Mystik

[276] Mystik, griech., religiöse, nennt man heutzutage im Allgemeinen das Bestreben, mit dem Ueberirdischen u. Göttlichen in unmittelbaren substantiellen Verkehr zu treten, um in diesem Verkehre selig zu sein. M. und Religion stehen somit im innersten Zusammenhange; bei allen Völkern sind M.er u. mystische Erscheinungen nichts weniger als selten, Menschen von vorherrschend melancholischer Gemüthsart haben häufig einen Hang zur M; aber während die ächte und christliche M. an der Hand der Kirche ihrem Ziele entgegengeht u. das Leben der größten Heiligen mit seinen wunderbaren Erscheinungen u. Ergebnissen sowie die Schriften eines H. Suso (st. 1365). I. Geiler (st. 1510), der hl. Theresia u.a. Zeugniß für die ächte M. des Christenthums ablegten, ist die Geschichte der außerchristlichen Religionen, vieler christlichen Sekten (von den Gnostikern bis zu den modernen Muckern) sowie der philosophische Pantheismus in seinen verschiedensten Formen von Plotin u. Porphyrius bis herauf zu Schelling ein Verdammungsurtheil der falschen M. oder des Mysticismus. Man unterscheidet contemplative M.er, bei denen die selige Vereinigung mit Gott und Seinem Reiche in unmittelbarer Anschauung Sache des Gefühles ist, von praktischer, welche die ganze Energie ihres Willens aufbieten, um durch die Mittel strenger Askese das irdische Prinzip in sich, das Fleisch, [276] gewaltsam zu ertödten und sich dadurch zum unmittelbaren Verkehr mit dem Jenseits zu befähigen. Die wissenschaftliche od. speculative M. will mystische Anschauungen u. Lebenserscheinungen zum Gegenstande wissenschaftlicher Erörterungen machen. Man findet die Grundlinien zu einer Wissenschaft der christlichen M. in den Briefen Pauli, im Hirten des Hermas, bei Ignatius und Clemens von Alexandrien, weiteres bei Dionys dem Areopagiten, Scotus Erigena, beim hl. Bernhard sowie bei den Scholastikern, namentlich bei Hugo u. Richard von St. Victor, Bonaventur und später bei Gerson; allein ohne eine ausgebildete Anthropologie konnte von keiner wissenschaftlichen M. die Rede sein und so hat denn erst Görres für eine solche Bahn gebrochen. Er nennt die M. »ein Schauen u. Erkennen unter Vermittlung eines höheren Lichtes, und ein Wirken und Thun unter Vermittlung einer höhern Freiheit; wie das gewöhnliche Wissen u. Thun durch das dem Geiste eingegebene höhere Licht u. die ihm eingepflanzte persönliche Freiheit sich vermittelt findet«. Der Christ gelangt durch den würdigen Genuß des heil. Abendmahles zum Ziele der ächten M., allein das mystische Leben hat sehr viele Stufen vom Seelenzustande des gewöhnlichen Christen an bis hinauf zur lange dauernden Verzückung und leiblichen Entrückung. Uebrigens findet die Klage, das Mystische im christlichen Wissen u. Leben werde noch immer wenig berücksichtigt, eine Antwort in der Dunkelheit u. Schwierigkeit des Gegenstandes, auch fehlt bis heute eine genügende Geschichte von der Wissenschaft der M. – M.er hieß bei den Alten der in die Mysterien od. Geheimlehren Eingeweihte, dann überhaupt der, welcher etwas wußte oder besaß, was gewöhnlichen Menschen unbekannt und fremd ist, bei den Kirchenvätern derjenige, welcher die Erkenntniß von an sich verborgenen und ohne besondere Gnade Gottes nicht zu offenbarenden Dingen, vor allem der göttlichen Geheimnisse besaß. Heutzutage wird M.er oft gleichbedeutend mit religiösem Schwärmer od. Phantasten gebraucht. Vgl. Tholuck: Blütensammlung aus der morgenländischen M. (Berl. 1825); Heinroth: Geschichte u. Kritik des Mysticismus (Leipz. 1830); Görres: Die christliche M. (Regensburg 1836–42, 4 B.); Deutsche Mystiker des 14. Jahrh. (Leipzig 1845).

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1856, Band 4, S. 276-277.
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