Victoria I.

Victoria I.

[605] Victoria I. (Alexandrina), regierende Königin von Großbritannien und Irland seit 20. Jun. 1837, ist das am 24. Mai 1819 geborene einzige Kind des schon 1820 verstorbenen Herzogs von Kent und der Prinzessin Marie Luise Victoria von Sachsen-Koburg, unter deren Leitung sie eine überaus sorgfältige Erziehung genoß und eine in der That seltene Selbständigkeit des Charakters und große Unbefangenheit des Urtheils über die öffentlichen Angelegenheiten erlangt zu haben scheint.

Nachdem sie das 18. Jahr zurückgelegt hatte, wodurch sie nach engl. Gesetzen zur Übernahme der Regierung befähigt war, und bevor noch die mit ihrem Oheim König Wilhelm IV. wegen Einrichtung des ihr nun als Thronerbin zukommenden Hofstaates begonnenen Verhandlungen beendigt waren, führte des Königs Tod am 20. Jun. 1837 ihre Thronbesteigung herbei. Sie fand die Whigs an der Spitze der Regierung und den Viscount Melbourne (s.d.) als ersten Minister, und schenkte und erhielt ihnen seitdem ihr königl. Vertrauen, da sie bei ihnen die mit ihren eigenen Ansichten übereinstimmenden Grundsätze des verständigen Fortschrittes und das Bestreben fand, den billigen Wünschen des Volks zu genügen. Die von jeher ihrer Mutter und auch der Königin abgeneigt gewesenen Tories konnten mit aller Anstrengung bei den herkömmlich nach dem Regentenwechsel eintretenden Parlamentswahlen die Majorität im Unterhause nicht erringen. Mit außerordentlichem Prunke ward am 28. Jun. 1838 die Krönung gefeiert und am 10. Febr. 1840 vermählte sich V. mit ihrem Vetter, dem drei Monat jüngern Prinzen Albert von Sachsen-Koburg-Gotha, aus welcher Ehe am 10. Nov. 1840 eine Prinzessin, Victoria Adelaide Marie Luise, geboren worden ist, welche die muthmaßliche Erbin des brit. Thrones ist, wenn ihr kein Bruder nachfolgen sollte. Den Gang der Regierung anlangend, war es den Tories doch schon 1839 gelungen, das freisinnige Ministerium Melbourne dahin zu bringen, daß es am 6. Mai seine Entlassung einreichte. Der Königin blieb in dieser Lage keine andere Wahl, als Sir Robert Peel (s.d.) mit der Bildung eines neuen und sonach torystischen Cabinets zu beauftragen, der jedoch dies ablehnte, als die Königin verweigerte, auf sein Begehr mehre Damen ihrer vertrautesten Umgebung von sich zu entfernen. Die abgetretenen Minister übernahmen hierauf die Regierung von neuem, hatten aber mit wachsenden Schwierigkeiten zu ringen, die ihnen nicht allein die Tories, sondern auch die aufrührerische Richtung der Charlistenvereine und die auswärtigen Angelegenheiten bereiteten. Den ersten gehörten beinahe alle arbeitende Classen in England an und sie foderten laut politische Rechte für sich und wollten dieselben durch eine Volkscharte verbürgt wissen. Wenn eine deshalb [605] ans Unterhaus gerichtete, mit 1 Mill. Unterschriften versehene Petition kein Gehör fände, sollte ein allgemeiner Volksaufstand die Sache durchsetzen. Als jedoch die Versammlungen der Chartisten das gesetzlich Erlaubte überschritten und in Birmingham Aufruhr wirklich ausbrach, griff die Regierung entschieden ein und bald hatte sie überall die Anstifter der Unordnungen in ihrer Gewalt und die Ruhe mit so leichter Mühe hergestellt, daß deutlich erhellte, die Macht der Chartisten habe meist in der Einbildung bestanden. Vom Parlamente erhielten indessen die Minister nicht die verlangten 56,000 Pf. St., sondern nur 30,000 als Apanage für den Prinzen Albert bewilligt und mußten auch darauf verzichten, ihm den Rang vor den engl. Prinzen zu sichern. In der auswärtigen Politik führten die Verhältnisse des Sultans zu Mohammed Ali eine starke Entfremdung in den Beziehungen zu Frankreich herbei, indem sich Großbritannien am 15. Jul. 1840 mit Östreich, Preußen und Rußland zu Gunsten der Pforte gegen Mohammed Ali verbündete, um ihn mit Gewalt aus Syrien zu vertreiben. Mit China kam es wegen des chines. Verbots der Opiumeinfuhr und der von der chines. Regierung 1839 gefoderten und von dem engl. Bevollmächtigten bewilligten Auslieferung von 20,283 Kisten Opium im J. 1840 zu offenen Feindseligkeiten. Ebenso sind die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Nordamerika (s.d.) neuerdings schwankend geworden. Endlich ist noch als eine der wichtigsten Maßregeln der bisherigen Regierung V.'s die dem Parlament angekündigte Umänderung der Korngesetze zu erwähnen, wonach Getreide künftig gegen einen mäßigen festen Zoll anstatt des jetzt nach den engl. Marktpreisen wechselnden eingeführt werden dürfe. In persönlicher Beziehung ist die große Zahl junger wie bejahrter Männer merkwürdig, die vor übermäßiger Zärtlichkeit für die Königin V. ihr lästig wurden und den Verstand verloren haben. Auch einem Mordanfall durch einen verrückten Burschen von 17 Jahren, Namens Oxford, war sie ausgesetzt, der am 10. Jun. 1840, als sie in Hydepark mit ihrem Gemahl spazieren fuhr, zwei Pistolen auf den königl. Wagen abfeuerte und für seinen Wunsch, Aufsehen zu erregen, ins Irrenhaus wanderte.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 605-606.
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