Form

[203] Form (lat. forma, gr. eidos) oder Gestalt ist das Gegenteil und Korrelat von Stoff und bedeutet im allgemeinen die Gesamtheit der bestimmten Verhältnisse, in welchen ein Objekt erscheint. Am deutlichsten tritt die Form uns in Zahl, Raum und Zeit entgegen. Der Gegensatz von Stoff und Form beschäftigte die Philosophie zu allen Zeiten. Die ältesten griechischen Naturphilosophen, die Hylozoisten, trennten Stoff und Form noch nicht, erfaßten aber das Dasein wesentlich von der stofflichen Seite (Wasser, Luft), Herakleitos von Ephesos (um 500 vor Chr.) erfaßte im Gegensatz zum Stoff (Feuer) zuerst die beständige Formveränderung der Welt, die Pythagoreer reduzierten das Dasein auf die Form der Zahl; Empedokles (um 490-430) und Anaxagoras (500-428) stellten Stoff und formende Kräfte in Gegensatz zueinander, während[203] die Eleaten in einseitiger Metaphysik, abseits von den übrigen Philosophen, sich nur mit dem logischen Begriff des Seins beschäftigten. Die Verbindung der Lehre der Eleaten mit der des Herakleitos, die von Sokrates angeregte Abstraktion der Begriffe aus den Einzelvorstellungen, die ästhetische Wertschätzung der künstlerischen Form, welche dem Marmor erst Leben verleiht, die personifizierende Richtung unserer Phantasie und die mythologische Tradition von einem erst durch den Demiurgen geformten Chaos führten Platon (427-347) zu seiner Ideenlehre (s. d.), welche die Formen als hoch über dem Stoffe schwebende, selbstgenugsame Urbilder aller Vollkommenheit ansah. Da, mit ihnen verglichen, die wirklichen Dinge mangelhaft erschienen, so gewannen dadurch die Formen an Wert. Auch Aristoteles (384-322), obgleich er die Ideen nicht als vor und neben den Dingen existierend dachte, legte ihnen doch alles Wesen, alles wahrhafte Sein an den Dingen bei. Die Materie ist, sofern sie nicht geformt ist, überhaupt nichts Wirkliches, sondern nur Möglichkeit. Die Formen sind das Wesentliche, der Stoff nur die Anlage. Aristoteles setzt zwar vier Prinzipien an: Stoff, Bewegung, Wirklichkeit, Zweck, aber er reduziert dieselben auch, namentlich, wo es sich um die organische Welt handelt, auf die zwei Prinzipien Stoff und Form, die also das Dasein ausmachen, und zwar so, daß die Form das höhere Prinzip ist. Wie Platon und Aristoteles den Wert der Form überschätzten, so verfuhr auch die rationalistische und idealistische Philosophie der Neuzeit; sie hat vielfach eine einseitige Auffassung in der Naturphilosophie, Metaphysik, Logik, Ethik und Ästhetik geschaffen, die wir mit dem Namen Formaliamus (s. d.) charakterisieren, während der Empirismus und Realismus und namentlich der Materialismus der Neuzeit die Überschätzung des Wertes des Stoffes herbeigeführt hat. Auch Kant (1724-1804), der nach einem Ausgleich zwischen beiden Bewertungen strebte, hielt sich von der Überschätzung der Form. nicht frei; die Sinnlichkeit, meinte er, gebe uns in der Empfindung einen ungeordneten Stoff, den erst die Anschauung durch die Raum- und Zeitform und der Verstand mit seinen Kategorien zu ordnen habe; ja selbst in die Natur bringe der Verstand erst Ordnung hinein. Kants Ethik und Ästhetik waren ganz formalistisch. Bei Hegel (1770-1831) wurde das Spiel der logischen Formen sogar zum Selbstentwicklungsprozeß des Absoluten. Aber gerade dieser Paniogismus trug zur Untersuchung[204] des Verhältnisses von Form und Stoff bei; auf die einseitige Überschätzung der Form durch Hegel folgte die einseitige Unterschätzung derselben durch die Naturwissenschaft. Am richtigsten betrachtet man beide, als denknotwendige Wechselbegriffe, welche nicht ohne einander sein oder gedacht werden können und welche mit anderen die Grundlage unserer Erkenntnis bilden. Vgl. Materie. Ostwald, Vorlesungen über Naturphilosophie. 1902. 3. Aufl. 1905.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 203-205.
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