Fichte [1]

[698] Fichte, Joh. Gottlieb, geb. 1762 zu Rammenau in der Oberlausitz, studierte seit 1780 in Jena Theologie, doch eifriger Philosophie, und konnte wegen seiner religiösen Denkweise 1787 keine Landpredigerstelle in Sachsen erhalten. Nachdem er in Zürich, Leipzig und Warschau gelebt, überreichte er in Königsberg seine »Kritik aller Offenbarung« 1791 an Kant, der sich aber engherzig gegen ihn benahm. F. hatte die Schrift in 8 Tagen geschrieben, sie machte großes Aufsehen. Zogen die anonymen »Beiträge zur Berichtigung der Ansichten über die franz. Revolution« das Mißfallen der Regierungen auf sich, so gewann er durch andere Schriften Ruhm u. 1794 die Professur der Philosophie in dem damals sehr besuchten Jena. Ein von ihm eingeleiteter Aufsatz im »philosoph. Journal« mit offenbar antichristl. Tendenz und noch mehr sein Trotz gegen die weimarʼsche Regierung brachten ihn 1798 um seine Stelle. F. wirkte nun in Berlin eifrig für Gründung der Hochschule, hielt trotz der Anwesenheit der Franzosen seine »Reden an die deutsche Nation«, wurde Professor, 1810 Rector der Berliner Universität und st. 1814 mitten im Wirken für eine Wiedergeburt Deutschlands in seinem Sinne. – Die Philosophie war ihm Wissenschaftslehre, diese aber die Wissenschaft, welche die Möglichkeit u. Giltigkeit alles Wissens sowie die Möglichkeit von Grundsätzen, diese selbst und dadurch den Zusammenhang alles Wissens nachweist. Von Kant ausgehend schuf er eine Ichphilosophie, die nach Jakobis Urtheil auf einen umgekehrten, idealistischen Spinozismus hinauslief. Das Ich ist ihm die einzige Substanz, ist Alles in Allem, die Welt nichts Selbstständiges, sondern nur der Wiederschein der eigenen Thätigkeit des denkenden Ich. Als [698] unmittelbare Thatsachen des Bewußtseins nimmt er an: 1) das Ich setzt sich selbst (absolutes Ich, Thesis); 2) das Ich setzt das Nicht-Ich (Welt, Antithesis), u. 3) das Ich setzt sich selbst als bestimmt od. beschränkt durch das Nicht-Ich (empirisches Ich, die einzelnen Dinge, Synthesis). Daß ein persönlicher Gott in diesem pantheistischen Systeme keinen Platz findet, bliebe einleuchtend, wenn F. in seiner »Religion des freudigen Rechtthuns« u.s.f. Gott auch nicht ausdrücklich als die »moralische Weltordnung« aufgefaßt hätte. Wie bei Kant geht bei F. die Religion ganz in einer Moral auf, deren wenigsagender Hauptgrundsatz heißt »handle nach deinem Gewissen!« – Der Satz: das Ich setzt das Nicht-Ich als beschränkt durch das Ich (handelndes Ich), soll den praktischen Theil der Wissenschaftslehre begründen. In der Moral wie in der Rechtsphilosophie entscheidet das Ich Alles; die Rechtslehre setzt einen rousseauischen »Staatsbürgervertrag« voraus und die Hauptaufgabe der Politik ist, das Bestehende dem Vernunftstaat gemäß einzurichten. Zumeist äußere Verhältnisse und Schellings Naturphilosophie bewirkten, daß F. in Berlin seinen Pantheismus hinter mystischen u. bildlichen Ausdrücken versteckte, sich dem Neuplatonismus näherte und sogar behauptete, seine Philosophie stimme vollkommen mit dem Evangelium Johannis überein. Er schrieb populärer als früher, namentlich eine »Anweisung zum seligen Leben«, dann »Die Bestimmung des Menschen« (neue Aufl. Berlin 1838) u.s.f. – Sein Sohn Imman. Hermann gab F.s »Nachgelassene Werke« (Bonn 1834–35, 3 Bde.) u. »Sämmtliche Werke« (Berlin 1845–46, 8 Bde.) heraus.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 2, S. 698-699.
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