Fantasiren; Fantasie

[368] Fantasiren; Fantasie. (Musik)

Wenn ein Tonkünstler ein Stük, so wie er es allmählig in Gedanken setzet, so fort auf einem Instrumente spielt; oder wenn er nicht ein schon vorhandenes Stük spielt, sondern eines, das er währendem Spielen erfindet, so sagt man, er fantasire. Also gehört zum Fantasiren eine große Fertigkeit im Satz, besonders, wenn man auf Orgeln, Clavieren oder Harffen vielstimmig fantasirt. Die auf diese Weise gespielten Stüke werden Fantasien genennt, was für einen Charakter sie sonst an sich haben. Ofte fantasirt man ohne Melodie blos der Harmonie und Modulation halber; oft aber fantasirt man so, daß das Stük den Charakter einer Arie, oder eines Duets, oder eines andern singenden Stüks, mit begleitendem Basse hat. Einige Fantasien schweiffen von einer Gattung in die andre aus, bald in ordentlichem Takt, bald ohne Takt u. s. f.

Die Fantasien von großen Meistern, besonders die, welche aus einer gewissen Fülle der Empfindung und in dem Feuer der Begeisterung gespielt werden, sind oft, wie die ersten Entwürfe der Zeichner, Werke von ausnehmender Kraft und Schönheit, die bey einer gelassenen Gemüthslage nicht so könnten verfertiget werden.

Es wäre demnach eine wichtige Sache, wenn man ein Mittel hätte, die Fantasien großer Meister aufzuschreiben. Das Mittel ist auch würklich erfunden, und darf nur bekannt gemacht werden, und von geschikten Männern die lezte Bearbeitung zur Vollkommenheit bekommen.

In den Transactionen der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften in London befindet sich in der 483 Numer, die 1747 herausgekommen, ein kurzer Aufsatz, in welchem ein englischer Geistlicher, Namens Creed, den Entwurf zu einer Maschine angiebt, welche ein Tonstük, indem es gespielt wird, in Noten setzt.1 Nicht lang hernach nämlich 1749 hat ein auswärtiges Mitglied der Königl. Academie der Wissenschaften von Berlin derselben eröfnet, daß er seit einiger Zeit an einem Clavier arbeite, das die Fantasien in Noten setzen könne, sich aber genöthiget sehe, die Sache wegen Mangel an einem geschikten Arbeiter aufzugeben; er schikte zugleich der Academie seinen Entwurf davon. Dieser Veranlasung haben wir die Erfindung des holfeldischen [368] Setzinstruments zu danken, die hier näher angezeigt zu werden verdienet.

Denselben Tag, als die Academie die erwähnte Nachricht erhalten, machte ich sie dem, damals noch wenig bekannten, zu mechanischen Erfindungen aber vorzüglich aufgelegten, Mechanikus Holfeld, ohne ihm das geringste von den an die Academie geschickten Zeichnungen zu sagen, bekannt. Die Zeichnungen hat er in der That nicht gesehen, bis seine Erfindung völlig fertig und ausgeführt gewesen. In ganz kurzer Zeit brachte mir dieser fürtreffliche Mann seine sinnreich erfundene Maschine. Sie ist so eingerichtet, daß sie ohne alle Weitläuftigkeit auf jedes Clavier, von der Art, die man hier zu Lande Flügel nennt, gesetzt werden kann, und alsdenn jedes, bis auf die kleineste Manier im Spielen, genau aufzeichnet. Verschiedene Liebhaber hatten sich bey dem Erfinder gemeldet, um dieses Instrument zu haben; weil aber keiner Miene machte die Erfindung daran auf eine anständige Art zu belohnen, so blieb sie, so wie ein von demselben Künstler erfundenes Clavier, mit Darm-Sayten und einem Bogen von Pferdhaaren, bey dem Erfinder liegen. Nach seinem Tode2 kaufte die Academie der Wissenschaften das Instrument, und wird ohne Zweifel eine genaue Abzeichnung davon bekannt machen.3

Was übrigens die Kunst des Fantasirens betrift, was für Hülfsmittel man habe, dasselbe zu erleichtern, und was bey den verschiedenen Arten desselben zu bedenken sey, darüber wird man in Bachs Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, so wol im ersten als im zweyten Theile, in eigenen Capiteln, viel nützliches antreffen.

1A Letter from Mr. John Freke – inclosing a paper of Mr. Creed concerning a Machine to write down Extempore Voluntaries or other pieces of Music. Transact. Philos. Vol. 44. pag. 445.
2im Frühjahr 1770.
3Aus dieser Erzählung wird sich beurtheilen lassen, wie viel unrichtiges über dieses Instrument und seinen Erfinder in Herrn Stähelins Nachricht von dem Zustand der Musik in Rußland gesagt worden. Dieser Aufsatz befindet sich in Haigolds Beylagen zum neuveränderten Rußland II Theile. 1. Es ist nicht wahr, daß Holfeld die an die Academie geschickten Zeichnungen gesehen, ehe er sein Instrument gemacht hat. 2. Es ist nicht wahr, daß der Erfinder die Maschine selbst aus Verdruß wieder zernichtet habe. 3. Auch nicht, daß er sie durch einen zufälligen Brand, darin viel von seinen Sachen im Rauch aufgegangen, verlohren habe. 4. Auch ist nicht wahr, daß seine Verdienste unbelohnt geblieben seyen. Der König hat ihm 1765 eine Gnadenpension gegeben, die er bis an sein End genossen hat. Auch ist er dadurch auf eine schmeichelhafte Weise belohnt worden, daß der König seinen Bogenflügel von ihm gefodert, ihn dafür belohnt, und das Instrument, als eine vorzüglich schätzbare Erfindung, in das Neue Schloß hinter Sans-Souci hat setzen lassen.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 368-369.
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