Psychiatrīe

[423] Psychiatrīe (griech., Seelenheilkunde, Irrenheilkunde, Psychopathologie, Lehre von den Geisteskrankheiten), ein Teil der Medizin, der sich mit der Erkennung und Behandlung der Geistes- und Gemütskrankheiten beschäftigt. Da das Gehirn das materielle Substrat der Seele ist, haben die Geisteskrankheiten ihren Sitz im Gehirn und sind abhängig von Störungen in dessen Tätigkeit. Da aber nicht alle Gehirnkrankheiten zugleich Geisteskrankheiten sind (das Gehirn hat neben den rein geistigen Funktionen noch andre), so ist die P. im strengern Sinne des Wortes nur ein Teil der Gehirnpathologie und zwar derjenigen Regionen, die als der Sitz der höhern Seelentätigkeit angesehen werden. Die große Mannigfaltigkeit der Seelenkrankheiten verleiht der P. ein selbständiges Interesse, und gewisse praktische Seiten, die mit der P. in Verbindung stehen (das Irrenanstaltswesen, das Verhältnis zur gerichtlichen Medizin etc.), haben der P. frühzeitig den Charakter einer Spezialwissenschaft verschafft. Die Fortschritte der Pathologie stehen in genauestem Zusammenhang mit dem Grad und dem Fortschreiten der anatomisch-physiologischen Erkenntnis der von Krankheiten ergriffenen Körperteile, und auch für die Erkenntnis unsers normalen und krankhaften Seelenlebens hat die Pathologie im Verein mit der normalen Anatomie und physiologischen Psychologie enorm viel geleistet. Es hat lange gedauert, bis sich die P. freimachte von Aber- und Hexenglauben, von religiösen und moralisierenden Anschauungen. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrh. sahen die Psychiker (Heinroth) in der Geisteskrankheit eine Schuld; anderseits lehrten die Somatiker (Jacobi, Combe u. a.), daß es selbständige geistige Krankheitsformen nicht gebe, und daß diese nur Symptome einer körperlichen Erkrankung seien. Die Auswüchse dieser somatischen Richtung (»zurückgetretene Krätze«, »Milchversetzung« etc.) muten heute lächerlich an. Seit Esquirol (etwa 1845) begann ein Aufschwung der P. Man sah allmählich ein, daß Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten sind (vgl. oben), Systeme der Psychosen aufzustellen und nach der Symptomatologie, Ätiologie und pathologischen Anatomie zu klassifizieren. In Deutschland knüpft sich die moderne P. an den Namen Griesingers, in Frankreich an Morel; um den weitern Ausbau haben sich Männer wie Westphal, Snell, Sammt, Meynert, L. Mayer, Kahlbaum, v. Gudden u. a. Verdienste erworben. An allen deutschen Hochschulen sind ordentliche und außerordentliche Lehrstühle für P. begründet. In Erwägung der praktischen, sozialen und forensischen Tragweite ist die P. gemäß der neuen Prüfungsordnung als Examensfach in das medizinische Staatsexamen aufgenommen worden. Weiteres s. Geisteskrankheiten.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 423.
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