Diätētik

[873] Diätētik (griech.), in weiterm Sinne die Lehre vom gesundheitsgemäßen Leben, dann die Lehre von der zweckmäßigen Ernährung des Menschen, insbes. des kranken Menschen, vielfach auch als Ernährungstherapie bezeichnet. Die Diät, d. h. die Nahrungsmittelzufuhr nach Qualität und Quantität, hängt von dem jeweiligen Bedürfnis des Organismus ab, das beeinflußt wird durch Beschaffenheit von Körper und Geist, Alter, Klima, Jahreszeit, Arbeit und Ruhe. Jedoch lassen sich für bestimmte Umstände Mittelwerte aufstellen, denen die Verbrennungswerte der einzelnen Nahrungsmittel in Kalorien oder Wärmeeinheiten (vgl. Nahrungsmittel) als Maßeinheit zu Grunde gelegt werden. Jeder Organismus bedarf einer Nahrungszufuhr von ganz bestimmtem Kalorienwert, die genau der Größe des Stoffverbrauchs entspricht, um seinen Stoffbestand zu erhalten. Bei dieser Erhaltungsdiät können sich die einzelnen Nährstoffe bis zu einem gewissen Grade nach ihrem Verbrennungswerte vertreten, jedoch muß ein bestimmter Teil eiweißhaltiger Nahrung unter allen Umständen eingeführt werden, wenn der Körper nicht seinen eignen Zellenbestand angreifen soll. Die normale Erhaltungsdiät ist eine gemischte Kost, bei der etwa 19 Proz. der notwendigen Kalorien durch Eiweiß, 30 Proz. durch Fette und 51 Proz. – durch Kohlehydrate gedeckt werden sollen. Eine Überernährung (Mastdiät) kommt vor allem bei schwer Nervösen und chronischen Lungenkranken zur Anwendung, indem mehr als die zur Erhaltung notwendigen Wärmeeinheiten in den Nahrungsstoffen zugeführt werden. Es kommt dabei darauf an, durch systematische Steigerung der Größe und der Zahl der Mahlzeiten auch das Nahrungsbedürfnis der Patienten zu vermehren (Weir-Mitchell-Playfairsche Kur). Normalerweise wird das Erhaltungskostmaß überschritten bei Kindern, bei denen über den jeweiligen Stoffverbrauch hinaus das Material für die weitere Körperentwickelung beschafft werden muß.

Eine Unterernährung (Entziehungsdiät) wird z. B. gegen übermäßigen Fettansatz verordnet. Den verschiedenen Methoden ist gemeinsam, daß sie weniger als die notwendigen an Wärmeeinheiten zuführen; dabei entzieht die eine Fett und Kohlehydrate, die andre nur die Kohlehydrate (Bantingsche, Ebsteinsche Kur). Auch auf die Einschränkung der Flüssigkeitsaufnahme wird Gewicht gelegt (Örtels und Lahmanns Verfahren), namentlich bei Erkrankungen der Zirkulationsorgane. In drastischer Form kam die Flüssigkeitsentziehung bei der einseitigen und laienhaften Schrothschen Durstkur in Anwendung; forcierte Getränkeentziehung wird auch von mancher Seite bei der Bekämpfung der Gefäßerweiterungen (Aortenaneurysmen) empfohlen. In vielen Fällen, z. B. bei Gicht, ist es nicht erforderlich, eine direkte Unterernährung einzuleiten, sondern nur eine gewohnheitsgemäße Überernährung einzuschränken. Es ist bei der Unterernährung viel Gewicht auf die Zufuhr sogen. Füllgerichte, d. h. an Nährwert armer, aber den Appetit stillender Speisen, zu legen. Eine einseitige Entziehungsdiät, nämlich eine solche der Kohlehydrate, bei der aber eine Unterernährung möglichst vermieden werden muß, ist das zweckmäßigste Heilverfahren gegen Zuckerharnruhr. Die Diät fieberhafter Krankheiten hat bei möglichst reichlicher Ernährung Magen und Darm möglichst zu schonen, da einerseits das Fieber einen stark gesteigerten Gewebezerfall mit sich bringt, anderseits infolge mangelhafter Absonderung der verdauenden Sekrete (Speichel, Magensaft, Galle) die Verdauung erschwert und die aufsaugende Tätigkeit des Darmes beeinträchtigt wird. Der mangelnde Appetit zwingt dabei zur Nahrungszufuhr in möglichst konzentrierter Beschaffenheit und in häufigen kleinen Portionen. Bei chronisch-fieberhaften Krankheiten ist eine roborierende D. einzuhalten, wobei eine möglichst reichliche und abwechselungsreiche Ernährung mit leicht verdaulichen Stoffen (Milch, Eier, Fleisch, Butter, Lebertran), oft mit einem gewissen Zwang seitens des Arztes angestrebt werden muß; diese D. ist in der Rekonvaleszenz bis zur Überernährung (Mastkur) zu steigern. Bei Krankheiten, bei denen, wie beim Typhus, der Darm direkt beteiligt ist, ist auf die flüssige Beschaffenheit und sorgfältige Verteilung der Nahrung besonderes Gewicht zu legen, dasselbe gilt von anderweitigen geschwürigen Prozessen (Magengeschwür). Dabei ist aber vor einer gedankenlosen Bevorzugung der modernen Eiweißpräparate (Peptone, Tropon, Somatose etc.) zu warnen, denn gewöhnlich kommt es vielmehr auf die Zufuhr von Kohlehydraten und Fetten an, während Eiweiß in der aufgenommenen Nahrung zur Genüge enthalten ist. Besonders wichtig ist sowohl Form als Qualität der Ernährung auch bei andern Magen- und Darmerkrankungen. Bei manchen derselben muß man Kohlehydrate, bei andern Eiweiß bevorzugen, bei den einen muß die Form konzentriert und reizlos, bei wieder andern im Gegenteil voluminös und die Darmbewegung anregend sein. Häufig hat man mit gewissen Vorlieben oder Widerwillen gegenüber bestimmten Speisen seitens der Kranken zu rechnen und darf solche keineswegs vernachlässigen. Wichtig bei allen Diätformen ist: Regelung der Lebensweise nach der Uhr, langsames Essen in zusagender Gesellschaft, gutes Kauen der richtig erwärmten Speisen, sorgfältige Reinhaltung der Mundhöhle (besonders bei Schwerkranken und Fiebernden wichtig). Schließlich seien noch gewisse Diätkuren erwähnt, in denen man ein bestimmtes Nahrungsmittel vorzugsweise zuführt. Hierher gehören die Milchkuren, die Molkenkuren, die Traubenkuren, Obstkuren, Zitronenkuren. Manchen derselben ist ein gewisser Nutzen nicht abzusprechen, andre spielen im Pfuschertum eine Rolle. Vgl. Munk und Uffelmann, Die Ernährung des gesunden und kranken Menschen (ö. Aufl. von Ewald, Wien 1895); v. Leyden, Handbuch der Ernährungstherapie und D. (mit Biedert, Boas, Dettweiler u. a., 2. Aufl., Leipz. 1903); Moritz, Grundzüge der Krankenernährung (Stuttg. 1898); Kolisch, Lehrbuch der diätetischen Therapie chronischer Krankheiten (Wien 1899); F. Hirschfeld, Nahrungsmittel und Ernährung der Gesunden und Kranken (Berl. 1900); Förster, Warum und was essen wir? (Straßb. 1901); Lahmann, Die diätetische Blutentmischung (11. Aufl., Leipz. 1901).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 873.
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