Katholizismus und Philosophie

[305] Katholizismus und Philosophie. Die Philosophie der katholischen Kirche im Mittelalter ist die Scholastik (s. d.) gewesen, namentlich seitdem sie seit Anselm von Canterbury (1033-1109) ihre Unterordnung unter die Lehren der Kirche zum Grundsatz erhoben hat. Bin festes Verhältnis der Kirche zu den Einzelrichtungen der Scholastik bahnte sich aber erst vom Ende des XIII. Jahrhunderts ab an. Die Dominikaner haben 1286 ihren zwölf Jahre vorher verstorbenen Ordensbruder, Thomas von Aquino (1225-1274), der die Lehre des Aristoteles mit der christlichen Überlieferung, die Lehre von dem vernünftigen und zweckvollen Zusammenhang des Weltalls mit dem Dogma von der Heilswirkung verschmolzen hatte, zu ihrem offiziellen Lehrer erklärt und seine Schriften dem Unterricht zu Grunde gelegt. Auch von den Benediktinern, Karmelitern und Augustinern ist die Philosophie des Thomas bald anerkannt worden. Und obwohl sich die Franziskaner gegen sie ablehnend verhielten und die letzten Scholastiker über Thomas hinauszugehen versuchten, bat sich auch der Jesuitenorden Thomas zum Helfer im Unterricht der Jugend gewählt. Auf ihn haben, als den rechtgläubigen[305] Philosophen der Kirche, viele Päpste vom XIV. bis XIX. Jahrhundert, von Clemens V. bis auf Pius IX., hingewiesen. Leo XIII. ist ihnen gefolgt und hat schon in seiner ersten Enzyklika »Inscrutabili Dei consilio« vom 21. April 1878 Thomas neben Angustin anempfohlen. Die dritte Enzyklika »Aeterni patris« vom 4. August 1879 erklärt dann die Philosophie für berufen, den Erweis der Wahrheit für die Grundlagen der Religion zu bringen, der Theologie Methode zu geben, und eine Schutzwehr des Glaubens gegen feindliche Angriffe zu bilden. Sie weist dem Thomas von Aquino unter allen Philosophen den ersten Platz an und schreibt die Beschäftigung mit ihm allen Schulen vor. Seit dieser Enzyklika herrscht die Philosophie des Thomas in allen katholischen Lehranstalten. Die Philosophie des Katholizismus ist also der Neuthomismus. Sie beruht auf dem rationalistischen Grundgedanken, daß Glauben und Wissen sich zu einem einheitlichen System verbinden lassen. Aus der Vernunft fließt ein Teil der religiösen Wahrheiten, wie der teleologische Gottesbeweis, der Begriff der Vollkommenheit, Weisheit, Gerechtigkeit und Wahrheit Gottes, der Beweis der Zuverlässigkeit des Evangeliums und der göttlichen Sendung der Kirche. Andere religiöse Wahrheiten, wie die Dreiheit der göttlichen Person, die Zeitlichkeit der Schöpfung, die Erbsünde, die Menschwerdung des göttlichen Wortes, die Auferstehung des Fleisches, das Weltgericht, die ewige Seligkeit und Verdammnis sind Glaubenssätze, die allein der göttlichen Offenbarung entstammen. Beide Arten der Wahrheit widersprechen sich nicht, sondern haben in der widerspruchslosen göttlichen Wahrheit und. Einheit ihren höchsten und letzten Grund. Aber der natürlichen Vernunft fällt in diesem Bunde die untergeordnete Stellung zu. Die Philosophie ist Dienerin und Magd der Theologie. (Philosophia ancilla theologiae). Die Vernunft ist Vorbereitung des Glaubens, Vorschule und Hilfe. Sie bereitet den Weg zum Glauben, bringt Ordnung in die Fragen der Theologie und schützt den Glauben gegen Feinde. Sie ist ein passender Zaun und eine Mauer des Weinbergs, muß sich aber der höheren Autorität unterwerfen und der Theologie den Vorrang überlassen. Nur von den Werken Gottes führt sie zu Gott hin, während die Theologie unmittelbar bei Gott verweilt. Im Gebiete des Wissens und der natürlichen Tugenden kann Thomas von Aquino und Aristoteles, auf dem er fußt, Führer sein, im Gebiete des Glaubens und der christlichen Tugenden entscheidet[306] zuletzt die von Christus gestiftete und vom Geiste Gottes regierte Kirche. So sind Wissen und Glauben, Altertum und Mittelalter in der Philosophie der katholischen Kirche unter dem Gesichtspunkte der Autorität der Kirche miteinander verschmolzen. – Siehe Protestantismus und Philosophie. Vgl. O. Willmann, Geschichte des Idealismus, 3 Bde., 1894 ff.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 305-307.
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