Mystik

[347] Mystik und Mystizismus (griech., verwandt mit Mysterium) bezeichnet nach herrschendem theologischen Sprachgebrauch zunächst eine Richtung des religiösen Lebens, die ihre bestimmtere Ausprägung zwar erst im Gegensatz zur scholastischen Theologie des Mittelalters gefunden hat, aber schon in den dem Dionysios Areopagita zugeschriebenen Schriften Vertretung findet und durch sie mit dem Neuplatonismus zusammenhängt. Der Name Mystik an sich führt nicht weiter als auf eine Geheimlehre, in die nur Auserwählte eingeweiht werden; erst die Geschichte der christlichen Theologie hat den Begriff abgerundet. Er wird zwar hier auch in dem allgemeinen Sinne gebraucht, wonach er das aller lebendigen Religiosität wesentliche Moment der Überzeugung von einer nicht weiter analysierbaren, unmittelbaren Berührung mit Gott bezeichnet, aber, wie eine in ekstatischer Form sich vollziehende Vereinigung mit Gott das letzte Ziel schon der heidnischen Mysterien (s. d.) gebildet hatte, so heißt Mystik auch im christlichen Sinne vornehmlich die durch den Areopagitischen Gottesbegriff geleitete Andacht, in der die Überschreitung aller verstandesmäßigen Vermittelungen bis zum Aufgeben des bestimmten Bewußtseins in das unterschiedslose Wesen Gottes als etwas schon in der irdischen Gegenwart Erreichbares erstrebt wird, während die Scholastik dasselbe Ziel alles christlichen Strebens erst im jenseitigen Leben für erreichbar erachtete. Wenn daher die Scholastik auf eine Weltanschauung der Transzendenz in Form eines dialektischen Verstandesformalismus hinausläuft, sucht die Mystik die Immanenz des Unendlichen im Endlichen zugleich praktisch zu erfahren und theoretisch festzustellen. Dieses in allen Wesen gleichmäßig vorhandene Allgemeine kann ebendarum nichts Bestimmtes, Persönliches sein, weshalb alle ausgeprägte Mystik mit dem Pantheismus wahlverwandt ist. An sich beruht sie auf einer besondern Virtuosität einseitig und exzentrisch religiöser Naturen, die, weil Gott »alles in allem« ist, ebendarum auch geneigt sind, phantastische und überschwengliche Regungen des Gemütslebens direkt auf Gott als die erste Ursache zurückzuführen; daher der moderne Sprachgebrauch mit dem Namen Mystizismus gewöhnlich allerlei frucht- und ziellose Gelüste bezeichnet, mit übersinnlichen Wesen in geheimnisvolle Berührung zu treten. Nachdem die griechische Philosophie im letzten Stadium ihrer Entwickelung derartigen Tendenzen Raum gegeben, mußte sie notwendig in den neuplatonischen Mystizismus auslaufen, der sich von dem echten Platonismus grundsätzlich durch Aufnahme eines ekstatischen Erkenntnisprinzips unterscheidet. Während aber die daran anknüpfende morgenländischchristliche Mystik des Areopagiten die Frage nach der Erkenntnis Gottes und der Idealwelt in den Vordergrund stellt, weist die abendländische Mystik zunächst einen mehr praktischen Gehalt auf. Aber auch hier unterscheiden sich wieder sehr bestimmt die romanische Mystik, die durch Johannes Scotus Erigena mit den Areopagiten zusammenhängt, in Bernhard von Clairvaux, den Viktorinern und in Bonaventura, überhaupt zum Teil in denselben Männern, die gleichzeitig die Scholastik pflegen, ihre Hauptträger besitzt und mehr nur eine psychologische Theorie der mystischen Andacht repräsentiert, und die germanische Mystik, die, von Meister Eckart, Tauler, Suso, Ruysbroek u.a. vertreten, durchaus spekulativ verfahrend, denselben Prozeß, den jene nur nach seiner subjektiven Seite auffaßte, objektivierte, in das Wesen Gottes verlegte und so jene Anschauungen von demselben gewann, die dann wieder von Jakob Böhme, Schelling und andern Theosophen und Philosophen der Neuzeit aufgenommen wurden (s. Theosophie). In naturalistischer Färbung fand der neuere Mystizismus Vertretung durch Paracelsus, Bruno, Campanella u.a., in katholisch gläubigem Sinne durch Franz von Sales, Angelus Silesius und den Quietisten Molinos. Vgl. Tholuck, Blütensammlung aus der morgenländischen Mystik (Berl. 1825); Görres, Die christliche Mystik (2. Aufl., Regensb. 1879, 5 Bde.); Helfferich, Die christliche Mystik in ihrer Entwickelung und ihren Denkmalen (Hamb. 1842, 2 Bde.); Pfeiffer, Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts (Leipz. 1845 bis 1857, 2 Bde.); Noack, Die christliche Mystik (Königsb. 1853, 2 Bde.); Preger, Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter (Leipz. 1874–93, 3 Bde.); Heppe, Geschichte der quietistischen Mystik in der katholischen Kirche (Berl. 1875) und Geschichte des Pietismus und der Mystik in der reformierten Kirche (Leiden 1879); Denifle, Das geistliche Leben. Blumenlese aus den deutschen Mystikern des 14. Jahrhunderts (5. Aufl., Graz 1904); Merx, Idee und Grundlinien einer allgemeinen Geschichte der Mystik (Heidelb. 1893); Gebhart, L'Italie mystique (Par. 1890); Langenberg, Quellen und Forschungen zur Geschichte der deutschen M. (Bonn 1901); Lehmann, Mystik i Hedenskab og Kristendom (Kopenh. 1904).[347]

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 347-348.
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