Geruch

[666] Geruch (Olfactus) ist das Vermögen, Gerüche wahrzunehmen. Der G. bildet mit dem ihm nahe verwandten Geschmack die zwei niedern oder chemischen Sinne. Der Vorgang beim Riechen besteht darin, daß die Endorgane des Geruchsnervs (nervus olfactorius) durch die Berührung mit gewissen flüchtigen oder gasförmigen Stoffen, die mit dem Einatmungsstrom in die Nasenhöhle gelangen, in Erregung versetzt werden. Indem diese Erregung durch den Geruchsnerv auf das Zentralorgan des Geruchssinnes im Gehirn übertragen wird, entsteht in uns eine Geruchsempfindung, deren Quelle wir stets unwillkürlich nach außen verlegen. Als das Organ des Geruchssinnes wird gewöhnlich die Nase bezeichnet; genau genommen jedoch ist es nur ein sehr kleiner Teil der Nasenschleimhaut, der beim Riechen unmittelbar in Frage kommt, die mit dem sogen. Riechepithel ausgestattete Riechgegend, Geruchsschleimhaut. Alle Wirbeltiere besitzen Geruchsorgane und also wahrscheinlich auch einen mehr oder weniger entwickelten Geruchssinn. Beständig im Wasser lebende Tiere können natürlich keine Geruchsempfindungen haben, die denen der Lufttiere vollkommen entsprechen; sie werden mehr den Geschmacksempfindungen analog sein, wie überhaupt die Eindrücke beider Sinne manches Gemeinsame haben. Übrigens ist auch bei den Fischen das Geruchsorgan deutlich ausgebildet. Hühner und sperlingsartige Vögel sollen einen stumpfern Geruchssinn besitzen als die Klettervögel, besonders die Papageien, die Raub- und Schwimmvögel, am schärfsten sei der Geruchssinn der Sumpfvögel. Bei den Säugetieren ist das Geruchsorgan weit entwickelter als beim Menschen; so äußern auch viele von ihnen Zeichen einer ungemein hohen Ausbildung dieses Sinnes. Man unterscheidet die Säugetiere hinsichtlich des Geruchssinnes in solche, die spüren, und solche, die wittern. Beim Spüren wird die Luft willkürlich eingezogen, und es geschieht mehr in der Nähe; das Wittern wird mehr durch Einströmen der vom Winde getriebenen Luft in die Nasenlöcher erregt und wirkt mehr in die Ferne. Spürende Tiere sind besonders die Raub- und Nagetiere. Zu den wittern den gehören die Wiederkäuer, Dickhäuter und Einhufer.

Die Geruchsempfindungen besitzen keine so wohlgeordnete, stetig abgestufte Mannigfaltigkeit wie die der höhern Sinne, sondern eine ordnungslose Vielheit von Qualitäten, die sich deshalb größtenteils nicht scharf unterscheiden und begrifflich fixieren lassen. Wir unterscheiden sie demgemäß nur nach den einzelnen Stoffen, durch die sie hervorgerufen werden, und pflegen sie auch nach diesen Stoffen zu bezeichnen (z. B. teerartiger, fauliger etc. G.). Eine Reihe von Empfindungen, die durch die Nasenschleimhaut vermittelt werden, und die man gewöhnlich für Geruchsempfindungen ausgibt, z. B. der scharfe und stechende G. des Chlors, der Essigsäure etc., sind nichts andres als Gemeingefühls- oder auch Tastempfindungen, die mit der spezifischen Energie des Riechnervs nichts zu schaffen haben. Grundbedingung für die Geruchsempfindung ist natürlich ein vollkommen normales Verhalten der Endorgane des Riechnervs. Schon leichte katarrhalische Entzündungen der Nasenschleimhaut (Schnupfen) stören die Geruchsempfindung ganz erheblich. Wenn man, auf dem Rücken liegend, die Nasenhöhlen mit Wasser gefüllt hat, so wird dadurch das Geruchsvermögen vollständig aufgehoben. Ein gewisser Grad von Feuchtigkeit der Riechschleimhaut (er wird hervorgebracht durch die Absonderung der Schleimdrüsen) ist dagegen eine notwendige Vorbedingung für das Zustandekommen von Geruchsempfindungen. Bei trockner Nase, z. B. im Beginn des Schnupfens, riechen wir entweder gar nichts, oder der G. ist wenigstens stark beeinträchtigt. Geruchsempfindungen kommen ferner nur dann zustande, wenn die riechenden gasartigen Stoffe in einem Luftstrom mehr oder weniger rasch in die Nase eingezogen werden. Stagniert dagegen die riechende Luft in der Nasenhöhle, so haben wir keine Geruchsempfindungen; sehr schwach ist die Geruchsempfindung dann, wenn der Luftstrom von der Mundhöhle her in die Nasenhöhle streicht. Daß nur gasförmige Substanzen den Riechnerv zu erregen vermögen, beweist der Umstand, daß bei der Anfüllung der Nasenhöhle mit stark riechenden Flüssigkeiten, z. B. Eau de Cologne, keine Geruchsempfindungen wahrgenommen werden. Doch sind die bisher vorliegenden Versuche dieser Art sicher nicht ganz einwandfrei. Manchen Menschen fehlen bestimmte Geruchsempfindungen, z. B. die der Veilchen, der Vanille, während sie andre besitzen. Die vollständige Unfähigkeit zu riechen nennt man Anosmie (s. Geruchlosigkeit). Je mehr die in die Nase eingezogene Luft von einem gewissen Riechstoff enthält, um so stärker ist im allgemeinen die Empfindung davon; doch genügen außerordentlich geringe Mengen mancher Stoffe zur Hervorbringung einer Geruchsempfindung. So genügen von Brom 1/600 mg, von Schwefelwasserstoff weniger als 1/5000, von Moschus weniger als 1/2000000, von Chlorphenol 1/4600000, von Merkaptan 1/460000000, mg zur Erzeugung einer Geruchsempfindung. Berthelot berechnete für Jodoform 1/100000000000000 g, und Moschus soll noch tausendmal leichter wahrnehmbar sein. Zur genauern Prüfung der Leistungsfähigkeit des Geruches dient das Olfaktometer von Zwaardemaker. Geradezu wunderbar erscheint die Feinheit des Geruchssinnes in den Leistungen der Spürkraft mancher Tiere. Die Wahrnehmung schwacher Gerüche kann durch Schnüffeln erleichtert werden, wodurch eine oft wiederholte Berührung der geruchsempfindlichen Schleimhautpartien mit dem Riechstoff herbeigeführt wird. Mit der längern Dauer des Geruchseindruckes ermüdet die Riechschleimhaut nach und nach. Wenn wir uns einige Zeit in einer riechenden Luft, in einem engen, schlecht ventilierten Raum aufhalten, so verschwindet endlich die Geruchswahrnehmung für den beständigen G., ohne daß dadurch die Fähigkeit für die Wahrnehmung andrer Gerüche abnimmt. Für die Erkenntnis der Außenwelt haben die Geruchsempfindungen beim zivilisierten Menschen nur geringe Bedeutung. Dagegen stehen sie in inniger Beziehung zur Selbsterhaltung, wie die sie begleitenden sehr lebhaften Luft- und Unlustgefühle beweisen. Die Bezeichnung der Gerüche als angenehm oder unangenehm,[666] die übrigens rein individuell und willkürlich ist, beruht zum Teil auf Vorstellungen, die sich an die Geruchsempfindung anschließen. Diese Vorstellungen wechseln schon mit den physiologischen Körperzuständen. Dem Hungrigen z. B. duftet eine Speise äußerst angenehm in die Nase, während bei dem Gesättigten dadurch Widerwille erregt wird. Bei krankhaften Zuständen der Geruchsnerven, aber auch in der Aura epileptischer Anfälle, bei Psychosen, bei Gehirngeschwülsten treten subjektive Geruchsempfindungen auf. Der konstante elektrische Strom erzeugt sowohl bei Schließung wie bei Öffnung eine Geruchsempfindung. Befindet sich die Kathode in der Nase, so entsteht die Empfindung nur bei Schließung, ist dagegen die Anode in dec Nase, nur bei Öffnung der Kette. Vgl. Cloquet, Osphresiologie oder Lehre von den Gerüchen, von dem Geruchssinn etc. (Weim. 1824); Bernstein, Die fünf Sinne (2. Aufl., Leipz. 1889); v. Vintschgau, Physiologie des Geruchssinns (in Hermanns »Handbuch der Physiologie«, das. 1880); Hack, Riechen und Geruchsorgan (Wiesbad. 1885); Nagel, Vergleichend physiologische und anatomische Untersuchungen über den Geruchs- und Geschmackssinn (Stuttg. 1894); Zwaardemaker, Die Physiologie des Geruchs (Leipz. 1895).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 666-667.
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