Gemein

[455] Gemein. (Schöne Künste)

Dasjenige, was den mittelmäßigen Grad der Vollkommenheit, der in den allermeisten Dingen seiner Art angetroffen wird, nicht überschreitet: oder was sich von andern Dingen seiner Art durch keinen merklichen Grad der Schönheit oder Vollkommenheit auszeichnet. Das Gemeine ist demnach in allen Dingen das, was in seiner Art am gewöhnlichsten vorkommt; mithin reizet es unsre Vorstellungskraft wenig, und ist dem Aesthetischen entgegen. Gemeine Gedanken, gemeine Gemählde aus der Natur oder den Sitten, gemeine Begebenheiten, sind kein guter Stoff zu Werken der Kunst. Die Kunstrichter rathen deswegen den Künstlern, ihre Materie nicht aus dem gemeinen Haufen der Dinge zu nehmen, sondern so viel möglich edle, große, neue Gegenstände zu wählen.

Es kann aber eine Sache auf zweyerley Art gemein seyn, entweder in ihrer Natur, oder in ihrem äusserlichen Wesen, mithin in Künsten, in der Art wie sie vorgestellt wird. Ein hoher Gedanke, kann auf eine gemeine Art ausgedrükt werden, und ein gemeiner Gedanke kann durch einen edlen Ausdruk sich über das Gemeine herausheben.

Der gemeine Stoff ist in Künsten nicht schlechterdings zu verwerfen. Er ist ofte zur Vollständigkeit des Ganzen nothwendig. Es geht z. E. in einem historischen Gemählde, in einem Trauerspiel, in einer Epopee nicht allemal an, jeden einzeln Gegenstand aus der Classe des Edlen zu wählen. Nur muß das Gemeine nicht über die Nothdurft da seyn, daß nicht das ganze Werk dadurch in das Gemeine verfalle. Man muß es vermeiden, so viel man kann, weil es nichts zum Gefallen thut.

Es kann aber ein Werk in Absicht auf die Wahl der Materie gemein, und in Ansehung der Kunst groß und fürtreflich seyn, so wie die historischen Gemählde eines Rembrandts, Teiniers, Gerard Dow und vieler holländischer Meister, welche dennoch hochgeschätzt werden; und wie der Thersites des Homers, der ein gar gemeiner und schlechter Mensch ist, aber unter den Helden gelitten wird, weil ihn der Dichter mit meisterhafter Kunst geschildert hat.

In diesen Fällen aber geht das Gefallen nicht auf den Gegenstand, sondern auf die Geschiklichkeit des Künstlers. Weil aber diese dasjenige eigentlich nicht ist, warum die Künste vorhanden sind, so beweißt das Gefallen an solchen Werken nichts gegen die Verwerfflichkeit des Gemeinen. Man bedauert billig an solchen Werken, daß der Künstler [455] seine großen Gaben in der Darstellung der Dinge nicht auf edlere Gegenstände verwendet hat.

Doch muß das Gemeine, in so fern es zur Ergänzung des Zusammenhanges dienet, nicht ängstlich vermieden werden. Der welcher glaubt, er dürfe niemals, auch in den Nebensachen etwas Gemeines anbringen, wird leicht gezwungen und verstiegen. Muß man aber gemeinen Sachen aus Noth Platz geben, so müssen sie auch auf eine, ihrem gemeinen Wesen angemessene Art, vorgestellt werden. Es wäre ein weit grösserer Fehler, etwas Gemeines durch einen hohen Vortrag aufzustutzen, als das Hohe gemein zu sagen. Das beste hiebey ist dieses, daß man dem Gemeinen auch nur nothdürftiges Licht und Farben gebe, damit man es nicht zu sehr bemerke und dabey stehen bleibe. So wie ein gemeiner Mensch unter dem Gefolge eines großen Herren leicht mit durchläuft, ohne anstößig zu seyn, so würde er einen großen Uebelstand machen, wenn er entweder mitten unter den Großen und Vornehmen gienge, oder prächtig gekleidet wäre.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 455-456.
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