Deutsche Philosophie

[351] Deutsche Philosophie, bezeichnet weniger eine den Deutschen eigenthümliche Ph. als diese überhaupt, insofern die Ph. seit dem 17. Jahrh. ihren Wohnsitz vorzugsweise und immer ausschließlicher in Deutschland aufschlug. Die Neigung zur Speculation offenbarte sich darin, daß es seit Alkuin u. Rhabanus Maurus Scholastiker gab, welche das religiöse und denkende Bewußtsein vermittelten, die Gemüthsinnigkeit dazu darin, daß während des Mittelalters die Mystiker zahlreicher und die Verbindung der Gluth christlicher Andacht mit Platon häufiger waren als in andern Ländern, wo Aristoteles vorwog. Abt Hugo von St. Victor, Honorius von Augst, Rupert von Diez gehören hieher, Albertus Magnus aber (s. d. Art.) schloß sich an die Aristoteliker an und gilt als der erste Abendländer, der ernstlich die Natur studierte. Auf der Gränzscheide des Mittelalters stehen die herrlichsten Mystiker, wie Meister Eckart (st. 1329), Tauler (st. 1361), Suso (st. 1365), Thomas von Kempen (st. 1471), vor allem aber Nicolaus von Cusa (s. d.), dessen Zahlenmystik Theophrastus Paracelsus (st. 1541) mehr verdarb als verbesserte, indem er die Principien der Dinge zu Ausflüssen der Gottheit und lebendigen Kräften machen wollte. Nachdem in der Reformationszeit Reuchlin die Aufgabe J. Picos für Deutschland erfüllt, Sebastian Frank und Valentin Weigel als Vorläufer der modernen Philosophen aufgetreten und Agrippa von Nettesheim (s. d.) die Unruhe und Haltlosigkeit gleich anfangs als erstes Angebinde der neuen Zeit geoffenbart, eröffnete der Zeitgenosse des großen Astronomen Kepler, J. Böhme, der »philosophus teutonicus« (s. d. Art.) die Reihe der eigentlichen deutschen Philosophen, die man häufig aber ohne genügenden Grund erst mit Leibnitz (1646–1716) beginnt. Böhme schrieb deutsch; er und Leibnitz sind darin verwandt, daß beide kein streng in sich abgeschlossenes System schufen, beide weitreichenden Einfluß gewannen, vom positiven Christenthum ausgingen und zur damaligen Verstandesphilosophie des Auslandes sich verneinend verhielten. Letzterer trat besonders dem Locke entgegen, strebte die alte christliche Mystik mit der neuen Schulphilosophie in einer neuen Weltanschauung zu verbinden und fand im Zweckbegriff, der teleologischen Harmonie aller Dinge, die Vermittlung zwischen Geist und Materie, Denken und Sein. Seine Schüler, Wolf (1679–1754) u. die Wolfianer, Thümming, Bilfinger, Baumgarten u.a. halfen Leibnitzens Mangel einer Erkenntnißtheorie nicht ab, verwässerten [351] vielmehr dessen System, opferten alles eigentlich Speculative darin dem hausbackenen Menschenverstande und lehrten in Folianten Dinge, die wir Alle schon wissen. Allein sie leisteten gleich Thomasius viel für das Herrschendwerden der deutschen Schriftsprache, stellten die ersten deutsch geschriebenen fertigen Systeme her und halfen der französischen Aufklärerei mannigfach entgegenwirken. Mehr als sie alle hat E. Lessing (1729 bis 1781) für die Ph. gethan, indem er mit Mendelsohn (1727–1786), Garve (1742–1798), Engel (1741–1802), Abt (1738–1766) u.a. eine Aufklärung förderte, welche im schlimmsten Falle noch immer besser war als der Sensualismus, Materialismus und Atheismus der Encyclopädisten. Mit I. Kant (1724–1804) begann die kritische Ph., welche in ihrer Weiterbildung, Anwendung und Verbreitung in allen Gebieten des Wissens und Lebens eine ähnliche Umwälzung hervorbrachte, wie das kopernikanische System in der Astronomie oder die Revolution v. 1789 in der civilisirten Welt. Kants Ansichten wurden durch Schiller verklärt, durch Reinhold, Bardili, Schulze, Fries, Bouterweck, Krug und viele andere popularisirt, und von Fichte (1762–1814) nur vorübergehend in den Hintergrund gedrängt, dessen Ichphilosophie besonders auch in der Rechts-, Sitten- und Religionslehre, so wie in der »Anweisung zum seligen Leben« vielen klar machte, daß keine »Religion innerhalb der Gränzen der Vernunft«, sondern der Gegensatz aller Religion, die Vergötterung des Ich, der Ausgang der eingeschlagenen Richtung sein werde. Weder Jakobis Glaubensphilosophie, noch Herbarts (1776–1841) einsamer Kriticismus vermochten der Verflüchtigung der Speculation in glaubensleerer Räsonniererei Einhalt zu thun, wohl aber Schelling (geb. 1775). Gleich Platon schuf er kein abgeschlossenes System, sondern stellt, von Fichte ausgehend, in einer Reihe von Schriften, in denen allen er sich vom Pantheismus beherrschen läßt, mehrere Entwicklungsstufen dar – Natur- und Transcendental-Ph., spinozistische, mystische, theogonische und cosmogonische Periode – und endiget bedeutungsvoll mit einer »positiven Ph. oder Ph. der Religion u. Offenbarung«. Hegel meinte von der Schellingschen Ph., »das Absolute sei darin wie aus der Pistole geschossen, es sei die Nacht in der alle Kühe schwarz aussehen«, gab dem Subjecte wieder das Uebergewicht, indem er Schellingsche Ideen mit der Methode Fichtes verband und lehrte einen Gott, der sich selbst in der Geschichte fortdenkt, an sich auf jeder Entwicklungsstufe ganz, aber stets vollkommener sich findet. Das, was diese Ph. den Politikern empfahl, nämlich die Lehre, daß die Zustände der Gegenwart stets die besten seien, war von vornherein eine zweideutige Consequenz und nur eine scheinbare, weil die Souveränität oder Vergötterung und Fortentwicklung des Subjectes der rothe Faden des ganzen Systems ist und bleibt. Nur wenige Schüler blieben Hegels logischem Pantheismus getreu, die meisten und talentvollsten schlugen andere Richtungen ein und die sog. Junghegelianer vergaßen das eigentliche Philosophiren, indem sie Gott und alle geoffenbarte, in neuester Zeit sogar alle natürliche Religion aus der Welt zu schaffen strebten oder sich dem allerentschiedensten politischen und socialen Radicalismus in die Arme warfen. Straußens »Leben Jesu«, die beiden Bauer, Feuerbach, A. Ruge, Daumer u.a. gehören hieher. Der Entwicklungsgang der d. Ph. zeigt viel Aehnlichkeit mit dem der griechischen, von der sich jene vorzugsweise dadurch unterscheidet, daß sie keine voraussetzungslose, sondern mit der christlichen Religion in bewußtem Gegensatz stehende ist, und ein berühmter Protestant nennt das ganze Hegelthum »ein freches Spiel mit der Wahrheit, eine feile Söldnerin der Tagesinteressen, eine in sich selbst principlose, aber zu jedem beliebigen Gebrauch bequem organisirte Lügenkunst«, ein hartes, aber durch Thatsachen aller Art vielfach bekräftigtes Urtheil. Während das philosophische Interesse im Ganzen den practischen wich und nur noch einzelne verlorene Posten an die Zeit des »absoluten Wissens« erinnern, wie J. V. Mayer »Theismus [352] und Pantheismus mit besonderer Rücksicht auf practische Fragen« Freib. i. Br. 1849, und im Auslande ohne besondern Erfolg Verbreitungsversuche der d. Ph. angestellt wurden, fanden auch die dem Pantheismus und Atheismus entgegentretenden Systeme Fichtes d. j., Senglers u.a. keinen sehr günstigen Boden. Dagegen scheinen die Versuche einer christlichen Ph., mit denen Baader, Görres, Günther und Pabst mehr oder minder umfassend vorangingen, Aussichten für eine großartige Zukunft zu bekommen. So viel die Deutschen als Geschichtschreiber der Ph. leisteten, so wenig ist eine genügende Geschichte der d. Ph. vorhanden, welche deren Zusammenhang mit deutschem Geist und Leben von Karls d. Gr. Zeit an darstellte.

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Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 2, S. 351-353.
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