die auch nichts Höheres erstreben, ja ihnen einen gewissen Halt für das Leben gegeben. Alle tieferen Gedanken der Sokratik freilich sind hier völlig beiseite geworfen.

In dem allem war Antisthenes599 das Gegenbild Aristipps. Er war der Sohn eines Atheners von einer Thrakerin und daher nach [339] attischem Recht ein Bastard und vom politischen Leben ausgeschlossen. In seiner Jugend hatte er den Einfluß des Gorgias und der sophistischen Rhetorik erfahren; dann hat er sich ganz an Sokrates hingegeben. Auch ihm ist die praktische Seite der Lehre für das Leben des Einzelnen das allein Wesentliche; aber im Gegensatz zu Aristipp hat er Sokrates' Tugendlehre voll in sich aufgenommen und in seinem Leben zu verwirklichen gestrebt. »Die Tugend ist lehrbar, und sie allein verleiht den Adel; sie genügt zur Glückseligkeit, wenn nur die sokratische Willensstärke (ἰσχύς) hinzukommt. Sie besteht im Handeln und braucht weder vieler Reden noch Wissenschaften.« Die »Selbstgenügsamkeit« (αὐτάρκεια) des Weisen – das ist das Schlagwort des Antisthenes und seiner Schule. Die Anschauungen, welche die unwissende Masse beherrschen und der landläufigen Moral zugrunde liegen, sind lediglich konventionell und völlig wertlos. Ehre, Macht, politische Stellung, Reichtum, Liebe, Sinnengenuß, selbst die gewöhnlichsten und am unentbehrlichsten scheinenden Besitztümer, Kleidung und Hausrat, das alles sind gleichgültige Dinge, die den Weisen niemals in seiner Ruhe stören dürfen, ja die er von sich werfen wird, um nicht von ihnen in Abhängigkeit zu geraten; was zum Leben absolut unentbehrlich ist, ist so wenig, daß jeder es finden kann, ohne sich zu mühen. Der Ärmste ist der Reichste, weil er der Bedürfnisloseste ist. Auch der Unterschied des Freien und des Sklaven verschwindet völlig vor dem Angesicht der Wahrheit; der Sklave, der die Erkenntnis besitzt, ist frei, der Herr, der in den Banden seiner Sinne gefesselt ist, ist der wahre Knecht. Nur auf sich selbst soll der Mensch ruhen; so hat Herakles es gehalten, den Antisthenes zu der Idealgestalt seiner Schule erhebt. – In einer großen Zahl von Schriften, die an Gesamtumfang denen Platos mindestens nahe kommen, hat Antisthenes seine Ansichten verkündet. Als Lehrer hat er seinen Sitz in der Turnschule der Bastarde aufgeschlagen, [340] dem Gymnasion des Herakles von Kynosarges; nach dieser Stätte heißen seine Schüler später »die Hunde«. Er stellte hohe sittliche Anforderungen; aber auf den Anspruch, für das praktische und politische Leben vorzubereiten, verzichtete er nicht; waren doch auch Herakles und Odysseus, der vielgewandte Weise, der in jeder Situation die Überlegenheit des Intellekts über die rohe Kraft erwies (vgl. o. S. 327), im Leben wirksam gewesen. Für diesen Unterricht konnte er weder die theoretische Diskussion noch die rhetorische Ausbildung entbehren, so geringschätzig er auf sie herabsah: denn die Tugend hat zwar die richtige Einsicht zur Voraussetzung, aber erworben wird sie durch Übung, nicht durch Spekulation. In der Erkenntnistheorie verwickelte er sich freilich in seltsame Irrgänge, indem er die Unmöglichkeit des Widersprechens behauptete: wie man etwas aussagt, so ist es. Daß er dadurch die Möglichkeit der wahren Wissenschaft aufhob, war ihm ganz recht. Natürlich kam er dadurch in Konflikt mit Plato, und ebenso lag er als Lehrer der Rhetorik in heftiger Fehde mit Isokrates; welche Konzessionen er hier der Praxis machte, geht daraus hervor, daß er sogar eine vielbewunderte Gerichtsrede des Isokrates über ein Darlehen aus der Zeit der Dreißig, für das es keine Zeugen gab, durch eine Gegenrede zu widerlegen suchte. Dem Volksglauben trat er überall schroff entgegen, wie in der Ethik und Lebenshaltung, so in der Religion; nur einen Gott gibt es, unsichtbar und über das menschliche Fassungsvermögen erhaben; die herrschenden Anschauungen sind hier ebenso konventionell und unhaltbar wie in der Ethik. Aber er folgte der populären, auch von den Sophisten aufgenommenen Lehrmethode auch darin, daß er – in der Art, die Sokrates in Platos Protagoras verspottet, indem er sie nachahmt und zeigt, daß er Derartiges auch kann – die Dichter, speziell den Homer, benutzte, um zu beweisen, daß in ihnen bereits seine ethischen und religiösen Anschauungen enthalten seien. Trotz dieser Konzessionen konnte Antisthenes immer nur einige wenige an sich fesseln; und seine Ethik war ebensowenig wie die des Aristipp und des Demokrit geeignet, die Grundlage für einen Neubau des Staats und der Gesellschaft zu bilden, wenn sie auch diesen Anspruch erhob: sie [341] war im Grunde ebenso individualistisch wie jene, ja sie hatte trotz aller Gegensätze genau dasselbe Ziel: die Seelenruhe des wahren Weisen. Wohl aber hat der Rigorismus der kynischen Tugendübung, so sehr er den Spott der Weltkinder hervorrief, erbauend auf gar manche gewirkt, denen hier in den Nöten und der sittlichen Zersetzung der Zeit ein Ideal entgegentrat, das sie bewundern mußten, auch wenn sie nicht die Kraft in sich fühlten, selbst ihm nachzuleben.

Inmitten all dieser sich bekämpfenden Strömungen steht Plato als der wahre Erbe und Fortbildner des Sokrates. Plato (geb. 428 v. Chr.)600 entstammte einer angesehenen und wohlhabenden athenischen Familie; von Mutterseite war er mit Charmides und Kritias verwandt. Durch diese mag er zuerst mit Sokrates in Berührung gekommen sein; und bald hat er sich ihm mit ganzer Seele hingegeben. Wenn irgendeiner, schien er zu einer politischen Laufbahn berufen, und sein Sinn war ursprünglich auf kein anderes Ziel gerichtet. Aber das Schicksal des geliebten Lehrers, den die Oligarchen maßregelten (o. S. 18) und die Demokraten hinrichteten, zeigte ihm, daß in Athen für eine gedeihliche Wirksamkeit als Staatsmann kein Boden war. »Je älter ich wurde«, schreibt er (ep. 7, 325), »um so schwieriger erschien sie mir. Denn ohne treue Freunde und Genossen war sie unmöglich, diese aber waren (infolge der Revolution) überhaupt kaum noch vorhanden, denn unsere Stadt regierte sich nicht mehr nach den Sitten und Einrichtungen der Väter; neue zu erwerben war untunlich, zumal der Wortlaut der Gesetze und die Sitte einer immer ärgeren Korruption und Mißachtung Platz machten. So geriet ich, der ich zu Anfang ganz von dem Triebe nach öffentlicher Wirksamkeit beherrscht war, im Hinblick darauf, wo ich alles planlos hin- und hergetrieben sah, schließlich in eine verzweifelte Stimmung; zwar gab ich die Hoffnung nicht auf, daß es einmal besser werden könnte, aber immer mußte ich warten, daß der Moment zum Handeln kommen sollte, bis ich endlich [342] erkannte, daß alle jetzt bestehenden Staaten ohne Ausnahme in schlechter und heilloser Verfassung seien ... So mußte ich zum Preise der richtigen Philosophie aussprechen, daß nur durch diese erkannt werden könne, was sowohl für die Staaten Recht sei wie für alle privaten Verhältnisse; und niemals werde das Menschengeschlecht aus seiner schlimmen Lage erlöst werden, ehe nicht entweder das Geschlecht der wahren und richtigen Philosophen in die Staatsämter komme oder aber das der Herrscher in den Städten durch göttliche Fügung zu wahren Philosophen werde.« Was er hier als Greis von 76 Jahren ausspricht – und ähnlich hat er sich zehn Jahre früher gegen Perdikkas III. von Makedonien geäußert (ep. 5) –, hat sein Leben lang den Mittelpunkt seines Wirkens gebildet; in dem großen Hauptwerk seines früheren Mannesalters, den zehn Büchern vom Staat als der Verwirklichung der Idee der Gerechtigkeit, sind diese Gedanken ausgeführt. Zwar hat er durch die rastlose Arbeit seines Lebens noch etwas Höheres kennengelernt, das ganz der Erkenntnis gewidmete Leben des wissenschaftlichen Forschers, den ϑεωρητικὸς βίος, der dem Dasein der Gottheit nahe kommt und ihren Wegen nachzuforschen strebt. Aber eben darum geht dies über das Menschendasein hinaus; wer diese Höhe erklommen hat, fühlt auch die Verpflichtung, die er gegen seine Mitmenschen hat, sich ihrem Dienste zu widmen, ebenso wie umgekehrt der wahre Staat die Verpflichtung hat, dem Weisen, der zugleich der wahre Staatsmann ist, die Möglichkeit zu gewähren, auch der Wissenschaft zu leben. »Wohl ist es das Angenehmste im Leben«, schreibt Plato an Archytas (ep. 9), als dieser sich vom Staatsleben zurückziehen wollte, »nur die eigenen Angelegenheiten zu betreiben, zumal wenn man solche sich erwählt hat wie du; aber auch das sollst du bedenken, daß jeder von uns nicht nur für sich selbst in die Welt gesetzt ist; ... und wenn die Vaterstadt selbst ruft, ist es wohl unmöglich, nicht zu folgen.« Wiederholt bricht bei Plato die Verachtung des politischen Treibens seiner Zeit in schroffen Ausdrücken hervor – nirgends stärker als in der berühmten Episode des Theätet 172ff. –, während das über alle irdischen Interessen erhabene Forscherleben des Philosophen in seiner ganzen Herrlichkeit geschildert wird; aber [343] so warm und wahr er empfindet, was er sagt, so beweist doch gerade die Überschwänglichkeit die getäuschten Hoffnungen, die dabei mitspielen. Wenn sich die Gelegen heit bietet, politisch zu wirken, so wird er trotz alledem zugreifen. In der Tat hat Plato die Erwartung jederzeit so bestimmt wie möglich ausgesprochen, daß doch einmal der Moment kommen werde, wo seine politischen Gedanken sich verwirklichen lassen würden, und daß es gelte, alles dafür vorzubereiten. So ist er auch in seinen literarischen Arbeiten immer aufs neue zu diesen Problemen zurückgekehrt. Eben deshalb ist er der wahre Erbe des Sokrates; seine Grundidee hält er fest, wie dieser kann er von sich sagen: »ich glaube, einer von wenigen Athenern, um nicht zu sagen: der einzige, zu sein, der an die wahre politische Kunst die Hand anlegt und der allein von allen jetzt Lebenden eine politische Tätigkeit übt« (Gorg. 521 d).

Mit dem Ziel übernimmt Plato von Sokrates die Methode, den Versuch, durch Definitionen und Begriffsanalyse zur Erkenntnis des Wesens der Begriffe zu gelangen. Daß sie etwas Reales, ja das Reale sind, der absolute Maßstab aller Einzelerscheinungen und aller menschlichen Urteile, davon ist Plato ebenso fest überzeugt wie Sokrates. Aber während Sokrates immer der unermüdlich Suchende geblieben ist, der so scharf wie möglich ausspricht, daß er eine positiv formulierbare Erkenntnis des Wesens der realen Dinge nicht besitzt, glaubt Plato, nachdem er in der Art des Meisters unablässig mit den Problemen gerungen hat, über ihn hinausgekommen zu sein zur Erkenntnisselbst. Freilich ist diese Erkenntnis nur intuitiv und daher in Worten nicht aussprechbar; sie vollzieht sich unmittelbar in der Seele selbst durch Anschauen der ewigen Begriffe, der Urgestalten (Ideen) der Dinge, von denen alle Erscheinungsformen in dieser Welt nur ein unvollkommenes Abbild sind. In begeisterten Worten, wie im Taumel des Rausches oder der Verzückung einer Vision, schildert Plato im Symposion, wie aus der unablässigen Versenkung in die Erscheinungsformen des Schönen zuerst in der körperlichen, dann in der geistigen Welt urplötzlich die Erkenntnis des Schönen an sich in seiner unvergänglichen und absolut vollkommenen Gestalt, ungetrübt durch jede[344] stoffliche Beimischung, der schauenden Seele aufsteigt und sie dadurch in den Besitz der ewigen Erkenntnis gelangt. Daß Sokrates zu dieser Erkenntnis nicht gelangt ist, läßt Plato ihn selbst aussprechen: er legt die Offenbarung einer Prophetin, der Diotima von Mantinea, in den Mund. Der Schüler ist über den Meister hinausgeschritten. Und in der Tat, die Erkenntnis, die Plato verkündet und die fortan den Kern seiner Philosophie bildet, ist nicht nach der Art des Sokrates. Im Grunde waren beide Männer sehr verschiedene Naturen, und eben darum konnten sie sich vortrefflich ergänzen. Bei Sokrates herrscht der Verstand unumschränkt und duldet keine Abweichung von seinen Wegen. Plato zwingt sich, ebenso streng zu sein, ja er versucht in späterer Zeit seine logischen Untersuchungen so nüchtern und trocken zu gestalten wie nur möglich; aber das dominierende Element seines Wesens ist die Phantasie. Er war eine Dichternatur; und wenn er seine Jugendgedichte beiseite geworfen hat, als er durch Sokrates die ernsten Aufgaben des Lebens kennenlernte, so umgibt sich unter seinen Händen alles, was er sagt und schreibt, mit dem Zauber der Poesie. Darum hat auf Plato ein Kreis von Vorstellungen die tiefste Einwirkung geübt, der Sokrates ganz fern lag: die orphische Theologie mit ihrer Lehre von der Unsterblichkeit und der Seelenwanderung. Je weiter er in der Begriffsanalyse vorwärts dringt, desto mehr verschmelzen ihm diese Anschauungen mit dem Ergebnis seiner Forschung, mit der Ideenlehre. Das lebendige Prinzip, welches die Welt gestaltet und bewegt, ist ewig und unvergänglich und hat allein eine reale Existenz, im Gegensatz zu der Schattenwelt der Sinne, die den trügerischen Schein erweckt, als ob sie sei, während sie doch – darin hat Heraklit ganz recht – nichts ist als Werden und Vergehen und daher »Nichtsein«. Diese Unvergänglichkeit kommt auch der menschlichen Seele zu; denn sie ist Ursache der Bewegung und kann daher nicht vergänglich sein wie diese, sondern ist ewig, und zwar sowohl in Vergangenheit wie in Zukunft. Das ist, wenn man einmal den sinnlichen Eindruck für nichts beweisend erklärt, sondern sich allein an das innere Bewußtsein hält, die philosophisch einzig konsequente, ja überhaupt die allein vorstellbare Lösung des Problems. Daß von [345] denjenigen Religionen, welche das Unsterblichkeitsdogma verkünden, die meisten lediglich an die Zukunft denken und daß uns die Anschauung der Inder, der Orphik und Platos befremdlich erscheint, beruht lediglich darauf, daß den lebenden Menschen praktisch allein die Zukunft, nicht die Vergangenheit interessiert. Immer fester wird Plato diese Überzeugung, welche Sokrates vollständig fern gelegen hatte; sie gibt ihm zugleich die Lösung des ethischen Lebensproblems durch das ganz nach orphischer Art ausgeführte Gericht der Seelenwanderung, das unter dem Gesetz des Zwanges, der Ananke, das Schicksal der Seele bestimmt nach der Schuld, die sie auf sich geladen hat, und sie läutert durch den ewigen Wandel von einer Existenz zur anderen. Plato glaubt wenigstens die Ewigkeit der Seele streng beweisen zu können; in Wirklichkeit erhält seine Philosophie im Gegensatz zu Sokrates dadurch eine ausgesprochene theologische Grundstimmung.

Auf diese Anschauungen hat Plato seine ethisch-politische Lehre gegründet. Die menschlichen Seelen sind nicht gleichartig, sondern bilden in unendlicher Mannigfaltigkeit eine Stufenleiter von der höchsten, die in ihrer Präexistenz die wahre Welt der Ideen geschaut und ein Erinnerungsbild davon bewahrt hat und wieder zu erwecken befähigt ist, bis zu den niedrigsten, die ganz in die Bande der Sinnenwelt verstrickt sind. Zur Herrschaft berufen sind in dem wahren Staat, der ein Abbild der wahren Welt sein soll, allein die höchststehenden, das sind die philosophischen Naturen, die allein zugleich die wahren Staatsmänner sind; alle anderen müssen von ihnen beherrscht werden, sie haben diesen die Lebensstellung zuzuweisen, die ihnen zukommt. Die Ordnungen dieses besten Staats, der wahren »Aristokratie«, lassen sich mit Sicherheit erkennen, weil sie aus der Natur der Erkenntnis fließen. Daher können die Herrscher, die »Besten«, auch gar nicht anders, als ihnen folgen. Aber trotzdem und gerade deshalb sind sie völlig frei; es wäre widersinnig, sie an ein Gesetz zu binden, wo sie selbst die Einsicht und das Gesetz in sich tragen und daher kein Unrecht begehen können. Denn mit voller Überzeugung kann Plato an den sokratischen Sätzen von der Allmacht des Intellekts und von der Unmöglichkeit, wider besseres Wissen Unrecht zu tun, festhalten. [346] Im praktischen Leben erkennt er die Unterschiede der Naturanlage und Begabung ebensowohl an wie die Schwäche des Willens, welcher von unzähligen materiellen Einflüssen abhängig ist und daher es nur wenigen möglich macht, zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen; aber diese Leute kommen für seine Unterweisung überhaupt nicht in Betracht, sie sind die Diener, nicht die Herrscher. »Wer von Natur schlecht geartet ist, so wie die meisten beschaffen sind sowohl in bezug auf das Lernen wie auf die Ethik, und dann noch weiter verdorben ist, den kann auch Lynkeus nicht sehen machen« (ep. 7, 343e). Deshalb hat die praktische Staatskunst, welche so zahlreiche Lehrer dem Publikum anbieten, d.h. die Rhetorik, für ihn keine Bedeutung. Ursprünglich verwarf er sie ebenso schroff wie Sokrates; und als er dann doch, infolge seiner Lehrtätigkeit, Anlaß fand, sich mit ihr zu beschäftigen (im Phädros), kann er ihr nur eine untergeordnete Stellung zuweisen, als Überredungskunst, die, wenn sie von richtiger Philosophie geleitet ist, nicht ohne Nutzen sein wird. Daß darin Isokrates mehr leistet und höher steht als seine Rivalen, hat er unumwunden anerkannt. Er selbst aber wendet sich an die wenigen, welche befähigt sind, unter seiner Anleitung, durch seine »Geburtshilfe«, zur Erkenntnis des Wahren zu gelangen, in deren Seelen das Schauen der Idee aufleuchten kann; und für diese sind Erkenntnis und Sittlichkeit, Theorie und Praxis eins. Auf den Weg zur Erkenntnis führen wie bei Sokrates die logischen und begrifflichen Untersuchungen, unter denen allmählich die mathematischen Probleme die erste Stelle erhalten haben, weil sie sich mit den reinsten, von der Materie nicht getrübten Formen beschäftigen; die Erkenntnisselbst, das Erfassen der Idee kann der Lehrer nicht geben, sondern nur vorbereiten, sie muß in dem Schüler »hervorbrechen wie ein Licht« (ep. 7, 344b; vgl. ep. 2, 312 dff. und den Ausgang des Theätet, der bis an die Schwelle führt), wie sie in dem Lehrer durch Intuition aufgeleuchtet ist. Wenn man diesen Zusammenhang erfaßt hat, schwindet alles Befremdliche in der vollständigen Ignorierung des Willens in allen ethischen Untersuchungen Platos; der Glaube, daß durch richtige Einrichtungen und richtige Erziehung sofort nicht nur der Charakter des Staats, sondern auch [347] der seiner Bürger sich von Grund aus ändern werde, wird verständlich und ebenso die ungeheure Einseitigkeit seiner politischen Lehre, welche den Staat ausschließlich auf die Erkenntnis basiert und die Erörterung der Machtfrage, von der die äußere Existenz des Staats abhängt, ausdrücklich als nicht zur Frage nach seiner richtigen Beschaffenheit gehörig' abweist (leg. I 638 b, vgl. u. S. 359.). – Der beste Staat (vgl. u. S. 355.) hat ohne Zweifel in der unendlichen Zeit, seitdem es Menschen gibt, einmal existiert, und es ist kein Grund, weshalb er nicht wieder in die Erscheinung treten sollte, wenn auch nur durch eine gewaltsame Revolution – alle Bürger über zehn Jahre, meint Plato (rep. 540e), müßten aus der Stadt aufs Land geschickt, d.h. aus Vollbürgern zu politisch unfreien Bauern degradiert, und ihre Kinder für die neue Ordnung erzogen werden, dann werde das volle Glück schnell und leicht sich einstellen. Aber der Staat ist wie alles menschliche Dasein getrübt durch die Beimischung der sinnlichen Dinge und daher vergänglich. So entwickeln sich aus ihm die entarteten Staaten der Gegenwart in all ihren Abstufungen, der spartanische Staat, der die Ehre anstelle der Erkenntnis setzt, die Oligarchie, die Demokratie, die Tyrannis. Ihr Wesen hat Plato bereits in der Politik in scharfen Strichen gezeichnet. Für eine schöpferische Tätigkeit des wahren Philosophen ist in ihnen nach seiner ursprünglichen Überzeugung um so weniger Raum, je tiefer der Staat steht, in dem er lebt; von jeder Befleckung mit der herrschenden sittlichen Korruption wird er sich frei halten, und wo er etwa durch seine Lebensstellung zur Teilnahme an der Regierung gezwungen ist, wird er versuchen, sich möglichst an die Forderungen des Ideals zu halten. Die Frage, ob nicht doch auch in diesen Staaten der philosophische Staatsmann eine gedeihliche Wirksamkeit ausüben und sie auf eine höhere Stufe heben kann, ist dann Plato in seiner Lehrtätigkeit nähergetreten; literarisch behandelt hat er sie erst, als im Jahre 367 der Ruf zu einer schöpferischen Wirksamkeit, den er so lange ersehnt hatte, wirklich an ihn erging und er erkennen mußte, daß das höchste Ideal, die Herrschaft des »Wissenden«, des »wahren Monarchen, der im Besitz von Tugend und Wissen allen zuteilt, was ihnen zukommt und jederzeit von uns mißhandeln und [348] schädigen kann, wen er will«, weil er ebenso gut über dem Gesetz steht wie der wahre Steuermann und der wahre Arzt über den äußeren Regeln seiner Kunst, daß dieser Idealstaat (das Ideal des aufgeklärten Despotismus) in Praxis unausführbar ist, weil die Menschen sich in ihrer Verblendung ihm nie fügen werden (nicht etwa, weil es derartige Idealmenschen nicht geben kann – dieser Gedanke liegt Plato völlig fern). So bleiben nur die korrekten Nachahmungen601 des besten Staats, die nicht mehr auf dem Wissen, sondern auf dem richtigen Meinen beruhen und die daher an Gesetze gebunden sind: das Königtum (wir würden sagen: die konstitutionelle Monarchie), die Aristokratie und die gesetzmäßige Demokratie. Wie diese Gedanken entscheidend in die Geschicke von Hellas eingegriffen haben, wird später darzustellen sein. Das Scheitern des Reformversuchs hat Plato nicht gehindert, noch im höchsten Alter die Hand an einen neuen breit ausgeführten Verfassungsentwurf zu legen, der, nachdem die Undurchführbarkeit des ursprünglichen Ideals erkannt war – »dies sei nur für Götter oder Götterkinder«, meint er jetzt (leg. V 739d) –, den realen Verhältnissen und darum auch den Einflüssen der historischen Entwicklung, für deren Bedeutung er jetzt Verständnis gewonnen hat, so viel Rechnung tragen sollte, wie das Prinzip es nur irgend zuließ.

Wenn Sokrates den Schriften der alten Philosophen für seine Ziele wenig entnehmen konnte, so hat Plato von jedem zu lernen gesucht, der ihm etwas bot, und, auch darin von seinem Lehrer sehr abweichend, durch große Reisen seine Kenntnis der Menschen und ihrer Institutionen und Ansichten erweitert. Die nächsten Jahre nach Sokrates' Tod hat er ohne Zweifel in Athen zugebracht; in diese Zeit fallen seine zahlreichen kleineren Schriften, in denen er mit unübertroffener Kunst das Bild des Lehrers gezeichnet und [349] in Anknüpfung an seine Lehre die grundlegenden Probleme weniger zu lösen als richtig zu fassen gesucht hat602. Dann ist er nach Ägypten, dessen geschlossene Kultur mit ihren festgefügten hieratischen Ordnungen ihm einen gewaltigen Eindruck machte, und um 388 (ep. 7, 324a) nach Unteritalien und Sizilien gegangen (u. S. 488f.). Schon vor Sokrates hatte er den Herakliteer Kratylos gehört; von weit größerer Bedeutung aber ist es gewesen, daß er jetzt, vor allem durch Archytas von Tarent (o. 8. 161), die Lehren und Schriften der Pythagoreer und außerdem die eleatische Philosophie kennenlernte. Der Pythagoreismus bestärkte ihn in seinen orphischen Anschauungen und lehrte ihn die fundamentale Bedeutung der Mathematik für die Erziehung des Denkens und Anschauens kennen; in den Lehren der Eleaten aber fand er die unentbehrliche Ergänzung zu der sokratischen Untersuchung der Begriffe. Je länger er forschte, desto mehr hat er die Bedeutung ihrer Lehrsätze erkannt: Plato, und nicht Euklides und die Eristiker, ist der wahre Erbe des Parmenides so gut wie des Sokrates, und seine Bedeutung für den Fortschritt der Wissenschaft beruht vor allem darin, daß er beide miteinander verband und so der eigentliche Begründer der wissenschaftlichen Logik und Erkenntnistheorie geworden ist. Ferner steht Plato der Naturwissenschaft; aber prinzipiell ablehnend hat er sich gegen kein Wissensgebiet verhalten, wenn es wahrhafte Erkenntnis oder wenigstens annehmbare Ansichten bot und nicht nur trügerischen Schein. Wie Solon kann er von sich sagen, daß er bis ins höchste Alter ununterbrochen gelernt habe; ja je älter er wird, desto freier ist er allen wissenschaftlichen Richtungen gegenüber geworden, und wenn er in der Naturwissenschaft nicht selbsttätig mitarbeiten konnte wie in der Mathematik, so hat er sich doch auch hier bemüht, sich anzueignen und zu einem einheitlichen Weltbilde zusammenzufassen, was die anderen erforscht hatten (o. S. 334). [350] Je weiter er vorwärts schreitet, desto lebendiger wird ihm das Gesamtbild der einen in stetigem Erkennen fortschreitenden und ihrem Ideal sich mehr und mehr annähernden Wissenschaft. – Jünger wird Plato schon bald nach Sokrates' Tode603 um sich gesammelt haben; die Schule in dem von Kimon angelegten Park beim Gymnasium des Heros Akademos und später in einem Gartengrundstück in dessen Nähe hat er vermutlich alsbald nach seiner Rückkehr aus Sizilien eröffnet. Fortan ist für ihn die Lehrtätigkeit sein eigentlicher Beruf. Denn nur durch eine Diskussion, wie sie Sokrates geübt hatte, in ununterbrochenem Fragen und Antworten, läßt sich eine wahrhafte Erziehung ausüben; von dem geschriebenen Worte, das man nicht zur Rede stellen kann und bei dem sich daher nie ermitteln läßt, ob der Leser es richtig verstanden hat, hält Plato, der unübertroffene Meister schriftlicher Darlegung, sehr wenig und von dem abgerundeten Lehrvortrag auch nicht, in scharfem Gegensatz zu allen Rhetoren und Sophisten. Trotzdem hat Plato wieder und wieder zur Feder gegriffen, vor allem um sich selbst zur Klarheit durchzuarbeiten, daneben um seine Lehren gegen andere zu verteidigen und für sich Jünger zu werben. »Es gibt keine Schrift Platos und wird keine geben«, schreibt er an Dionys (ep. 2, 314c); »was dafür gilt, stammt von Sokrates, der wieder jung und schön geworden ist.« Das ist eine scherzhafte Formulierung; und in seinen späteren Schriften (Parmenides, Sophistes, Politikos, Timäos, Kritias) tritt Sokrates überhaupt nicht mehr als Lehrer auf, sondern wird belehrt, da die hier vorgetragenen Untersuchungen seinen Gedanken ganz fern lagen. Aber was Plato ausdrücken will, ist vollkommen zutreffend; seine zahlreichen Schriften sind fast alle nur entweder propädeutischer Art, indem sie dem Leser das Problem verständlich machen und ihn zu weiterer Untersuchung anlocken sollen, oder, namentlich die Schriften aus späterer Zeit, logische und ethische Einzeluntersuchungen, in denen er sich mit den entgegenstehenden [351] Ansichten der Vorgänger und auch der Zeitgenossen auseinandersetzt. In das innerste Heiligtum seiner Gedanken führen nur Andeutungen, namentlich in der Politik. Abgesehen von dieser und von den logischen Untersuchungen und den Schriften, welche die Außenwerke seiner Lehre behandeln, über die es ein Wissen nicht gibt, sondern höchstens ein richtiges Meinen (z.B. Timäos über das Weltbild), enden sie fast alle mit der richtigen Formulierung der Frage, nicht mit der Antwort: »nur so viel vermag meine geburtshilfliche Kunst zu leisten und mehr nichts«, schließt noch der Theätet; »und ich weiß nichts von dem, was all die anderen großen und wunderbaren Männer wissen«. Das trifft das Wesen der platonischen Philosophie; denn »das, was mir die Hauptsache ist, läßt sich überhaupt nicht aussprechen wie ein anderer Wissenssatz, sondern nachdem man lange Zeit im Zusammenleben miteinander die Gedan ken darauf gerichtet hat, entsteht es plötzlich wie ein Licht, das sich aus einem Funken entzündet, in der Seele des Schülers und nährt sich dann aus sich selbst. Wenn ich glaubte, daß man darüber etwas Ausreichendes und der Menge Verständliches schreiben könnte, was hätte ich Schöneres in meinem Leben tun können? ... Aber ich glaube, daß der Versuch, etwas darüber zu schreiben, den Menschen nicht einmal gut ist, außer einigen wenigen, die es auffinden können, wenn man mit wenigen Worten darauf hinweist; von den übrigen aber würde es die einen mit unschicklicher Verachtung erfüllen, die anderen mit hoher und eitler Hoffnung, als hätten sie etwas Brauchbares gelernt« (ep. 7, 341d, vgl. 2, 314b). So hat sich Plato immer mit Andeutungen begnügt; der Kern seiner Lehre, die Erkenntnis der Ideen, ist eben durchaus intuitiv604.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 330-352.
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