Optimismus (Pessimismus)

I.

[460] Die Endung -ismus und die entsprechende Endung -ist drückt so etwas wie eine philosophische Lehrmeinung aus und die Anhängerschaft zu einer Lehrmeinung. Angehängt werden die Zeichen oft an Namen (Marxismus, Marxist), aber auch gelegentlich in neuerer Zeit an alle möglichen Wortarten. Selbst aus nihil ist Nihilismus und Nihilist geworden. Kein Wunder, wenn die Ismen ganz besonders zu den leeren Wortschällen gehören, die Leibniz einmal notiones deceptrices (betrügliche Begriffe übersetzt Kant) genannt hat. Optimismus und als ein danach gebildetes Witzwort Pessimismus sind von den superlativischen Adjektiven optimus und pessimus abgeleitet. Damit mag sich ein Kinderbuch begnügen. Wir sind es so sehr gewöhnt, von jedem Adjektiv unserer abendländischen Kultursprachen Komparative und Superlative bilden zu können (wir sagen sogar: das blondeste Mädchen, die schwärzeste Nacht), daß wir uns fast ungern die Frage vorlegen lassen, ob denn die Steigerung eine notwendige Ausdrucksform der Adjektive allein sei. Ich will dazu hier nur bemerken, daß viele Sprachen eine Steigerung in den Formen des Verbums zulassen, das Intensivum, daß ferner eigentlich die Steigerung, die wir im Adjektiv ausdrücken, für unsere Sinne und für unsern Verstand an das Substantivum geknüpft ist. Genau so, wie in manchen polynesischen Sprachen die Mehrzahl nicht[460] am Substantiv, sondern am nachgesetzten Adjektiv ausgedrückt wird: ika pai, ein guter Fisch, ika papai, gute Fische. Die Steigerung des Adjektivs allein ist also eine zufällige Analogiebildung unserer arischen Sprachen, die sie allein besitzen. Die semitischen Sprachen haben keinen richtigen Komparativ und keinen Superlativ. Genau besehen haben auch die romanischen Sprachen (und das Englische, soweit es nicht neben der romanischen eine deutsche Komparation besitzt) keinen Superlativ; im Italienischen drückt der Superlativ oft nur eine Steigerung ohne Vergleichung aus, beinahe so wie die Reduplikation »wilder« Völker und unserer Kindersprache: ein hoher, hoher Berg, ja sogar kann für altissimo alto, alto stehen, für bellissima bella, bella. Im Hebräischen ist der Superlativ gar nicht auszudrücken. Im Hebräischen hätte die Frage gar nicht aufgeworfen werden können, ob die Welt, die Jehova geschaffen hatte, die beste aller möglichen Welten sei oder nicht. Und von dieser Frage allein stammen die Modeworte Optimismus und Pessimismus her, von der christlichen Frage nach dem Übel in der Welt und nach der logischen Vereinigung dieses Übels mit der Allweisheit, Allgüte und Allmacht Gottes. Es mag für den gläubigen Christen schwer gewesen sein, sich mit der unleugbaren Scheusäligkeit vieler Dinge abzufinden. Die Übel der Welt dem Gegengott, dem Demiurgen, dem Satan zuzuschreiben, das mußte gehen, ging aber nicht immer. Die Inder, die Perser, die Griechen, die Römer kannten kaum einen allweisen, allgütigen und allmächtigen Weltschöpfer, kannten darum auch das Schwanken zwischen Optimismus und Pessimismus nicht. Ein uralter Römergott und Anti-Jupiter, Vejovis, eine Art Unterweltgott, spielte so gar keine Rolle, daß wir nur durch wenige Notizen Kenntnis von ihm haben: qui non juvandi (Jovis von juvare) potestatem sed vim nocendi haberet Vejovem appellaverunt (Gell. V, 12).

Man muß genau unterscheiden zwischen der verzweifelten Theologenfrage, ob diese unsere Erdenwelt mitsamt ihrer ganzen Infamie wirklich immerhin noch die beste aller möglichen Welten sei, und zwischen der Temperaments- oder Stimmungsfrage, ob man sich auf dieser immerhin noch besten aller Welten leidlich[461] wohl fühle oder nicht. Diesen Gegensatz der Stimmungen hat es natürlich immer und überall gegeben. Für den Nachweis bemüht man gern den Koheleth und den Sophokles, die ungefähr das gleiche gesagt haben: es wäre besser, nicht geboren zu werden. Sogar der prinzipielle Selbstmord wurde schon von einem Griechen gelehrt, noch dazu von einem Epikuräer, von Hegesias. Es hängt mit dem Niedergang christlicher Theologie und christlichen Glaubens wohl zusammen, daß um die Zeit des großen Zusammenbruchs, den man die französische Revolution nennt, im Abendlande die Überzeugung von der Niedertracht der Welt besonders stark wurde und bald nachher durch Dichter wie Lord Byron, Leopardi und Lenau als Weltschmerz in die Mode kam. In die Mode der Sprache besonders. Denn das Gefühl war lange vor der Revolution (Rousseau und Werthers Leiden) vielleicht noch stärker gewesen. Dieser Weltschmerz hat als Stimmung manche Verwandtschaft mit dem landläufigen Pessimismus, und die Ausdrücke gehen in liederlicher Sprache wohl auch durcheinander. Hält man aber daran fest, daß Pessimismus nichts ist als ein witziger Trumpf gegen den Optimismus, Optimismus wieder nichts als eine theologische Ehrenrettung Gottes, wirklich eine Theodicee, dann wird man zwischen Weltschmerz und Pessimismus unterscheiden lernen wie zwischen Wehleidigkeit und Krankheit, wie zwischen subjektiv und objektiv. Nur daß der objektive Pessimismus nicht mehr Sinn haben kann als sein Gegensatz, der objektive Optimismus, der, wie wir gesehen haben und noch besser sehen werden, ein theologisches Wort ist, von einem unmöglichen Superlativ abgeleitet und durch superlativische Eigenschaften Gottes begründet.

Daß die Superlative der Beste, der Schönste usw. unmögliche Sprachbildungen sind, würde man leichter begreifen, wenn die Sprache ihren Ausdruck an das Substantivum geknüpft hätte. Substantive oder Dinge sind menschliche Hypostasen, in die wir die Ursachen von Eigenschaften hineinlegen. Unsere Sinne fassen die Welt unmittelbar nur adjektivisch. Wer diese Lehre meiner Sprachkritik gefaßt hat, der wird nun nicht zweifeln, daß die Vergleichung dinglicher Eigenschaften erst recht menschliche[462] Zutat ist, nicht wirklich, in der Natur nicht vorhanden. Es gibt in der Natur keinen Apfelbaum, der sich vergleichend reicher blüht, reicher trägt als der andere. Wir nennen das nur so. Und wenn wir eine andere als eine metaphorische Sprache hätten, so müßten wir auch einsehen, daß auch die menschliche Vergleichung oder Komparation sich nur auf Erscheinungen anwenden lasse, die der Zahl zugänglich sind.

Sehr merkwürdig ist es von diesem Standpunkte aus, daß gerade die alltäglichsten Superlative in unsern Sprachen keine regelrechte oder analogische Steigerung haben: gut, besser; viel, mehr; bonus, melior, optimus; malus, peior, pessimus; parvus, minor, minimus; und gar agathos – ameinôn, areiôn (aristos); beltiôn, lôôn, kreittôn, der Gedanke liegt nahe, daß diese Suppletivbildungen, wie Osthoff sie nannte, ursprünglich nicht Gradunterschiede desselben Begriffs, sondern Qualitätsunterschiede bedeuten (Wundt, Spr.² I, 13). Es ist seltsam und vielleicht der Stoff für eine Doktorarbeit, daß die Dreistufigkeit der Steigerung sich nur in den Sprachen der Völker findet, die später die Dreieinigkeitslehre begreifen lernten.

II.

Ich will nun zu zeigen versuchen, daß der Optimismus als System (er hat als System noch nicht ganz 50 Jahre gedauert: die Theodicee erschien 1710, die Preisschrift der Berliner Akademie 1755, Jahre des Erdbebens von Lissabon, und 1758 machte Voltaires Candide dem Optimismus für das gebildete Europa den Garaus) ein einziges großes Mißverständnis war. Leibniz hatte mit seiner Ehrenrettung Gottes die christliche Religion zu stützen geglaubt; die Feinde des Optimismus in Berlin und in Paris glaubten mit Leibniz die christliche Kirche zu vernichten, écraser l'infâme. In Wahrheit ist das Christentum nicht optimistisch. Der antike Todesprediger Hegesias und Schopenhauer, der Begründer des pessimistischen Systems, konnten die Miserabilität der Erdenwelt nicht mit stärkeren Farben ausmalen als Origenes mit seiner Lehre vom Abfall und andere christliche Väter; Weltverachtung ist das Wesen des Christentums. Und nur[463] die Hoffnung auf die Freuden des Jenseits bildet für lebensfreudige Geister eine Inkonsequenz. Die katholische Kirche und auch Luther waren nicht urchristlich, da sie der Weltfreude der Menschen ihr Recht gaben. Die Puritaner und Calvinisten waren christliche Pessimisten. In einer konsequent pessimistischen Religion wäre für einen Leibniz kein Platz gewesen; der Buddhismus war konsequent pessimistisch, kannte keinen allmächtigen Weltschöpfer und hatte darum eine Ehrenrettung Gottes nicht nötig.

Leibniz, der universalste Kopf der Zeit und der ohne eigentliche Größe scharfsinnigste, den Deutschland je hervorgebracht hat, stand mit seiner Rettung Gottes gar nicht auf dem Boden des positiven Christentums. Seine Theodicee, übrigens von Shaftesbury stark beeinflußt – Leibniz war niemals ganz original - , richtete sich gegen einen der feinsten und stärksten Gegner, deren das Christentum sich je hat rühmen können: gegen Pierre Bayle. Auch Bayle war vorsichtig genug, die positive Religion zu schonen, oft ironisch zu verteidigen; seine Skepsis, die eine gute Welt und einen weisen, gütigen und allmächtigen Schöpfer leugnete, mußte konsequent zum Atheismus führen und hat in dieser Richtung das ganze 18. Jahrhundert vielleicht stärker beeinflußt, als selbst Voltaire es vermochte. Gegen Pierre Bayle hat Leibniz seine Theodicee gerichtet, zugunsten eines deistischen Gottes. Der Optimismus dieses Buches, das heute unter allen epochemachenden Werken der Philosophie wohl eins der unlesbarsten und langweiligsten ist, ist nicht christlich, ist deistisch; Leibniz hatte die Warnung Spinozas nicht beachtet, die Warnung vor dem Widersinn, die Welt anders als kausal, die Welt subjektiv nach den individuellen Erfahrungen von Lust und Unlust zu beurteilen. Ich finde die Deklamationen der aussterbenden Materialisten von heute, die in Worten von Fortschritt, von der Entwicklung, die menschliche Sehnsucht nach einem Jenseits schamlos befriedigen, ebenso unlesbar, ebenso langweilig und ebenso nützlich wie die Theodicee von Leibniz.

Man braucht nicht sprachkritisch veranlagt zu sein, um das Wortgebäude der Theodicee abgeschmackt zu finden. Wir verstehen[464] die Sprache dieses Buches nicht mehr. Gott ist allweise: also weiß er auch, wie die beste Welt beschaffen zu sein habe. Gott ist allgütig: also ist es seine Absicht, unter allen möglichen Welten just die beste zu schaffen. Gott ist allmächtig: also hat er seine Absicht auch ausgeführt. Darüber mögen Lehrer und Schüler im Konfirmationsunterricht sich unterhalten.

Leibniz verliert nicht nur als Philosoph, sondern auch als ehrlicher Mensch, wenn er (§ 19 und 133) sich allen Ernstes mit den ewigen Höllenstrafen auseinandersetzt, um die Menge des Übels auf ein geringeres Maß zurückzuführen. Augustinus sei bei dem gleichen Versuche in die Enge geraten, weil seine Vorstellung von der Welt noch geozentrisch war, »aus Mangel der neueren Entdeckungen«; bei der ungeheuren Menge der Fixsterne und Planeten »könne es gar wohl sein, daß die Menge von Übeln auf Erden in Vergleichung mit dem Guten im ganzen Weltgebäude fast wie ein Nichts zu achten sei«. Was die Zahl der Verdammten betrifft, wenn sie auch unter den Menschen unaussprechlich größer wäre als die Zahl der Seligen, so würde dennoch daraus nicht folgen: »daß die seligen Kreaturen in der ganzen Welt nicht die Unseligen und Verdammten an Zahl weit übertreffen sollten«. Mit so gelehrt-protestantischen Predigten glaubte Leibniz die furchtbare Anklage Bayles abwehren zu können: man würde einen Fürsten, der so viele bestrafte und so wenige begnadigte, der so langwierige Strafen erwählte, grausam und einen abscheulichen Tyrannen nennen.

Leibniz, der auch die Versöhnung von Katholizismus und Protestantismus unter seine diplomatischen Lebensaufgaben rechnete, ging in einer kleinen, von Lessing zuerst veröffentlichten Vorrede eines vergessenen Werkes über die Ungerechtigkeit der ewigen Strafen (Lessing, Hempel 18, S. 68f.) so weit, die katholische Lehre zu verteidigen: die Strafen müßten unendlich oder ewig sein, wenn die Sünden unendlich oder ewig wären. Von Rechts wegen. Es ist schlimm, daß Leibniz da wieder das leere Stroh der Theologie gedroschen hat; es wäre noch schlimmer, daß Lessing in seiner Abhandlung »Leibniz von den ewigen Strafen« das ganz unbrauchbare Stroh noch einmal drosch, wenn Lessing[465] nicht immer Lessing bliebe. Er will Leibnizen nicht »in noch größeren Verdacht bringen, daß er den Orthodoxen nur geheuchelt habe«. Er gibt zu, »daß Leibniz die Lehre von der ewigen Verdammung sehr exoterisch behandelt hat und daß er sich esoterisch ganz anders darüber ausgedrückt haben würde«. Wäre das mehr als Verschiedenheit der Lehrart gewesen, so ließe sich das »schlechterdings mit keiner didaktischen Politik, mit keiner Begierde, allen alles zu werden, entschuldigen« (S. 85). Lessing hatte für die Art von Leibniz, lieber »mit den Orthodoxen der Sache ein wenig zu viel zu tun«, gewiß viel übrig; hat er sich doch oft genug, zum Entsetzen seiner subalternen Freunde, gymnastikôs, und nicht immer nur scheinbar, gegen die Rationalisten und Halben auf Seite der Orthodoxen und Ganzen gestellt. Aber sein Wort von Leibnizens Begierde, allen alles zu werden, wollen wir uns einprägen.

Ich will hier gleich bemerken, daß Leibniz durch seine Theodicee wohl das Gebäude des Optimismus aufgerichtet, ihm aber noch nicht den uns geläufigen Namen gegeben hat. Er nennt sein Buch im Untertitel einen Essay von der Güte Gottes und vom Ursprung des Bösen. Das Schlagwort optimisme findet sich erst etwa 30 Jahre später, zuerst in den Mémoires de Trévoux vom Februar 1737 und dann im Dictionnaire von Trévoux von 1751 (nach Murray; in der Ausgabe von 1734 ist das Wort noch nicht), wurde also von den Jesuiten geprägt. Die Jesuiten stellten sich streng auf den Boden des thomistischen Systems, das keine (auch keine logisch geforderte) Einschränkung der Allmacht zugibt. Sie sagen da: »L'Optimisme n'est qu'un matérialisme déguise, un spinosisme spirituel. L'Optimisme règle Dieu comme un automate.« Noch deutlicher wenden sie sich gegen Leibniz in dem kleinen Artikel Optimiste. Der Terminus Optimismus scheint also in ironischer Absicht gegen Leibniz geprägt worden zu sein.

Leibniz hatte aber den Begriff eines Optimum schon gebildet, nach dem Muster des mathematischen Maximum und Minimum, das dem methodischen Begründer der Differentialrechnung nahe liegen mochte (I. 8): »comme dans les Mathématiques, quand il n'y a point de maximum ni de minimum, rien enfin de[466] distingué, tout se fait également; ou quand cela ne se peut, il ne se fait rien du tout: on peut dire de même en matière de parfaite sagesse, qui n'est pas moins reglé que les Mathématiques, que s'il n'y avait pas le meilleur (Optimum) parmi tous les Mondes possibles, Dieu n'en aurait produit aucun«.

Schade, daß der listenreiche Leibniz, für den es en matière de parfaite sagesse un accomodement avec le ciel gab, der nicht weit von dieser Stelle den Beistand des heiligen Geistes anzurufen scheint (I, 6: »nous trouvant animés d'un zèle qui ne peut manquer de lui plaire, nous avons sujet d'espérer qu'il nous éclairera, et qu'il nous assistera lui-même dans l'exécution d'un dessein entrepris pour sa gloire«), schade, daß Leibniz die Kurve des Guten und ihr Optimum nicht berechnet hat. Andere hätten dann leichter das Minimum oder Pessimum berechnen können.

Was ich oben angeführt habe und was eigentlich meine ganze Kritik der Begriffe Optimismus und Pessimismus schon enthält, daß nämlich Superlative außerhalb der Mathematik unvorstellbar sind, das hätte doch dem Manne beifallen müssen, der auch sonst (in der von ihm zuerst gefaßten Lehre vom Unbewußten oder den unendlich kleinen Seelenvorgängen, auch in der Monadologie) gern mathematische Einsichten zur Erklärung der Welträtsel heranzog.

Leibniz war selbst in seiner Theodicee von einem phantastisch-wissenschaftlichen Geiste nicht ganz verlassen. Was aber die elenden Dichter der Zeit aus seiner Lehre machten, das ist fast durchaus unfreiwillige Parodie. Der freundliche Uz hat uns ein endloses Gedicht hinterlassen, »Versuch über die Kunst, stets fröhlich zu sein«. Wer die feine Kunst versteht, sich die äußerste Langeweile historisch merkwürdiger Bücher durch Zusatz eigenen Lachens genießbar zu machen, der mag bei diesen Alexandrinern auf seine Kosten kommen. Ahnungslos sind die bekannten Worte Senecas, die so viel passender auf dem Giebel des Leipziger Gewandhauses stehen, als Motto vorangestellt: res severa verum gaudium. Uz hat auch ein längliches Gedicht geschrieben, das sich »Theodicee« nennt.

»Ich will die Spötter niederschlagen,

Die vor dem Unverstand, o Schöpfer, dich verklagen:[467]

Die Welt verkündige der hohem Weisheit Ruhm!

Es öffnet Leibniz mir des Schicksals Heiligtum;

Und Licht bezeichnet seine Pfade,

Wie Titans Weg vom östlichen Gestade.«

Öfter genannt wird sonst »Irdisches Vergnügen in Gott« des Hamburger Ratsherrn Brockes. Schon Huber hat auf die reizende Stelle, hingewiesen, an der die Tugenden der Gemsen besungen werden:

»Sonst ist überall bekannt, wie sie uns so nützlich seien,

Für die Schwindsucht ist ihr Unschlitt, fürs Gesicht die Galle gut,

Gemsenfleisch ist gut zu essen, und den Schwindel heilt ihr Blut;

Auch die Haut dient uns nicht minder. Strahlet nicht aus diesem Tier

Nebst der Weisheit und der Allmacht auch des Schöpfers Lieb' hierfür?«

Ganz so tief in Form und Inhalt sanken die französischen und englischen Brockes nicht. Aber der empörend anthropozentrische Standpunkt geht fast durch alle Schriften, die damals viel gelesen wurden. »Auch die Haut dient uns nicht minder« hört man aus Pope, auch aus den Arbeiten des jungen Voltaire, des jungen Kant mitunter heraus. Und selbst diese beiden befreiten sich von dem athropozentrischen Standpunkte nie so vollständig wie der einzige Hume, der den Kern der Frage anfaßte: »Will Gott das Übel hindern und vermag er es nicht, so ist er ohnmächtig; vermag er es aber und will er es nicht, so ist er übelwollend.« Auf das Jenseits oder das himmlische Vergnügen in Gott, auf das asylum ignorantiae ließ Hume sich nicht ein. Die Güte Gottes müsse erst aus dem Zustande der Welt erschlossen werden, und der spreche nicht für eine Güte Gottes; die Ursache aller Dinge scheine aber für das Gute oder das Böse ebenso wenig eine Vorliebe gehabt zu haben wie für Hitze oder Kälte.

III.

Die Opposition gegen Leibniz setzte, da sie sich an eine Kritik der Voraussetzungen nicht heranwagte und für die Frage, ob die Eigenschaften Gottes da nicht zu kleinlich, zu irdisch, zu menschlich verstanden würden, noch nicht reif war, an einem Punkte ein, den schon Thomas von Aquino dem älteren Optimismus gegenüber hervorgehoben hatte. Eine bessere Welt als die[468] unsere wäre der Allmacht des Schöpfers immer möglich gewesen. Die immer noch thomistische katholische Kirche läßt sich aus diesem Grunde auf den Streit über den Optimismus, über die beste Welt, gar nicht erst ein. Und mir will scheinen, daß halb unbewußt hinter dieser Weigerung, den Superlativ die beste Welt zu gebrauchen, ein Gefühl dessen verborgen ist, was ich oben vom Superlativ der Adjektive überhaupt gesagt habe und was ich jetzt so ausdrücken möchte: es gibt Steigerungsvergleiche nur bei zahlenmäßigen Begriffen, es gibt keine Steigerung in der Natur, es kann keine Steigerung geben in einer natürlichen Sprache. Der damals halb vergessene Einwurf des hl. Thomas kam wieder zum Vorschein in der Antwort auf die Preisaufgabe, die die preußische Akademie der Wissenschaften, die Leibniz geschaffen hatte, gegen das System von Leibniz zu stellen beliebte. Die preisgekrönte Antwort (natürlich in französischer Sprache) war eine Arbeit des Juristen A. F. Reinhard. Sie interessiert uns hier aus zwei Gründen: sie lehrt uns die Stellung des Fridericianischen Geistes zur Frage kennen, und sie hat eine kleine Schrift von Kant indirekt veranlaßt.

Die preußische Akademie unter dem Vater Friedrichs, ein lächerliches Kollegium zu Narren gehaltener Narren, war unter Friedrich rasch zu einer der wichtigsten gelehrten Gesellschaften Europas geworden. Merkwürdig genug; denn auch Friedrich herrschte über die Akademie absolut, hatte für die besten Leistungen ihrer besten Klasse, der mathematisch-naturwissenschaftlichen, gar kein Verständnis; und die Vorschrift, alle Arbeiten in französischer Sprache zu verfassen, die nach der Besiegung der Franzosen im siebenjährigen Kriege eher noch verschärft wurde, hätte leicht dazu führen können, die Berliner Akademie auf den Rang einer der französischen Provinzakademien hinunterzudrücken. Aber die königliche Genialität Friedrichs, die die Person (seine eigene ausgenommen) immer unter die Sache stellte, machte ihn auch auf diesen Gebieten zu einem einzigen Erzieher der Preußen und der Deutschen.

Auf meinem Wege stört ein ferneres kurzes Stehenbleiben ja wohl nicht. Ich möchte die obigen Sätze ein wenig belegen,[469] weil Harnack in seiner Darstellung zwar mit schöner Wahrheitsliebe alle Tatsachen geliefert, die fast nicht zu überschätzende Bedeutung Friedrichs nicht übertrieben, aber doch die Schmach der Akademie unter Friedrichs Vater ein wenig offiziös mit dem Mantel preußischer Liebe bedeckt hat.

Es ging sehr menschlich zu bei der Gründung, bei der Schmach und dann auch bei dem Aufblühen der preußischen Akademie. Leibniz verfolgte große Ziele, das ist gewiß. Aber er hatte auch persönliche Absichten dabei, da er mit den altbewährten Künsten des Hofmanns die Gründung der preußischen Akademie bei der Kurfürstin durchsetzte. Daß er Friedrich I. mit Salomon verglich und natürlich die Kurfürstin mit der Königin von Saba (Voltaire hatte 40 Jahre später mehr Glück, als er für Friedrich II. den Namen Salomon du Nord prägte, weniger Glück, als er gleich zwei russische Kaiserinnen nacheinander Semiramis des Nordens nannte), das war am Ende Sprache der Zeit, wie es boshafte Schikane wäre, zu erwähnen, daß das Promemoria für Begründung der Akademie im Namen »einiger getreuer kurfürstlicher Bedienter« dem Monarchen überreicht wurde. (Noch Du Bois-Reymond nannte die Akademie die Leibgarde der preußischen Könige.) Wenn nur die Sprache einer Zeit nicht das Denken der Zeit wäre. Wenn nur das astronomische Observatorium (die Kurfürstin wünschte so etwas, und Leibniz streichelte und leckte das Observatorium zu einer Akademie zurecht, deren Präsident er wurde) nicht just, um die Zustimmung des Kurfürsten zu erhalten, als Obergeschoß auf den neuen Stall gekommen wäre, für den Geld genug da war. Wenn nur Leibniz, den schon sein früherer Herr einen »aller Orten betriebsamen Gelehrten« genannt hatte, nicht auch unter den ersten moralischen Faustschlägen Friedrich Wilhelms I. diplomatisch vorgeschlagen hätte, sich in die Zeitverhältnisse zu schicken, kriegswissenschaftliche und technische Abhandlungen aufzunehmen.

Bei dieser Gelegenheit sei übrigens erwähnt, was aus Harnacks Darstellung sonnenklar hervorgeht, daß das Verdienst, eine Zentralstelle für deutsche Sprache durch die Statuten der Akademie geschaffen zu haben, durchaus nicht Leibniz gebührt; der[470] Kurfürst selbst, von einem andern beeinflußt, hat hinzugefügt, »daß man auch auf die Kultur der teutschen Sprache bei dieser Fundation gedenken möchte, gleichwie in Frankreich eine eigene Akademie hierzu gestiftet«. Leibniz schreibt darauf fast verlegen: »es wird nur zu denken sein, wie die teutsche Sprachkunst mit den übrigen Wissenschaften zu verbinden sein wird«.

Es wäre aber ungerecht, bei dieser Richtigstellung nicht dessen eingedenk zu bleiben, daß Leibniz früher und später ein Förderer der deutschen Sprache war, daß seine Liebe, ja Leidenschaft für die deutsche Sprache, »den Ursprung und Sprungquell des europäischen Wesens«, zu seinen schönsten und reinsten Zügen gehört.

Die nichtswürdige Behandlung, die die Akademie sich von dem Soldatenkönig gefallen ließ, ist oft historisch und ebenso oft satirisch dargestellt worden. Aber vor Harnack nicht ganz richtig und von Harnack selbst doch wieder schonend. Den König Friedrich Wilhelm I. trifft kein schlimmer Vorwurf. Ein barbarisch tüchtiger Monarch. Er gab den Gelehrten, die er verachten mußte, ehrliche Fußtritte – »nicht nur moralische«, sagt Harnack - ; er setzte seinen infamen Narren Gundling zum Präsidenten der Akademie ein. Warum nicht? Die Schmach bestand darin, daß die Herren nicht widersprachen, wie sie nachher der geistigeren und geistreichen Tyrannei Friedrichs des Großen nicht widersprachen und wie sie immer jeden Befehl eines königlichen Narren ausführen würden.

Übrigens lag die Sache mit dem Präsidenten Gundling doch noch schlimmer, als die Legende sie darstellt. Wenn Gundling einfach ein Narr gewesen wäre, so wäre seine Ernennung eben nur ein roher Spaß des Königs gewesen. Aber dieser Gundling war ein Gelehrter, war Professor. Sparsamkeit des Königs machte Gundling brotlos, und als er dann aus Not zum Spaßmacher in Wirtshäusern geworden war, der König ihn als lustigen Rat schätzen lernte und ihn zugleich als Zeitungsreferenten und als Prügelknaben im Tabakskollegium benützte, da scheint es wieder die Sparsamkeit des Königs gewesen zu sein, die das Gehalt eines Präsidenten der Akademie gerade gut genug für seinen Gundling[471] fand. Nicht mehr bloße Sparsamkeit, ein grotesker Übermut des Königs war es, als er nach dem Tode Gundlings, 1731, die Verfügung in Gnaden erließ, jährlich 200 Thaler »sub Titulo Vor die sämmtliche königl. Narren zur Rechnungs-Ausgabe bringen zu lassen«. Auch diese äußerste Beschimpfung hat die Akademie hingenommen und neun Jahre getragen. Erst Friedrich d. Gr. machte dem Unfug ein Ende. Wenige Tage nach seiner Thronbesteigung. »Ich habe resolvieret, daß in dem Etat von nun an die odiöse Ausgabe, Vor die sämmtlichen königlichen Narren' cessieren soll.«

Auch Friedrich also war der Akademie ein tyrannischer Herr. Ohne Präsidenten – d'Alembert zog es vor, unverantwortlicher Ratgeber zu sein – beherrschte Friedrich später die Akademie, wie er sie vorher über den Präsidenten Maupertuis hinweg beherrscht hatte. Nach seinem Belieben ernannte er ihre Mitglieder. Und hatte sie unter dem Vater den lustigen Rat als Präsidenten geduldet, so nahm sie unter dem Sohne die Ernennung des Lieblings oder Mignons Keyserlingk geduldig hin. Selbst der barbarische Hohn des Vaters klingt einmal an. Da Voltaires erster Besuch sehr viel Geld kostet, schreibt Friedrich an einen Vertrauten, das sei ein wenig zu teuer für einen Hofnarren1.

Friedrich war eben absoluter Herr auch in seiner Akademie. Und darum handelt es sich mir, daß auch unter der Präsidentschaft von Maupertuis nichts geschah, was der König nicht diktiert hätte. Noch war damals Friedrich kein Menschenfeind und Volksverächter, noch hatte er die Resignation nicht erlebt, mit der er später sich begnügte, das alte Gebäude zu unterminieren, sich bei seinen Reformen mit einem à peu près zu begnügen; um so herrischer hoffte er noch seine persönliche Weltanschauung zu der Überzeugung Europas zu machen. Und diese fridericianische Weltanschauung war, mit welchen Worten immer man sie zudecken mag, die eines atheistischen Pessimisten. In seinem tiefsten Gewissen wußte er von sich, daß Eitelkeit oder Ruhmsucht[472] ihn zum Kriegshelden und zum Volksbeglücker angespornt hatten; und er verachtete die eigene Ruhmsucht. Ein Pessimist, der am Fortschritt mitarbeitet, weil ihm sa Majesté le Hasard das chien de métier eines Königs zugeworfen hat. Wie mag später der alte Fritz (1777) ingrimmig gelacht haben, als er seine Akademie, nach einem Vorschlage d'Alemberts, mit der Preisfrage in Verlegenheit setzte: S'il peut être utile de tromper le peuple. Die Akademie schwankte lange bei der Formulierung und bei der Beantwortung der furchtbaren Frage. Der König hatte nie geschwankt, der gekrönte Macchiavell. Selbst seinen Atheismus und Materialismus gab er preis, wenn seine Königspflicht das Opfer zu fordern schien. So opferte er seinen La Mettrie (als die Materialisten eher Verfolger als Verfolgte geworden waren) gegen seine Überzeugung. Er schreibt darüber (1761) an d'Argens: j'ai été oblige d'abandonner La Mettrie; c'est un enfant perdu, qu'il m'a fallu sacrifier dans le combat; mais, s'il est devenu une victime nécessaire, j'ai bien arrose son tombeau du sang des théologiens, et j'espère qu'à l'avenir on ne dira plus qu'on peut juger de la façon de penser du Philosophe de Sans-Souci par les ouvrages du médecin La Mettrie.

Die stärksten Beweise dafür, daß Friedrich nach Temperament und Weltanschauung ein Gegner des damals landläufigen Optimismus war, hole ich mir aus seinem Briefwechsel mit Voltaire.

Dieser Briefwechsel ist nicht immer erfreulich. Der gefürchtetste und stärkste Schriftsteller und der stärkste König der Zeit überbieten einander mit kriecherischen Schmeicheleien, sie betrügen einander, vor und nach den Skandalen des Bruchs. Der König ist nicht groß vor seinem Kammerdiener, der Kammerherr nicht groß vor seinem König. Auch die Blasphemien sind nicht immer amüsant. Aber darüber hinaus ist es doch eine Lust, Zeuge zu werden, wie diese zwei Männer, einig und groß im Streben nach einer Wahrheit, die überlieferte Weltanschauung zertrümmern helfen. Zwei Titanen mit häßlichen Menschenzügen.

Voltaire bleibt immer derselbe; er ist selbstverständlich der überlegene Schriftsteller, witzig und elegant. Aber er wächst[473] nicht mehr; er glaubt an seine Schlagworte: vertu, humanité, tolérance, liberté. Friedrich wächst. Fast schüchtern naht der Kronprinz dem weltberühmten Voltaire: un rimeur du fond de la Germanie, un écolier, un avorton de philosophe. Nur zur Skeptik, zu einem pyrrhonisme affreux bekennt er sich zunächst dem wortabergläubischen Deisten gegenüber. Besonders glänzend ist Friedrichs Verteidigung des Determinismus gegenüber Voltaires liberté. Fast eine siegreiche Streitschrift. Der Mensch habe keinen freien Willen. Friedrich glaube überhaupt nicht an Worte. »Je vous abandonne volontiers le divin Aristote, le divin Platon, et tous les héros de la philosophie scholastique. C'étaient des hommes qui avaient recours à des mots pour cacher leur ignorance.« Sein Menschenhaß ist noch nicht hart, fast noch traurig: »le plus parfait tient toujours à l'humanité par un petit coin d'imperfection«. Erst da er König geworden, richtet sich Friedrich mit einem Ruck vor Voltaire auf, und seine Weltverachtung enthüllt sich am Tage seiner Thronbesteigung; er meldet sie mit folgenden Worten: »Mon cher ami, mon sort est change, et j'ai assiste aux derniers moments d'un roi, à son agonie, à sa mort. En parvenant à la royauté, je n'avais pas besoin assurément de cette leçon pour être degoûté de la vanité des grandeurs humaines.« Zwei Jahre später: »Je m'imagine que Dieu a créé les ânes, les colonnes doriques et nous autres rois, pour porter les fardeaux de ce monde.« 1759: »Plus on vieillit et plus on se persuade que sa sacré majesté le Hasard fait les trois quarts de la besogne de ce misérable univers.« Ferner: »Croyez-vous qu'il y ait du plaisir a mener cette chienne de vie?... l'homme restera, malgré les écoles de philosophie la plus mechante bête de l'univers.« 1760: »Tout homme a une bête féroce en soi; peu savent l'enchaîner, la plupart lui lâchent le frein lorsque la terreur des lois ne les retient pas.« 1770 hat Voltaire ihm gegen den Atheismus gepredigt; Friedrich läßt in seiner Antwort durchblicken, daß er das atheistische Systeme de la nature billige; seine Maxime sei aber d'attendre que le siècle soit assez éclairé pour qu'on puisse impunément penser tout haut. 1777: »Il y a un lévin de férocité dans le coeur de l'homme, qui reparaît souvent quand on croit[474] l'avoir d'étruit. Ceux que les sciences et les arts ont décrassés sont comme ces ours, que les conducteurs ont appris a danser sur les pattes de derrières; les ignorants sont comme les ours qui ne dansent point.« Und im vorletzten Briefe: »Si l'on ne vole point, si l'on n'assassine point, c'est qu'on est sûr d'être incontinent découvert et saisi.«

Die Timon-Stimmung Friedrichs war den Zeitgenossen wohl bekannt. Kant wünscht allerdings lieber Belachen als Verachtung, will eher Torheit als Bosheit in dem Charakterzuge unserer Gattung hervorstechen finden, da er am Schlüsse seiner Anthropologie eine bitterböse Äußerung Friedrichs zum besten gibt. Als Sulzer in einem Gespräche über Erziehungsfragen das Rousseausche Schlagwort vorbrachte, daß der Mensch von Natur gut sei, sagte der König: »Ah, mon cher Sulzer, vous ne connaissez pas assez cette maudite race, a laquelle nous appartenons.« Mit philologischer Akribie stelle ich fest, daß die Worte in Nicolais Anekdotensammlung etwas anders lauten: »Vous ne connaissez pas comme moi« usw.

Man müßte zu den finstersten Feinden des Menschengeschlechts greifen, zu Hobbes oder zu Swift, um vor Schopenhauer so viel Pessimismus beieinander zu finden wie in den Briefen Friedrichs; dazu wird man das Gefühl nicht los, daß Friedrich noch unterdrückt und seine Timon-Stimmung selbst Voltaire gegenüber nur selten und nicht laut ausbrechen läßt. Dieser Pessimist nun ist nicht Literat von Profession, will als König, auch wenn er es könnte, keine Umsturzwerke schreiben. Er will minieren. Er ist Herr einer Akademie, die der Begründer des Optimismus ins Leben gerufen hat. Auf den Universitäten seines Reiches wird immer noch die Philosophie dieses Leibniz als die einzige Philosophie gelehrt. Da ist es an der Zeit, eine Preisfrage zu stellen, die die Welt zwingen wird, die Berechtigung des Optimismus zum ersten Male gründlich zu prüfen. Friedrich hatte gewiß dem Worte Schopenhauers zugestimmt, der Optimismus sei eine ruchlose Weltanschauung. Die Gelehrten, die sich um den Preis bewarben, verstanden die Bedeutung der Frage wohl nicht ganz.[475]

IV.

Zur Zeit der Preisfrage war als Vertrauter oder als Vertrauensmann des Königs Maupertuis Präsident der Akademie. Dessen Todfeindschaft gegen Voltaire (Voltaire wäre gern selbst Präsident der Akademie geworden und schrieb mit darum ein infam witziges Pamphlet gegen Maupertuis, das Friedrich heimlich belachte und öffentlich verbrennen ließ) verhinderte ihn aber nicht, im großen ganzen in den Fragen nach den letzten Dingen mit Voltaire übereinzustimmen. Vielleicht doch nicht ganz mit dem König. Friedrich war Skeptiker, wenn es je einen gegeben hat. Ein Schüler Pierre Bayles. Staatsraison brachte ihn dazu, seinen Atheismus mehr und mehr für sich zu behalten und am Ende seines Lebens eine geläuterte Religion, womöglich ohne Pfaffen, den Deismus der Engländer und Voltaires zu unterstützen. Der Deismus sollte das Nationalgericht des deutschen Volkes werden. Der Skeptiker Friedrich bekannte sich zu keinem bestimmten philosophischen System; Literatur, Königspflichten, Kriege und Musik hatten seine Zeit doch zu sehr in Anspruch genommen; als Philosoph hielt er zu viel von den Alten, von Cicero und Marc Aurel, als daß er das Neue hätte studieren können; der große Fritz kannte die großen fritzischen Geister so gut wie gar nicht, Kant ebenso wenig wie Lessing und Goethe. Und der Gegensatz zwischen den neueren Engländern auf der einen Seite, dem alten Wolf und dem toten Leibniz auf der andern Seite interessierte den Skeptiker wohl gar nicht. Für Maupertuis und seine Leute war aber dieser Gegensatz von der größten Wichtigkeit. Heute können wir rückblickend sagen, daß beide Personengruppen, die Nachfolger von Leibniz und die Nachfolger von Locke, nacheinander an dem mitgearbeitet haben, was man lange genug rühmend die Aufklärung und dann verächtlich Aufklärerei oder gar Aufkläricht genannt hat. Um 1750 sah man das Gemeinsame noch nicht, konnte nur die Unterschiede sehen. Im Vernichtungskampfe gegen die Kirche schienen die Engländer bessere Bundesgenossen als die beiden deutschen Philosophen. Dazu kamen noch menschliche Reibungen, Absichten und kleine Niedrigkeiten. Der[476] altgewordene Wolf und der altgewordene Gottsched kämpften um ihre Rühmlein, Gottsched beinahe männlicher als Wolf. Zu alt zum Umlernen, mußten sie ihren Leibniz verteidigen, wenn sie nicht mit ihm zu den Toten geworfen werden wollten. Unter den Positionen von Leibniz war aber keine so schwach als sein Lehrgebäude des Optimismus. Klugheit und Temperament (Maupertuis2 und Friedrich waren Pessimisten und wiederholten gern: la somme des maux surpasse celle des biens) ließen Maupertius vor allem diese Position angreifen; und der Kampf entbrannte von dieser Stelle aus. Die Gruppen, die sich schon in dem Duell Voltaire-Maupertuis gebildet hatten, hielten auch im Streite um den Optimismus zusammen. Es ist sogar wahrscheinlich, daß des Mathematikers König Eintreten für die Monadenlehre, für Leibniz und Wolf, der erste Anlaß zu dem Akakiaskandal, zum Zorne Maupertuis' und zu dem Zwist zwischen Friedrich und Voltaire gewesen war.

Harnack, dessen Darstellung (I, 304-465) ich sonst natürlich folge, spricht es nicht klar aus, daß auch die Preisfragen der Akademie vom Könige diktiert waren. Die Schärfe der Tendenz scheint denn doch über die Kraft von Maupertuis hinauszugehen, wenn auch die Tendenz nicht über seine Meinung. Aber ein gewisses Versteckenspielen sowohl der Monadenlehre wie dem Optimismus gegenüber mag freilich darauf zurückzuführen sein, daß der »Papst der Akademie« (so nannte Friedrich einmal seinen Präsidenten) auf beide Parteien Rücksicht nehmen mußte.

Die Frage von 1753 (für 1755) lautete: »On demande l'examen du système de Pope, contenu dans la proposition: Tout est bien. Il s'agit: 1. de déterminer le vrai sens de cette proposition, conformèment à l'hypothèse de son auteur. 2. De la comparer avec le système de l'optimisme, ou du choix du meilleur, pour en marquer exactement les rapports et les différences.[477] 3. Enfin d'alléguer les raisons qu'on croira les plus propres à établir ou à détruire ce système.«

Man weiß jetzt, wie menschlich es bei der Abstimmung zugegangen ist: daß die Entscheidung gegen den Optimismus nur durch Umfall eines Leibnizianers ermöglicht wurde. Einerlei, die französische Akademie des preußischen Königs unter dem französischen Präsidenten Maupertuis hatte der Verurteilung zugestimmt, die nach der Anschauung nicht nur der alten Herren eine Verurteilung des Idealismus und der Religion war. Wir finden erlauchte Namen unter den Männern, welche nachher die Partei von Leibniz gegen die Akademie nahmen: Lessing und Kant.

Bevor wir uns aber den Schriften dieser beiden zuwenden, noch ein Wort über die preisgekrönte Arbeit selbst und über einige namenlose Nebenarbeiten, die in der Ausgabe mit abgedruckt sind.

Den Preis erhielt – wie gesagt – A. F. Reinhard, Sécrétaire de Justice de S. A. M. le Duc de Mecklenburg-Strelitz. Die Abhandlung ist in französischer Sprache geschrieben oder doch veröffentlicht; in einem fragwürdigen Französisch, das Wörter bringt wie praelection (Vorlesung) und finitude. Reinhard stellt sich auf den Boden des halb vergessenen Crousaz, der scharf gegen Leibniz geschrieben hatte, aber auch gegen die Skeptiker, obgleich er wohl im Herzen selbst ein Skeptiker war. Auch Reinhard ist kein ganz starker Geist; er versucht das Spiel zu verlachen, das Leibniz mit den Begriffen Freiheit und Notwendigkeit treibt (S. 38: »jusqu'à quand nous laisserons-nous éblouir par des mots vides de sens?«), arbeitet aber mit den Begriffen perfection und bonté de Dieu und schließt sogar (S. 48) mit einem frommen Blick ins Jenseits. Ist dabei sowenig scholastisch, daß er den Begriff der Freiheit mit la plupart des philosophes modernes zu verwerfen scheint, daß er ganz fein mit Epikur für möglich hält, die Figur eines Vierecks könnte ebenso parfaite sein wie die des Kreises. Mit der Metaphysik Reinhards, daß nämlich unter der Vollkommenheit der Welt ihre Realität verstanden werden könnte, haben die Preisrichter wohl ebenso wenig anzufangen gewußt wie ich. Wir werden noch sehen, wie Kant in diesen Gedanken einhakte.[478] Aber am Ende seiner Ausführungen gibt Reinhard seine eigene Meinung gegen Leibniz, trotz der antinomischen Form, deutlich und kräftig zu verstehen: »Le Monde le plus parfait absolument de tous les possibles, est une Chimère« (S. 44), »l'homme doit être content de son état puisque Dieu ne lui doit rien« (S. 46), »ces motifs de consolation et de tranquillité tires du système de l'optimisme sont aussi vague qu'incapable de nous soulager des maux que nous souffrons. Quelle consolation que de savoir que nous sommes malheureux par ce que le bien des autres êtres et la constitution de l'Univers le demandent!... c'est se moquer de moi que de me donner de telles consolations« (S. 47). Formey, noch weit mehr vergessen als Crousaz, spielte eine Rolle bei der Zuerkennung des Preises, und Formey war ein Anhänger von Crousaz. Kleine Menschen entschieden über große Prinzipien.

Hinter der Preisschrift sind einige von den andern Arbeiten mit abgedruckt, die alle auf die Worte von Leibniz schwören und mit ihrem Nachmittagspredigerton die Wage nicht leicht ins Schwanken bringen konnten. Ein französischer discours (Nr. 6) beginnt mit dem Satze: Mit dieser Frage der Akademie hätten sich von Moses bis Pope alle großen Genies beschäftigt. Eine deutsche Abhandlung (Nr. 3) zitiert für die Konkurrenz der Académie royale des sciences et belles lettres de Prusse den Pope nur in einer französischen Übersetzung, stellt sich mit beiden Füßen auf den Standpunkt der Theodicee, unterstützt ihre Gründe aber mit einem nicht übeln und unakademischen Vergleiche (S. 19): »Man setze, ein Herr, der Seltenheiten liebet, nimmt zur Verfertigung eines sonderbaren Kunststücks einen Meister an, der würklich der allergeschickteste dazu ist, und es vollkommner, als irgend ein Anderer, machen kann, auch in der Tat so machet... Nun setze man ferner, daß dieser Künstler, bey seiner Arbeit, des Vormittags etwa immerfort pfeift oder singt; des Nachmittags hergegen sehr starck Taback raucht, und mithin zum Öftern einige Minuten auf die Füllung und Anzündung seiner Pfeiffe verwendet.« Da finde sich, wie in der Welt, an dem bestmöglichen Mittel etwas, das zu dem Zwecke nichts beiträgt oder gar hinderlich sei.[479]

Lessings Beantwortung der Preisfrage ist kein Meisterstück geworden, schon darum nicht, weil die Abhandlung »Pope ein Metaphysiker!« in Gemeinschaft mit dem subalternen Mendelssohn verfaßt wurde und weil gerade die Verteidigung des Optimismus gegen die Akademie offenbar von Mendelssohn herrührt. Aber die Tatze Lessings ist dennoch dort zu spüren, wo die ganze Fragestellung der Akademie an den Pranger gestellt wird. »Wenn ich der Akademie andere Absichten zuschreiben könnte, als man einer Gesellschaft, die zum Aufnehmen der Wissenschaften bestimmt ist, zuschreiben kann, so würde ich fragen, ob man durch diese befohlene Vergleichung mehr die Popeschen Sätze für philosophisch oder mehr die Leibnizischen Sätze für poetisch habe erklären wollen« (18, S. 48). Lessing, dem es dabei nur um eine Rettung von Leibniz zu tun war, griff zunächst nur das schlaue Spiel an, das Leibniz treffen wollte und Pope vorschob. Lessing war so gut fritzisch wie der junge Goethe; aber die Niedrigkeiten der akademischen Menschen sah er näher und besser, als wir sie aus den Urkunden erkennen können, sah sie mit der Bitterkeit des zurückgestoßenen Magisters (später erst wurde er, und ohne Vorwissen des Königs, zum Mitglied ernannt), sah die Einseitigkeit von Friedrichs Genialität und kam so zu seinem harten Urteile über die berlinische Freiheit zu denken und zu schreiben: »sie reduziert sich einzig und allein auf die Freiheit, gegen die Religion so viele Sottisen zu Markte zu bringen, als man nur will.« So ist die Antwort Lesings eine Verurteilung der Akademie, nicht eine Verurteilung des Optimismus. Lessing war damals noch ein Anhänger von Leibniz, wenn er es nicht eigentlich sein Leben lang geblieben ist. Er war imstande, auch da der Erste in Deutschland, Spinozas Größe zu erkennen; aber Spinozas Resignation, Spinozas Ablehnung aller Wertmaßstäbe, also auch des Optimismus, war ihm doch nicht in Fleisch und Blut übergegangen.

Auch Kant hat kein Meisterwerk geschrieben, da er 1759 den »Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus« als Ankündigung seiner Vorlesungen für das nächste Semester herausgab. Da in dieser kleinen Schrift in einem wichtigen Punkte gegen[480] Reinhards Preisschrift polemisiert wird, so ist es nicht genau richtig, wenn Harnack (I, 410) sagt, Kants Name trete 1763 zum erstenmal in Verbindung mit der Akademie auf, damals nämlich, als Kant und Mendelssohn sich um den Preis für die Frage bewarben: »Sind die metaphysischen Wissenschaften derselben Evidenz fähig wie die mathematischen?« – als die Akademie dem glatten Mist von Mendelssohn den Preis zuerkannte, der gewaltig ausholenden Abhandlung von Kant, die dem Dogmatismus der Wolfschen Philosophie einen tödlichen Streich versetzt hat, nur das Accessit.

Kants logische Verteidigung des Optimismus richtete sich also nicht bloß gegen die orthodoxe Theologie, wie eine Briefstelle von ihm angibt, sondern auch gegen die Tendenz der Berliner Akademie. Kant war damals noch nicht der Kant der Vernunftkritik. Er las in jenem Semester: Logik, wie gewohnt »über Mayern«, Metaphysik und Ethik »über Baumgarten«, reine Mathematik und die mechanischen Wissenschaften nach Wolf und dazu »die physische Geographie über die eigene Handschrift«. Der deutsche Professor alten Stils, während in Frankreich und England Staatsmänner Philosophie treiben und Philosophen schon zur Leitung des Staates berufen werden. Eine kleine Welt, aus der heraus Kant später seine zermalmenden Gedanken spann, aus der heraus er schon damals mit einer frühen Spur Kantischen Scharfsinns den Begriff der Vollkommenheit untersuchte. Das Verhältnis der Begriffe Vollkommenheit und Realität, das Reinhard gestreift hatte, reizt Kant zu einer vorläufig nur formalen Untersuchung. »Diese Betrachtung ist abstrakt und würde wohl einiger Erläuterungen bedürfen, welche ich aber anderer Gelegenheit vorbehalte« (W. II. 31). Kantforscher mögen untersuchen, ob Kant nicht in der Hypothese, Vollkommenheit sei Realität, schon damals die Mausefalle des ontologischen Gottesbeweises erkannte, ob er seinen Gegenbeweis nicht schon in den angeführten Worten angekündigt hat. Die logischen Schnitzer der theologischen und der materialistischen Gegner des Optimismus, dazu sein gläubiges Herze, bringen ihn dazu, sich auf die Seite des alten Optimismus zu schlagen und sich »bei den Feinden« nicht länger aufzuhalten.[481]

Aus gläubiger Seele schreit er auf: »Ich rufe allem Geschöpfe zu, welches sich nicht selbst unwürdig macht, so zu heißen: Heil uns, wir sind! und der Schöpfer hat an uns Wohlgefallen. Unermeßliche Räume und Ewigkeiten werden wohl nur vor dem Auge des Allwissenden die Reichtümer der Schöpfung in ihrem ganzen Umfange erschöpfen, ich aber aus dem Gesichtspunkte, worin ich mich befinde, bewaffnet durch die Einsicht, die meinem schwachen Verstande verliehen ist, werde um mich schauen, soweit ich kann, und immer mehr einsehen lernen: daß das Ganze das Beste sei und alles um des Ganzen willen gut sei

V.

Man achte nun darauf, wie weit Friedrich mit seiner Abkehr vom Optimismus und mit der Preisfrage seiner Akademie der deutschen Welt vorausgewesen sein muß, wenn niemand aus der revolutionären, neuen Generation, wenn weder der Erneuerer der deutschen Poesie, noch der Erneuerer der Philosophie ihm zu folgen vermochten. Nun will ich nicht in den Fehler verfallen, der an aller Geschichtsausschreibung der verführerischste ist: die Bedeutung eines einzelnen Datums zu übertreiben und zu überschätzen. Zum Umsturz der christlichen Weltordnung haben natürlich andere Faktoren mehr und sichtbarer beigetragen als die Preisschrift der Berliner Akademie von 1755. Die englische Philosophie mit ihrem Psychologismus war es, die erst eine erkenntnis-theoretische, eine sprachkritische Behandlung der sogenannten letzten Fragen möglich machte, die erst Erkenntnistheorie an die Stelle setzte, die vorher durch tausend Jahre der christliche Glaube eingenommen hatte. Es war aber doch nichts Kleines, daß der Atheist auf dem Throne, der schon damals die Welt auch durch seine Siege verblüfft hatte, auf geistigem Gebiete Wort hielt und nicht nur ein Beschützer, sondern ein Führer der Freidenker wurde.

Leugnen will ich nun doch nicht, daß ein Zufall mich verlockt hat, die Folgen jener Preisschrift von 1755 genauer zu betrachten. Das Jahr 1755 ist entscheidend für die Geschichte der abendländischen Weltanschauung durch Ereignisse, die mit der Preisschrift[482] der Akademie freilich keinen ursächlichen Zusammenhang haben. Im Jahre 1755 erschien Kants »Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt«. Anonym, trotzdem dem Könige gewidmet. Entsetzlich byzantinisch gewidmet. Daß Friedrich Wetteifer mit andern Nationen wünsche, wird betont. Friedrich hat das Buch wahrscheinlich nicht zu Gesicht bekommen. Die Zeitgenossen haben das Buch, dessen Verleger bald nach dem Erscheinen Bankerott machte, nicht gelesen. Noch Laplace wiederholte 40 Jahre später die Kantsche Theorie, ohne Kant zu nennen, vermutlich ohne ihn zu kennen. Erst im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts gewann die Theorie, die man jetzt die Kant-Laplacesche nannte, ihre Weltbedeutung. Und sie wird ihr bleiben, wenn auch die Angriffe, die eben wieder gegen sie erfolgen, aus mechanischen Gründen richtig sein sollten. Die Rechnung wird anders ausfallen, in Kleinigkeiten wie der Frage nach der Zusammensetzung des Stoffes; die Ableitung von einem mechanischen Ursprunge wird nicht gestürzt werden, insoweit es sich nur um die Bewegungsfrage handelt.

Unmittelbarer wirkte das andere Ereignis von 1755, das reale Erdbeben, das just am Tage Allerheiligen (der Umstand blieb nicht unbemerkt) die Stadt Lissabon zerstörte und viele zehntausend Menschen fast in einem Augenblicke tötete, zerriß oder in die Flammen warf. Es lag kein vernünftiger Grund vor, gerade dieses furchtbare Unglück zu einer Gegeninstanz gegen Gott und den Optimismus zu machen. Das Mittelalter war durch Pest und Krieg nur noch frommer geworden. Aber das Erdbeben von Lissabon traf die Zeitgenossen von Voltaire und Friedrich, und die Wirkung war ungeheuer. »Wir haben keinen guten Vater im Himmel« antwortete die Menschheit vom Mittelmeer bis nach Skandinavien. Wer sich in der Literatur dieses Ereignisses umgesehen hat. der wird mein Urteil nicht für unüberlegt halten, daß seit der Kreuzigung Jesu Christi keine Tatsache für die abendländische Menschheit so folgenreich wurde,[483] wie dieses Erdbeben von Lissabon. Ich zitiere zunächst nur Goethe, der doch zur kritischen Zeit erst sechs Jahre alt war (Dichtung und Wahrheit, I. Buch): »Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im tiefsten erschüttert... hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen... Ja, vielleicht hat der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet. Der Knabe, der alles dieses wiederholt wahrnehmen mußte, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen.« So schrieb noch der abgeklärte Goethe mehr als 50 Jahre nach dem Ereignis, das doch dem Kinde nur wie das ferne Sausen in einer Muschel, die man ans Ohr hält, zum Erlebnis geworden sein konnte. Leidenschaftlicher erklangen die Rufe erwachsener Zeitgenossen. Eine Zusammenstellung aller Schriften und Briefstellen aus den Monaten nach dem Erdbeben wäre eine Anklageliteratur von ganz anderer und prinzipiellerer Art als die, die vor nun 30 Jahren ihre Waffen von Schopenhauer borgte.

Eine Ausnahmestellung nimmt Kant ein. Auch er ist aufs äußerste erregt, aber der jugendliche Magister, der eben für sich allein die neue Kosmogonie geschaffen hat, schaut auf das Entsetzen mit der Ruhe eines Weltbaumeisters. In einer großen Abhandlung und in zwei gründlichsten Zeitungsaufsätzen (vom Januar bis zum April 1756) will er die Ursachen des Erdbebens untersuchen und womöglich die bösen Folgen künftiger Erdbeben abschwächen. Keine Anklage gegen die Vorsehung. »Große Begebenheiten, die das Schicksal aller Menschen betreffen, erregen mit Recht diejenige rühmliche Neubegierde, die bei allem, was außerordentlich ist, aufwacht und nach den Ursachen derselben zu fragen pflegt.« Nur keine blinde Unterwerfung unter die Härte des Schicksals. »Wenn man fragt, ob auch unser Vaterland Ursache[484] habe, diese Unglücksfälle zu befürchten, so würde ich, wenn ich den Beruf hätte, die Besserung der Sitten zu predigen, die Furcht davor um der allgemeinen Möglichkeit willen, die man freilich hierbei nicht in Abrede stellen kann, in ihrem Werte lassen.« Wenn er also ein Pfaffe wäre, so würde er den Schrecken vor einem Erdbeben zur Einprägung der Frömmigkeit benützen; er will aber nur dem Erdbeben seine Geheimnisse ablauschen, um den Menschen zu nützen. Nicht eine furchtbare Schilderung geben. »Eine solche Erzählung würde rührend sein, sie würde, weil sie eine Wirkung auf das Herz hat, vielleicht auch eine auf die Besserung desselben haben können. Allein ich überlasse diese Geschichte geschickteren Händen. Ich beschreibe hier nur die Arbeit der Natur.« Selbst von dem Nutzen der Erdbeben wagt er zu sprechen. »Man wird erschrecken, eine so fürchterliche Strafrute der Menschen von der Seite der Nutzbarkeit angepriesen zu sehen... so sind wir Menschen geartet. Nachdem wir einen widerrechtlichen Anspruch auf alle Annehmlichkeiten des Lebens gemacht haben, so wollen wir keine Vorteile mit Unkosten erkaufen... Als Menschen, die geboren waren, um zu sterben, können wir es nicht vertragen, daß einige im Erdbeben gestorben sind... Wir wissen, daß der ganze Inbegriff der Natur ein würdiger Gegenstand der göttlichen Weisheit und seiner Anstalten sei, wir sind ein Teil derselben und wollen das Ganze sein.« Ich kann Kant für diesmal nicht verlassen, ohne noch einen Satz feinster Weisheit abzuschreiben: »Die Natur entdeckt sich nur nach und nach. Man soll nicht durch Ungeduld das, was sie vor uns verbirgt, ihr durch Erdichtung abzuraten suchen, sondern abwarten, bis sie ihre Geheimnisse in deutlichen Wirkungen ungezweifelt offenbart.« Der Forscher Kant hat fast seine Freude am Erdbeben; wie ein Entomologe an einem neuen Insekt.

Die geschickteren Hände, denen Kant die rührende Geschichte überlassen wollte, waren bereit. Voltaire, der Advokat aller unschuldig Verfolgten, erhob seine Stimme für die Opfer des Erdbebens von Lissabon. Zuerst unmittelbar nach dem Ereignis in einem schwerfälligen Lehrgedicht mit Vorwort und Anmerkungen, dann in dem unvergleichlichen und unsterblichen Candide.[485]

Das Gedicht ist betitelt »Poème sur le désastre de Lisbonne ou examen de cet axiome: tout est bien.« Der Angriffspunkt ist also wieder wie für die Preisaufgabe der Berliner Akademie Popes: all is right. Zur Probe nur einige Alexandriner, die damals rasch berühmt wurden:

»Philosophes trompes, qui criez tout est bien.«

... »Lisbonne qui n'est plus eut-elle plus de vice

Que Londres, que Paris plongés dans les délices?

Lisbonne est abymée, et l'on danse à Paris.«

...»Tout est bien, dites-vous, et tout est nécessaire.

Quoi? L'univers entier sans ce gouffre infernal,

Sans engloutir Lisbonne, eût il été plus mal?«

... »Je respecte mon Dieu, mais j'aime l'univers.«

... »II le faut avouer, le mal est sur la terre.«

... »Nul ne voudrait mourir, nul ne voudrait rénaître.«

... »Je suis comme un docteur; hélas! je ne sais rien...

La balance à la main, Bayle enseigne à douter.

Assez sage, assez grand pour être sans systeme,

Il les a tous détruits et se combat lui-même.«

Viel prosaischer ist auch das Vorwort nicht. Der Grundsatz tout est bien hätte auch den Frommen nicht gefallen. Wäre alles gut, so wäre es falsch, von einem Abfall der menschlichen Natur zu sprechen. Wäre die menschliche Natur nicht verderbt, so hätte sie keinen Erlöser nötig gehabt. Auch als Fatalismus wurde der Optimismus angegriffen. Voltaire erklärt sich nach dem Erdbeben gegen den Optimismus: »Le mot tout est bien... n'est qu'une Insulte au douleur de notre vie« (»ruchlose Weltanschauung«).

Glücklicherweise hat es Voltaire bei diesem Lehrgedicht nicht genug sein lassen. Er veröffentlicht drei Jahre später das Meisterwerk, in dem er sich zu einer Größe aufrichtet, die kaum ihresgleichen hat. Wucherer, Schmeichler, Lügner, meinetwegen; es ist schwer, Voltaire ganz zu lieben. Aber er hat den Candide geschrieben, gegen den selbst die großen Possen von Aristophanes Spaße eines Kleinstädters sind. Die älteste Frage der Menschen, die nach dem Glück, mit einem Gelächter beantwortet, wie es nie vorher und nie nachher gelacht worden ist. Montaigne, Swift selbst hat dieses menschenkindliche Lachen nicht gehabt;[486] übermenschlich traurig der eine, unmenschlich bitter der andere. Weil D. F. Strauß in seinem sonst vorzüglichen Voltaire-Buch den Candide fast aus Erbarmen lobt, ihn für schwächer hält, als sein Ruhm ist, möchte ich mich zu dem kleinen Buche bekennen, das an Wirkung die große Revolution hätte aufwägen können, wenn es nach Gebühr von der abendländischen Menschheit verstanden und immer wieder gelesen worden wäre. »Candide ou l'Optimisme, traduit de l'Allemand de Monsieur le docteur Ralph.« Das Erdbeben von Lissabon, das im 5. Kapitel kurz behandelt wird, ist nicht mehr als andere Scheußlichkeiten des Menschenerlebens. Der Optimismus selbst wird vor Gericht gestellt, mit grimmiger Schonungslosigkeit, nicht mehr mit der theologischen Vorsicht des Poeme und des Vorworts. Die Theodicee, die Philosophie von Leibniz, das noch herrschende System wird mit ungeheurem Hohn überschüttet. Keine Figur des Romans ist so unheimlich grotesk wie die des optimistischen Philosophen Pangloss. Man hat immer gefühlt und gewußt, daß Leibniz persönlich gemeint sei. Aber niemand scheint bis jetzt gemerkt zu haben, daß der Name Pangloss auf Leibnizens lebenslange Versuche sich beziehe, eine Universalsprache zu erfinden, eine Pasilingua. Auch die Stelle im 30. Kapitel: »Pangloss fit un beau mémoire par lequel il prouvait que le baron n'avait nul droit sur sa sur, et qu'elle pouvait selon toutes les lois de l'empire épouser Candide de la main gauche -« geht direkt gegen Leibniz, den Rechtskonsulenten der deutschen Fürsten. Direkt gegen Leibniz geht auch im 4. Kapitel die Aufsuchung der raison suffisante, durch die Pangloss die Syphilis erlangt hätte. Nicht die Krankheit, die ist infame Erfindung, aber die Benützung des zureichenden Grundes für die historische Darstellung. »Paquette (das Kammerkätzchen) tenait ce présent d'un cordelier trés-savant qui avait remonté à la source, car il l'avait eu d'une vieille comtesse, qui l'avait reçu d'un capitaine de cavalerie, qui le devait a une marquise, qui le tenait d'un page, qui l'avait reçu d'un Jésuit, qui étant novice l'avait eu en droite ligne d'un des compagnons de Christophe Colomb. Pour moi, je ne le donnerai a personne, car je me meurs.«[487]

Ich gebe keine Proben der Bosheiten gegen den Optimismus. Candide ist nicht veraltet. Jedermann kann ihn lesen. Das Lachen Voltaires, ein unheiliges Lachen, hatte den Optimismus getötet. Und weil die Menschen immer ein Schlagwort haben müssen, um das Leben, das sie leben, nebenbei zu beschwatzen, wurde die Leere, die das Erdbeben von Lissabon und Voltaire geschaffen hatten, durch das Wort Pessimismus ausgefüllt. Durch das System des pedantischen Pessimismus. Bevor ich mich diesem Teil der Wortgeschichte zuwende, muß ich aber noch dreier Männer gedenken, von denen der Franzose und der Engländer ansteckend wirkten durch ihren Stimmungspessimismus, der Deutsche widerrechtlich für den pedantischen Pessimismus in Anspruch genommen worden ist; ich meine natürlich Rousseau, Swift und Kant.

VI.

Fast in gleicher Weise wie Voltaire das Denken seiner Zeit, hat Rousseau das Fühlen seiner Zeit beeinflußt; mit seinem Hasse der Kultur und der Konvention, mit seiner Sehnsucht nach einem paradiesischen Naturzustande der Menschheit. Man könnte aus Rousseaus Anklage gegen die kultivierte Menschheit einen ganzen Katechismus des Pessimismus zusammenstellen. Aber eine solche Arbeit wäre eine Fälschung. Rousseau war ein Weltverbesserer und mußte als solcher ein unverbesserlicher Optimist sein und bleiben. Nur die Menschen seiner Zeit waren schlecht, wurden von einem wachsenden Verfolgungswahn gesehen und geschildert; die Menschen einer Urzeit waren gut gewesen, und die Menschen der Zukunft, einer nahen Zukunft, würden wieder gut sein. Man hört die Glocken der großen Revolution läuten. Auch Robespierre, der fanatische Schüler Rousseaus, war ein Weltverbesserer. Die Menschen müssen gut und glücklich werden, und wenn man ihnen allen die Köpfe herunterschlagen müßte. Die Glocken der großen Revolution klingen fromm optimistisch.

In einem langen offenen Briefe über das Erdbebengedicht (vom 18. August 1756) hat sich Rousseau, verbissen und geschmeidig, mit Voltaire auseinandergesetzt. Immer innerlicher[488] und leidenschaftlicher als Voltaire, weiß Rousseau, wie eng die Frage nach dem Übel in der Welt mit dem Glauben an eine Vorsehung und an eine unsterbliche Seele (que j'ai le bonheur de croire) verknüpft ist. Rousseau schwatzt ein wenig. Aber wie so oft erhebt er sich in glücklichen Augenblicken über seinen Glockenturm, über die Kreuzblume, fast über das Denken der damaligen Menschen. Der Naturanbeter findet es absurd, daß man von dem bißchen Erdbeben von Lissabon so viel Aufhebens mache. Die Natur kümmere sich um so was nicht. Nur Menschen regen sich über eine zerstörte Stadt auf. Erdbeben kommen in Wüsten ebenso zustande wie in großen Städten. Mais nous n'en parlons point parce qu'il ne font aucun mal aux Messieurs de Ville, les seuls hommes dont nous tenions compte... serait-ce donc à dire, que l'ordre du monde doit changer selon nos caprices, que la nature doit être soumise ä nos lois, et que pour lui interdire un tremblement de terre en quelque lieu, nous n'avons qu'a y bâtir une ville? Und zu der unmenschlichen Hoheit eines Spinoza erhebt er sich, da er weiter sagt: »Vous dites que nul être connu n'est d'une figure précisément mathématique; je vous demande, monsieur, s'il y a quelque figure possible qui ne le soit pas, et si la courbe la plus bizarre n'est pas aussi regulière aux yeux de la nature, qu'un cercle parfait aux nôtres.«

Swift, der wildeste Menschenhasser, der je den Menschen Bücher hinterlassen hat, ist kein Weltverbesserer. Er glaubt nicht an die Vergangenheit und nicht an die Zukunft. Ein schamloser Egoist, käuflich, wohl auch böse. Er schickt sich an, ein Reisemärchen zu schreiben, und er findet Worte des Hohns für die armen Menschen, gegen die das bloße Schimpfen von Timon naive Expektoration ist. Ich erinnere nur an zwei Stellen: in dem Reiche der edeln Pferde sind die Menschentiere, die Yahoos, die einzigen, welche krank werden; in der Sprache der Pferde wird die Krankheit (wie alles Schlechte und Ekelhafte) das Yahoo-Übel genannt, »und die Arznei dagegen ist eine Mixtur von des Tieres eigenem Kot und Urin, welche man ihm mit Gewalt einschüttet. Ich habe öfters gesehen, daß diese Arznei die gewünschte Wirkung getan, und empfehle sie daher zum allgemeinen Besten[489] meinen lieben Landsleuten«. Und da er nach langem Aufenthalte bei den edlen Pferden Frau und Kinder wiedersieht, erregt ihr Anblick Haß, Ekel und Verachtung bei ihm. Ein Kuß seiner Frau läßt ihn in Ohnmacht fallen. »Das erste Jahr konnte ich die Gegenwart meiner Frau und Kinder nicht ausstehen; der bloße Geruch von ihnen war mir unerträglich.« Swift hat nur einzelne Menschen beeinflußt, die so glücklich waren, die Stimmung eines solchen Ekels vor den Menschen gelegentlich in Verse bringen zu können, sich aber sonst das Zusammensein bei Tag und Nacht nicht trüben zu lassen. Swift hat keine Schule gegründet. Die Reisen des Kapitäns Lemuel Gulliver haben ihre weiteste Verbreitung als ein kastriertes Kinderbuch gefunden.

Kant, auf den sich zu berufen jetzt zum guten Tone aller Schulen gehört, Kant, den Erfinder und Begründer des siegreichen kategorischen Imperativs der freudigen Pflicht, zum »Vater des modernen Pessimismus« zu machen, war dem Nähr- und Adoptivvater dieses Pessimismus vorbehalten, dem Abstraktionsvirtuosen Eduard von Hartmann. Mit seinen Terminis ließe sich rechter Hand, linker Hand alles vertauschen. Swift wäre dann der Vater des moralischen Entrüstungspessimismus, und das wäre nicht ganz wahr. Rousseau wäre der Vater des evolutionistischen Pessimismus und des eudämonologischen Optimismus, und das wäre wieder nicht ganz wahr. Es ist aber gänzlich falsch, Kant für den Pessimismus in Anspruch zu nehmen. Dem systematischen Pessimismus widerspricht Kants Wesen und Ziel immer und überall. Richtig ist nur, daß Kant, je älter er wird und je mehr seine unerhörte architektonische Geisteskraft nachläßt – post hoc, nicht propter hoc - , Äußerungen von sich gibt, die sich auf die Bosheit der Menschen beziehen. Und es ist immerhin ein Verdienst von Hartmann, gegenüber dem populären Geschwätz, das Kant wie einen christelnden Sonntagsprediger hinstellt, bittere und grimmige Aussprüche des in der Jugend und dann wieder im Alter einsamen Mannes gesammelt zu haben. Er hat es getan in der Abhandlung »Kant als Vater des modernen Pessimismus« (Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus IV.). Die meisten Schriften Kants, die Hartmann anführt,[490] sind aus seiner Spätzeit; Kant war müde, nicht ganz ohne Bitterkeit und hatte Rousseau stark auf sich wirken lassen; auch Swift zitiert er gern. Man erhält durch viele der angeführten Stellen ein realistischeres Bild von dem Menschenkenner Kant als aus seinen Jugendarbeiten. Dennoch ist es geradezu eine Fälschung zu nennen, natürlich die unbewußte Fälschung eines Monomanen, wenn Hartmann ihm immer wieder Begründung des Pessimismus unterschiebt, trotzdem Hartmann ganz gut weiß und es auch zugibt (S. 86), man würde das Wort Pessimismus bei Kant vergeblich suchen. Ich will eine gröbere Fälschung Kantscher Gedanken an einigen Stellen nachweisen.

Hartmann sagt im Sinne Kants (S. 66): »eine solche Glückseligkeitslehre ist eine unlösbare Aufgabe«; Kant aber sagt (Metaphysik d. Sitten 44, R.): »Die Imperativen der Klugheit seien nur Anratungen, die Aufgabe sicher und allgemein zu bestimmen; welche Handlung die Glückseligkeit befördern werde, sei völlig unauflöslich, mithin kein Imperativ in Ansehung derselben möglich.« Kant äußert sich also hier gar nicht über das Ziel der Glückseligkeit, sondern unterscheidet nur zwischen dem Imperativ der Klugheit und dem Imperativ der Pflicht.

Hartmann (S. 68): »Das Prinzip der eigenen Glückseligkeit ist das gerade Widerspiel von dem der Sittlichkeit«; Kant (Prakt. Vernunft 147. R.): »Das gerade Widerspiel des Prinzips der Sittlichkeit ist, wenn das der eigenen Glückseligkeit zum Bestimmungsgrunde des Willens gemacht wird... das Prinzip der Glückseligkeit kann zwar Maximen, aber niemals solche abgeben, die zu Gesetzen des Willens tauglich wären, selbst wenn man sich die allgemeine Glückseligkeit zum Objekte machte.« Selbst das »gemeinste Auge« müßte also sehen; Kant leugnet hier nicht die Möglichkeit der Glückseligkeit oder der Lust, sondern will Menschenglück nur aus dem höheren Gebiete des Willens ausschließen. Daß Kant übrigens seine Moral nicht auf das Gefühl der Lust begründen wollte, das war schon vor Hartmann einigermaßen bekannt. Für Kant sind Sittlichkeit und Glückseligkeit disparate Begriffe. Glück und Sittlichkeit des Menschen stehen in keinem logischen und in keinem ursächlichen Zusammenhange.[491] Hartmann zieht daraus den Schluß: wenn Glück nicht eine Folge von Sittlichkeit sei, so dürfe Glück aus moralischen Gründen überhaupt nicht sein; also sei der Pessimismus nach Kant eine unerläßliche Voraussetzung des moralischen Bewußtseins. Hartmann ist aber auch hier ehrlich genug, zuzugestehen, daß Kant diese greuliche Schlußfolgerung »in dieser präzisen Gestalt« nicht ausgesprochen habe.

Hartmann zitiert Kants »Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen,« (aus Kants vorkritischer Zeit von 1763), wo die Bilanz von Lust und Unlust, die Maupertuis gezogen hatte und die ungünstig ausgefallen war, wiedergegeben wird. Hartmann sagt: »Diesem Ergebnis vermag Kant damals noch nicht beizustimmen, aber doch nicht mehr aus optimistischer Voreingenommenheit, sondern weil er die Aufgabe aus technischen Gründen für unlösbar erachtet.« Das bemerkt Kant allerdings nebenbei auch; aber er schließt mit den Worten, die Hartmann nicht anführt: »Der Kalkül gab diesem gelehrten Manne ein negatives Fazit, worin ich ihm gleichwohl nicht beistimme«, d.h. deutlich: nicht aus technischen Gründen, sondern aus Überzeugung nicht beistimme (Ausgabe d. Akademie II, 182).

Auch das Verhältnis von Kant zu Rousseau wird schief dargestellt. Kant deutet Rousseau nur freundlicher, gesünder. »Rousseau wollte im Grunde nicht, daß der Mensch wiederum in den Naturzustand zurückgehen, sondern von der Stufe, auf der er jetzt steht, zurücksehen sollte« (Anthropologie Ak. VII, 326).

»Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (1793) bietet in dem Abschnitt »Der Mensch ist von Natur böse« für Hartmann reiche Ausbeute; Hartmann will übersehen, daß die stärksten Stellen Zitate aus pessimistischen Schriftstellern sind, eines sogar aus La Rochefoucauld, daß Kant diese Zitate selbst ein wenig spöttisch »eine lange melancholische Litanei von Anklagen der Menschheit« nennt, daß bei Kant ein langer Abschnitt »von dem Sieg des guten Prinzips über das böse« folgt. Und es ist nicht wahr, daß der Rat, das Auge vom Betragen der Menschen abzuwenden, um sein Wohlwollen nicht zu verlieren,[492] Kants letzte Meinung sei. »Menschen zu fliehen, aus Misanthropie, weil man sie anfeindet, oder aus Anthropophobie, weil man sie als seine Feinde fürchtet, ist teils häßlich, teils verächtlich« (Krit. d. Urteilskraft 136, R.). Und auf die Litanei selbst folgt die echt Kantische optimistische Lehre, daß auch der ärgste Mensch, der sich durch Selbstsucht zu unmoralischen Handlungen bewegen lasse, »auf das moralische Gesetz nicht gleichsam rebellischerweise, mit Aufkündigung des Gehorsams, Verzicht tue... kraft seiner moralischen Anlage« (Religion i. d. G. d. bl. V. 39, R.). Die Bösartigkeit der menschlichen Natur ist also nicht sowohl Bosheit als Verkehrtheit des Herzens, »welches nun, der Folge wegen, auch ein böses Herz heißt. Dieses kann mit einem, im allgemeinen, guten Willen zusammen bestehen; und entspringt aus der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur« (41). Die letzte Wortfolge hat sich Kleist zu eigen gemacht. Aber auch Kant selbst sprach es schon einem freiem, wenn nicht großem Geiste nach; Hume gebraucht (in der Schlußbetrachtung seiner »Naturgeschichte der Religion«) der treffenderen Ausdruck »Gebrechlichkeit der menschlichen Vernunft«.

Aus Kants »Tugendlehre« und »Pädagogik« führt Hartmann zwei Stellen als Lebensweisheiten des Pessimismus an und vergißt beide Male mit anzuführen, was Kants Hauptabsicht war. »Man muß dem Jünglinge zeigen, daß der Genuß nicht liefert, was der Prospekt versprach«, so sagt Kant wirklich (Ausg. R. IX, 438), aber vorher: Die kindische Furcht vor dem Tode wird wegfallen, wenn er einen geringen Wert setzt in den Genuß der Ergötzlichkeiten des Lebens. »Auf Fröhlichkeit und gute Laune muß man den Jüngling hinweisen.« Und wieder unterschreibt Kant den Grundsatz der Stoiker sustine et abstine; aber er leitet diese Lebensweisheit des Pessimismus mit den Worten ein: »Die Regeln der Übung in der Tugend gehen auf die zwei Gemütsstimmungen hinaus, wackern und fröhlichen Gemüts in Befolgung ihrer Pflichten zu sein« (353). Die Fröhlichkeit, die Kant auch als Greis zu predigen nicht aufhört, ist doch nicht ganz pessimistisch. Auch das Lachen, das Kant neben Voltaires Hoffnung und Schlaf zu den Himmelsgaben rechnet (Krit. d. Urteilskraft, R. 209), ist[493] ein fröhliches Lachen; kopfbrechendes, halsbrechendes oder herzbrechendes Lachen der Grübler, der Genies und der empfindsamen Romanschreiber (auch wohl dergleichen Moralisten) wird ausdrücklich abgelehnt.

Je klüger und raffinierter man sich Annehmlichkeiten des Lebens zuführe, desto weiter komme man von der Zufriedenheit ab; Kant sagt (Metaph. d. Sitten, 14 R.): »von der wahren Zufriedenheit«.

Hartmann hätte sich bei seinem verkehrten Versuch, Kant zum Vater des modernen Pessimismus zu machen, auf Herder berufen können, der in seinem wachsenden Hasse Kants Lehre vom radikalen Bösen eine Satansdogmatik und eine philosophische Diaboliade nennt. Aber Herder kann als Kants Metakritiker nicht ernst genommen werden. Möglich wurden und werden solche Mißverständnisse durch drei Umstände, die eng miteinander verflochten sind und auf die hinzuweisen vielleicht auch in diesem Zusammenhange nützlich ist. Kant, einer der stärksten Geister aller Zeiten, war in seinem deutschen Winkel formell, sozial und religiös nicht so frei, wie kleinere Geister damals in Frankreich und England waren.

Formell hatte er die für Deutschland neue sprachliche Entwicklung nicht mitgemacht, die, während er über der Vernunft-Kritik brütete, endlich zu der Höhe von Lessing und Goethe geführt hatte. Die ungeheuren Gedanken sprengen die gefällige Wolfsche Form, die die Sprache seiner Jugend war. Kant ist anmutig, wo der Gegenstand nicht ganz groß ist; er wird aber trotz hinreißender Stellen ungefüge und zyklopisch, wo immer der Inhalt seines Denkens eine neue Form sucht. Er hatte immer Besseres zu tun, als seine Schriftstellerei auszubilden. Daher die Dunkelheit, die nur von Blindheit geleugnet werden kann.

Sozial war und blieb seine Stellung trotz allen Ruhms eine traurige, wenn man sie mit der seiner englischen Vorgänger vergleicht. Diese Engländer waren oft Männer von Welt, Staatskerls, die gelegentlich Staatsmänner wurden, politische Führer ihres Volkes, tätige Grandseigneurs, die dann einmal ihre Meinungen über Welt und Menschen niederschrieben; Kant war – wenn[494] man von seinem Genie absieht – der typische deutsche Magister, ein Mann ohne Welt, der über Welt und Menschen englische Bücher las, sobald er über Welt und Menschen ein Kolleg zu lesen hatte. Unvergleichlich sein Fleiß, unvergleichlich die Sagazität in der Analyse der Begriffe. Aber seine Menschenkenntnis ist nicht unmittelbar, ist gelehrt, ist seinem System unterworfen.

Religiös ist Kant doppelt abhängig: von seiner pietistischen Jugendzeit und, was immer man zu seiner Verteidigung sagen mag, von den wechselnden Anschauungen der drei preußischen Könige, unter denen er gewirkt hat. Auch Hume scheute vor Konflikten zurück; aber seine Scheu gab seinen Angriffen gegen die Religion die feinste und boshafteste Form. Kant hat denn doch Kompromisse geschlossen. Das empfanden die besten Zeitgenossen, und daraus ist der starke Zornausbruch Goethes gegen »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« zu erklären. Nicht Pessimismus fand Goethe in der Schrift, sondern religiöse Heuchelei, da er (7. Juni 1793) an das Ehepaar Herder schrieb: »Wo sich dieses Gezücht (Lavater) hinwendet, kann man immer voraus wissen. Auf Gewalt, Rang, Geld, Einfluß, Talent p. p. ist ihre Nase wie eine Wünschelrute gerichtet. Er hofiert der herrschenden Philosophie schon lange. Dagegen hat aber auch Kant seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben gebraucht hat, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurteilen zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen.« Natürlich soll dieses menschliche Dokument von Goethes Grobheit nicht etwa gegen Kants Charakter ausgemünzt werden. Goethe hat gelegentlich, wie Kant prinzipiell, von Erbsünde und radikalem Bösen gesprochen. Nur eins wollte gesagt sein: daß Kants schwere Ausdrucksweise und soziale wie moralische Ängstlichkeit den freiesten Mitlebenden verführen konnte, ihm christelnde Tendenzen unterzuschieben, wo Hartmann wie überall Pessimismus wittert. Wenn Kant ein Pessimist war, dann war auch der Kantianer Schiller, der gerade gegen Kants Beweise (vom radikalen Bösen) nichts einwenden konnte, »so gern man auch wollte«, dann war auch der Dichter des Don Carlos ein[495] Pessimist. Nein, Kant war nur ein harter Optimist, was die weichen Pessimisten nicht verstehen können3.

VII.

Merkwürdig ist es nun, daß in die Zeit von Kants stärkster Wirkung die Erfindung des Begriffs Pessimismus fällt, trotzdem Kant, wie gesagt, das Wort nicht kennt und das Gegenteil der Lehre lehrt. Da das Wort Pessimismus nur in Opposition gegen das Schlagwort Optimismus aufkommen konnte und dieses erst durch Voltaires Candide ou l'optimisme zugleich populär und lächerlich wurde, also für das Gegenwort vorbereitet, dürfen wir das Wort Pessimismus vor 1759 nicht suchen. Gegen Ende des Jahrhunderts finden wir es aber schon da und dort. Den Präger des Worts zu entdecken ist mir nicht gelungen. Wenn mein Gedächtnis mich aber nicht täuscht, so wurde es in den Debatten der großen Revolution geschaffen, allerdings nicht im modernen Sinn; vielmehr: um einen Zustand der politischen Verhältnisse zu bezeichnen, der so schlecht ist, daß er nicht mehr schlechter, also nur besser werden kann. In dem gleichen Sinne, the worst condition possible, steht das Wort dort, wo ich es (von Murray) zum ersten Male nachgewiesen finde. Coleridge schreibt 1794 (Letter 115) »that would be at least a thousand fathoms deep in the dead sea of pessimisme«, und 1801 beginnt F. M. Klinger seine »Betrachtungen und Gedanken«, die sich durch einen gesunden Menschenverstand, Wohlwollen gegen die Menschen und Verachtung gegen die Hofwelt auszeichnen: »Der Optimism und Pessimism sind Zwillingsbrüder. Ob der letzte ehebrecherisch durch Superfötation hinzugepfuscht sei, ist jetzt, da man die Mutter vor kein geistliches Gericht ziehen kann und der Vater immer schweigen[496] wird, schwer auszumachen.... Keinen Augenblick kann man einen ohne den andern besitzen, und scheint auch einmal einer allein zu Gaste zu kommen, so tritt doch gleich der andere hinterdrein, als könnte er ohne seinen geliebten Gesellen nicht atmen und sein.«

Klinger, der sich so ausdrückt, als ob er das Wort erfunden hätte, gebraucht es offenbar nur im Sinne einer düstern Lebensansicht; dafür trat 10 Jahre später bei Jean Paul zuerst das Wort Weltschmerz ein, das aber erst durch Heine nach 1830 Modewort wurde, um bald schon wieder von Gaudy und Eichendorff verspottet zu werden. Noch fehlt der systematische Pessimismus. Und 1836 denkt Immermann noch an den politischen, da er schreibt (VII, 132): »In der Geschichte der Revolutionen, namentlich in denen der französischen, wird zuweilen das Wort Pessimismus gebraucht. Es bedeutet das Streben der Fraktionen, durch künstliche Hervorbringung eines allerschlechtesten Zustandes die Menschen in eine Wut zu stürzen, welche sie blindlings den Planen der Bösen zutreibt.«

Der philosophische, systematische, pedantische Pessimismus ist eine Schöpfung Schopenhauers. Da darf aber nicht übersehen werden, daß die rhetorischen Prachtstücke seiner Schilderungen des Weltelends erst der späten zweiten Auflage seines Hauptwerks und den Parerga angehören, daß die erste Auflage von 1819 zwar das Elend der Welt bereits farbig ausmalt, aber mehr als Pendant für die transzendente Lehre des Quietismus, daß Schopenhauer sich da noch nicht als den Prediger des Pessimismus einführt. So war es möglich, daß W. T. Krug, der Schopenhauer doch gelesen hatte, noch um 1830 (Artikel: Pessimismus im philosoph. Lexikon) wie von ganz neuen Worten sprechen konnte: Pessimismus sei die Meinung, daß die Welt grundschlecht sei. »Wie man daher Menschen, die alles im rosenfarbenen Lichte sehen, scherzhaft Optimisten nennt, so könnte man die, welche alles schwarz sehen und stets auf die böse Welt schimpfen, Pessimisten nennen.« Es wäre nicht unmöglich, daß Schopenhauer, der seinerseits Krug kannte und ein wenig schätzte, der jede Zeile über sich selbst gierig verschlang, erst durch diese Notiz Krugs, die er auf sich beziehen[497] konnte, dazu geführt worden wäre, sich dann in der zweiten Ausgabe von 1844 feierlich zum Pessimisten zu erklären. Feierlich und ernstlich. Denn Schopenhauer brachte es über sich, den Scherz, der den Pessimismus dem Optimismus gegenüberstellte, ernsthaft zu nehmen: »Sogar aber läßt sich den handgreiflich-sophistischen Beweisen Leibnizens, daß diese Welt die beste unter den möglichen sei, ernstlich und ehrlich der Beweis entgegenstellen, daß sie die schlechteste unter den möglichen sei. Denn möglich heißt nicht, was einer etwa sich vorphantasieren mag, sondern was wirklich existieren und bestehen kann. Nun ist diese Welt so eingerichtet, wie sie sein mußte, um mit genauer Not bestehen zu können; wäre sie aber noch ein wenig schlechter. so könnte sie schon nicht mehr bestehen. Folglich ist eine schlechtere, da sie nicht bestehen könnte, gar nicht möglich, sie selbst also unter den möglichen die schlechteste... Die Welt ist folglich so schlecht, wie sie möglicherweise sein kann, wenn sie überhaupt noch sein soll. W. z.B. w.« (W. a. W. u. V. II 669 f.).

Die Verschuldung Schopenhauers suche und finde ich nun nicht auf dem moralischen Gebiete; wenn Wahrheit einen Wert hat, wenn Streben nach Erkenntnis, nach einem endgültigen Urteil, selbst unter die Werturteile fällt, dann gibt es auch im Erkenntnisdrang Schuld und Verdienst. Daß Schopenhauer, der große Pessimist, die illusionären oder wirklichen Freuden von Hunger, Liebe und Eitelkeit recht menschlich zu bewerten wußte, das lehrt nichts weiter, als daß auch dieser geniale Kopf zu einem Menschen gehörte. Daß Schopenhauer aber den Widersinn, einen Superlativ der Weltschlechtigkeit, logisch beweisen wollte und den vermeintlichen Beweis triumphierend mit einem quod erat demonstrandum schloß, das ist schwerer zu verzeihen, weil es eine Sünde ist gegen den heiligen Geist seiner Lebensaufgabe. Schopenhauer war doch zu gut, um der Welt nur ein neues Modewort zu schenken. Seine Darstellungen des Weltelends sind stilistische Meisterstücke. Er war doch eben kein Kant; er schien da nichts Besseres zu tun zu haben, als der bessere und virtuosere Schriftsteller zu werden, stilistische Meisterstücke zu schreiben. Der Fluch der Tat folgte. Hartmann, der viel energischer und bewußter mit[498] dem Schlagworte Pessimismus einsetzte und erst später seine Philosophie des Unbewußten von ihrem pessimistischen Grundzuge zu lösen suchte, hat die virtuosen Darstellungen des Weltelends, freilich ohne Schopenhauers Temperament, stilistisch beinahe noch übertroffen. Beide wurden Modephilosophen und haben die Verantwortung dafür zu tragen, daß ich diese Beiträge zur Geschichte des Modeworts Pessimismus zusammenstellen mußte.

VIII.

Womit ich jetzt zu Ende bin, sobald ich noch das kleine Ergebnis begründet und gebucht habe, daß auch dieses Schlagwort ein Schall ohne rechten Inhalt ist. Ich habe in dieser Studie gewiß oft genug meinen grammatikalisch-logischen Ausgangspunkt wiederholt, daß der Superlativ einer Eigenschaft nur auf mathematische Vorstellungen angewendet werden könne, daß die Anwendung auf andere Begriffe immer metaphorisch sei, daß also schon das ältere Schlagwort Optimismus eigentlich nur ein scherzhaftes Bild sei4. Ein gelehrtscherzhafter Ausdruck für das Gefühl »Ich lebe ganz gern«. Die Umwendung ins Gegenteil, der Pessimismus, ist nun wieder Metapher von einer Metapher, ein witzig-gelehrter Ausdruck für das andere Gefühl: »Das Leben ist nicht mehr schön«. In diesem Sinne bezeichnen Optimismus und Pessimismus nur Stimmungen, individuelle Stimmungen, die durch geistreiche Individuen ganzen Zeiten und Völkern suggeriert werden[499] können. Und wenn ich vorhin vorläufig den Stimmungspessimismus von dem systematischen und pedantischen Pessimismus der Philosophen ordentlich geschieden habe, so muß ich jetzt sagen: dieser Unterschied bezieht sich nur auf die sprachliche, logische, stilistische Darstellung. Denn wenn der Superlativ überhaupt auf andere als auf mathematische Begriffe nicht anwendbar ist, so ist der Superlativ von Begriffen wie schön und gut ein Mißbrauch der Sprache. Hamlet und Spinoza wußten beide: An sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu. Unsere Sprache. Auch Klinger läßt den Teufel sagen, in »Fausts Leben« (1791): »Sieh da zwei Worte, bös und gut, die ihr zu Begriffen stempeln möchtet, denn wenn ihr die Worte einmal habt, so glaubt ihr auch schon den leeren Schall zum Gedanken geprägt zu haben.« Und da will man uns damit kommen, die Summe von Lust und Unlust im Weltganzen, die Glückseligkeit der entferntesten Sterne und ihrer möglichen Bewohner, mit einer menschlichen Preistabelle wie mit einem Börsenkurszettel abzuschätzen und am Ende diese Welt für die beste oder für die schlechteste zu erklären. Daß doch der Sirius lachen könnte! Ein Werturteil ohne Objekt und ohne Maßstab. Wert ist schon in der sog. Nationalökonomie ein doppelt relativer Begriff: der Maßstab unsicher und unsicher die Hand; und diesen Maßstab des Wertes wollen wir arme Menschen auf das Weltganze anwenden, brauchen dazu die alten theologischen Begriffe des Zwecks und des Mittels und reden so weiter. Kürzlich hat Theodor Lessing (»Studien zur Wertaxiomatik«) sehr gut den abstrusen Einfall Kants kritisiert (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Reclam S. 65): Ein Selbstmörder müßte sich vorher fragen, »ob seine Handlung mit der Idee der Menschheit als Zwecks an sich selbst zusammen bestehen könne«. Der Mensch sei keine Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden könne. Der Selbstmörder, meint etwa Th. Lessing, setzt sich selbst als Zweck, wenn er seinen Leib als ein Mittel aus der Welt schafft. Steht es nicht ähnlich mit dem Gerede über das Elend des Weltganzen? Der Pessimismus führt nur darum nicht zu allgemeinem [500] Selbstmorde, weil er nur das Schlagwort für ein oft unabweisbares Gefühl, aber keine Erkenntnis ist. Hieronymus Lorm hat über ein breites Buch einen knappen und guten Titel gesetzt: »Der grundlose Optimismus«. Die Menschen sind, weil sie leben, grundlos optimistisch. Oder: sie leben unbekümmert um die Schlagworte Optimismus und Pessimismus. Ein alter Hausspruch5 lautet:

Ich komme, ich weiß nicht, von wo?

Ich bin, ich weiß nicht, was?

Ich fahre, ich weiß nicht, wohin?

Mich wundert, daß ich so fröhlich bin.

Der Mensch mag sich wundern und ist doch so fröhlich. Banal? Ich erlaube mir noch tiefer in die Volksweisheit hinabzusteigen. In Schlesien gibt es ein brutales Scherzwort, oder es ist erst vom Simplizissimus nach schlesischer Vorlage umgeformt worden: »Das Leben ist wie ein Kinderhemd; kurz und beschissen.« Man lacht und findet die Weisheit gut. Der Sinn aber? Das Leben ist beschissen, aber dennoch zu kurz. Grundloser Optimismus. Selbst Leopardi, dessen Leben und Dichten, Fühlen und Denken pessimistisch war bis auf den Grund, läßt einmal in seinen »Pensieri« ein Wort des grundlosen Optimismus vernehmen. Gespielte Melancholie könne für kurze Zeit gefallen, besonders den Weibern; die echte Melancholie werde gemieden, und auf die Länge sei nur die Heiterkeit zu empfehlen: perchè finalmente, contro à quello che si pensanno i giovani, il mondo, e non ha il torto, ama non di pingere ma di ridere. Ist dieser letzte Schluß der Weisheit wirklich zu banal? So kann ich sie auch anders ausdrücken. Der Mensch, weil er denkt, begnügt sich nicht mit dem einen Leben, das er lebt, wie es ist, besser oder schlechter. Sein Denken oder Sprechen verschafft ihm den Luxus, sein Leben noch einmal zu leben, es zu beurteilen oder zu beschwatzen. Wie ihm eine Parade, die er mit angesehen hat, noch einmal so gut gefällt, wenn er sie im Tageblatt beschrieben findet, gelobt oder[501] getadelt. So beurteilt er auch, beschwatzt er sein Leben, das Leben, das Weltganze und hat eine große zweite Freude beim Lobe, hat eine zweite kleine Freude beim Tadel. Indem der Mensch sein Leben in Erleben und Beschwatzen spaltet, erhöht er immerhin den Wert des Daseins. Zu der Sensation des Erlebens tritt die Sensation des Schwatzvergnügens. Auch beim Worte Pessimismus.

Ohne die menschliche Sprache gäbe es alle die Sensationen des Schwatzvergnügens nicht, gäbe es keinen Gott, kein Weltganzes, keinen Willen und keine Werturteile, die doch Äußerungen des Willens sind. Ohne die menschliche Sprache gäbe es ganz gewiß keinen Optimismus und keinen Pessimismus. Gäbe es aber irgendwo außerhalb der Sprache einen allwissenden Gott, so könnte der dennoch eins nicht wissen, was das sei: Pessimismus? Und die Tiere wissen es auch nicht, diese sehr grundlosen Optimisten. Und auch die Selbstmörder, die die einzige konsequent-philosophische Sekte des Pessimismus bilden, des Individual-Pessimismus, wissen es nicht, haben es nur so im Gefühl.

Ordnung (ordinär). – Der Ordnungsbegriff ist wie geschaffen, von der menschlichen Sprache geschaffen, daraufhin untersucht zu werden, ob er der adjektivischen Welt oder der verbalen oder der substantivischen angehöre. Wörter freilich besitzen die Sprachen, die allen drei grammatischen Kategorien entsprechen: ordentlich, ordnen, Ordnung. Doch es scheint mir auf der Hand zu liegen, daß die Vorstellung, die wir mit dem Ordnungsbegriffe verbinden, einzig und allein der verbalen Welt angehört, der Welt der Apperzeptionen oder des Denkens; und es ist kein Zufall, daß wir nur dann apperzipieren können, nur dann unsere Kenntnis vermehren oder verbessern können, wenn wir im Besitze einer Sprache sind, die die Welt vorläufig zu klassifizieren oder zu ordnen versucht hat, Es stört mich nicht, daß sprachgeschichtlich ordinalis und ordinarius, ja sogar ordinare jüngere Bildungen sind als ordo, daß das Verbum vom Substantivum abgeleitet ist; das menschliche Denken hat von jeher die metaphysische Neigung gehabt, die mittelbaren Gegenstände früher als die unmittelbaren verstehen zu wollen, die Dinge früher als ihre [502] Eigenschaften, die Substanzen früher als ihre Wirkungen, die Metaphysik oder Mystik früher als die Physik.

Die menschliche Tätigkeit des Ordnens wird auf lateinisch genauer durch dispositio ausgedrückt, welches Wort eine Lehnübersetzung von diathesis ist; bei Architekten und Rhetoren ist dispositio ein Terminus für Einteilung, kunstgerechte Anordnung des Materials (diathêkê, letztwillige Anordnung, Testament, auch biblisch, ist nicht ins Lateinische übergegangen; das Juristenvolk hatte das formelle testamentum); ordo, ursprünglich Reihe, bekam als militärischer Terminus die Bedeutung Reih und Glied, Glied (centuria), Kompagnie, und über Reih und Glied wohl erst den Sinn: gehörige Folge, innere Ordnung.

Die wichtigste Frage der Erkenntnistheorie, immer die gleiche, erhält nun die Form: entspricht der dispositio ein ordo? Gibt es in der Natur die Ordnung, den ordo, den eine instinktive Neigung des Verstandes in die Natur hineindisponiert, hineinverlegt?

An der Existenz einer Ordnung in der verbalen Welt ist nicht zu zweifeln. Wir können gar nicht anders als ordnend erkennen, wenn wir überhaupt erkennen wollen. Und es trifft sich gut für diese Betrachtungsweise, daß der Zweck, den wir (Kr. d. Spr. III² S. 59) als die Ursache der ältesten Verbalbildung begriffen haben, dem Ordnungsbegriffe ganz besonders zugrunde liegt; die Sprache hat die Wirklichkeitswelt geordnet oder klassifiziert, um von den Dingen sprechen zu können; wir haben gelernt, daß sogar die Möglichkeit der Wahrnehmung von Tönen, Farben, Wärmegraden usw. darauf beruht, daß der menschliche Organismus, und vorher der tierische, die Weltvibrationen durch die spezifischen Sinnesenergien zweckvoll ordnen lernte; die natürliche Ordnung der Dinge, vornehmlich der Organismen, mit der die künstliche Ordnung so gern zusammenfallen möchte, ist ohne ein teleologisches Ordnungsprinzip nicht zu fassen, so energisch auch der Darwinismus die Telelogie zu bekämpfen sucht. Ein tieferes Eindringen in den alten Zweckbegriff allein könnte die verbale Welt aufklären und ohne Rückschritt über den Darwinismus hinausgelangen.

Daß es in der adjektivischen Welt, in unsern unmittelbaren[503] Wahrnehmungen, keine Ordnung gebe, das wird jedermann zugeben; was die Sprache in adjektivischer Form unter einem ordentlichen Essen, Menschen, Professor usf. versteht, das hat nur noch entfernten, sehr metaphorischen Zusammenhang mit der geistigen Tätigkeit des Ordnens.

Aber in der substantivischen Welt, in der Welt der Metaphysik oder Mystik, da wollen auch denkende Menschen den Ordnungsbegriff nicht preisgeben. Es gibt ja eine Ordnung der Dinge in Raum und Zeit, nach welcher Ordnung ein Ding nicht anders (zur selben Zeit) und nicht anderswo (im Raum) sein kann, als es ist. Die denkenden Menschen wollen nicht zugeben, daß das System von Sätzen (in der logischen Deduktion) und das System von Begriffen (in der naturwissenschaftlichen Klassifikation) nur zweckmäßig sei, heuristisch zweckmäßig meinetwegen, daß aber beim Entstehen der Dinge weder irgendeine Ordnung, noch irgendein System mitgewirkt haben könne: weil nur der Zweck ordnet, der Menschenzweck, Zweck aber der Natur fremd ist, welche nur Ursachen kennt, d.h. nicht kennt, aber – die Sprache versagt – durch Wirkungen ahnen läßt. Neuerdings hat Stumpf es glänzend dargelegt: Gesetze allein können in der Natur nichts hervorbringen. Und ich möchte hinzufügen: wir wissen wenig selbst von Physik, wenn wir nicht auch die sog. Konstanten kennen, die wir erst nachträglich ordnen, die selbst extra ordinem sind.

Ich habe schon einmal (»Spinoza« S. 48) auf die bewundernswerten Worte hingewiesen, mit denen Spinoza die Begriffspaare gut und schlecht, warm und kalt, schön und häßlich, Ordnung und Unordnung für menschliche Begriffsbildungen erklärt. »Nachdem die Menschen sich eingeredet hatten, die Welt und der Weltlauf sei ihretwegen da, mußten sie an jedem Dinge dasjenige für das Wichtigste und Wertvollste halten, was ihnen am nützlichsten oder angenehmsten war.« Das Fragen nach Zweckursachen müsse schließlich immer zurückflüchten zu einem Willen Gottes, diesem Asyl der Unwissenheit. Damit hat Spinoza meines Erachtens den Ordnungsbegriff für immer aus der Erfahrungs-Welt hinausgeworfen, in die substantivische Welt hinein; die[504] reale und die substantivische Welt sind nämlich Gegensätze, was man sich merken sollte.

Der kühnen Stelle scheint ein anderes, viel zitiertes Wort von Spinoza zu widersprechen (Ethik II, prop. 7): Ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum. Ich habe es schon an anderer Stelle (vgl. Art. Okkasionalismus) bemüht. Es läuft auf eine Gleichsetzung von Ursache und Wirkung heraus, oder vielmehr auf eine Gleichsetzung von Ding-an-sich und Erscheinung, auf einen erhabenen Monismus, auf eine Vereinigung von Erkenntnisgrund und Seinsgrund mit dem Realgrund oder der Ursache. (So möchte ich den vieldeutigen Satz jetzt deuten.) Wir haben trotzdem nicht das Recht, anzunehmen, daß Spinoza im 2. Teile seines Lebenswerks das prachtvolle Wort aus dem 1. Teile vergessen habe. Vielleicht ist die Deutung, gegen die sich Kuno Fischer schon gewandt hat, doch nicht abzuweisen, daß Spinoza mit diesem ohne Zusammenhang hingeworfenen Satze Kants oder vielmehr Berkeleys Vorstellung vorausgenommen habe, daß er sagen wollte: wenn Dinge und Vorstellungen, wenn also Ausdehnung und Denken, die beiden uns allein zugänglichen Attribute des Einen Deus sive Natura, ein und dasselbe sind, dann sind auch die Dinge nur Erscheinungen, dann ist für den Menschen kein anderer Weg zur Welterkenntnis als der des Psychologismus; denn die beiden Attribute sind ja una eademque res, sed duobus modis expressa, nur durch verschiedene Worte ausgedrückt. Vielleicht hat am Ende Hegel, der so viel Scholastik von Spinoza übernommen hat, auch nur die Apriorität der Ausdehnung aussprechen wollen mit seinem vielverspotteten Satze: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« Hegel hat's aber wirklich nicht so rein philosophisch gemeint.

Aus diesen Regionen scheue ich mich fast hinunterzusteigen zu dem bunten Bedeutungswandel, den ordo in den Gemeinsprachen der modernen Welt erfahren hat. Von einer Orientierung der menschlichen Aufmerksamkeit zum Zwecke der Welterkenntnis kann kaum mehr die Rede sein, und an spaßhaften Berührungspunkten von Gegensätzen fehlt es nicht. Orden bedeutet einen geregelten Verein von Mönchen und (über weltliche Ritterorden[505] hinweg) den Lohn im Knopfloch eines ordentlichen Staatsbürgers, parodistisch auch den Kotillonorden. Auf ordinarius (in Deutschland gibt es auch einen Extra-Ordinarius) komme ich gleich zurück. Ordinieren kann heißen: einem Priester die Ordines geben, die ganze Reihe der Weihen, aber auch verordnen, durch Schreiben von Rezepten seinen Lebensunterhalt verdienen; weitab liegt in der Geometrie die Bedeutung von Ordinate (der Senkrechten auf eine der Axen); noch weiter ab beim Militär die Ordonnanz, der einem hohem Offizier zukommandierte Meldereiter. Als Kuriosum füge ich noch »jordonner« hinzu, von j'ordonne; »Monsieur Jordonne« etwa unser alemannisches Befehlerles.

Ein vortreffliches Beispiel für die Tendenz der Wörter, herunterzukommen, gemein oder ordinär zu werden, sind eben die Wörter gemein und ordinär. Gemein wäre ein fast ebenso gutes Beispiel; nur daß die Etymologie von gemein mir trotz der angeblichen Urverwandtschaft mit communis ganz unsicher erscheint, und daß die alte Bedeutung, wofür wir jetzt gemeinsam und allgemein haben, noch in vielen Redensarten gebräuchlich oder verständlich ist: Gemeinwesen, Gemeinsinn, gemeinnützig, gemeine Sache, gemeinverständlich; auch: das gemeine Recht. Es ist noch nicht genau genug untersucht, wie aus solchen Redensarten wie: der gemeine Mann, das gemeine Volk, der gemeine Soldat, das jetzt übliche positive Wort für den Gegensatz des Guten und Edlen geworden ist.

Ordinär ist ein ehrliches Fremdwort oder Lehnwort je nach dem Wissen dessen, der es gebraucht. Ordinarius hieß (von ordo) schon im guten alten Latein, was in gehöriger Reihe und Ordnung steht, was der Gewohnheit gemäß, ordentlich, gehörig, was vorzüglich ist. Ich habe nicht erfahren können, ob dieses lateinische ordinarius in irgendeinem Lehnverhältnisse steht zu dem griechischen stoichêdon, in Reih und Glied. Das griechische stoichos; ging über stoicheion in den Begriff der Buchstabenreihe über. der Elementarreihe, und ging als elementum zum zweitenmal ins Lateinische über, zum zweitenmal, falls ich mit meiner Vermutung recht habe, daß ordo eine Lehnübersetzung von stoichos ist. (Ordo von orior ordior wie stoichos von stoichein, dem Aufgehen der[506] Sonne.) Ein anderer Zufall der lateinischen Sprachgeschichte hätte einen Begriff für Buchstabe und Element ebenso gut von ordo ableiten können.

So aber führte ordinarius sein selbständiges Leben. Es bezeichnete im Lateinischen die gehörige, die durchschnittlich gute Qualität, konnte sogar (oleum, oratio) die vorzügliche Qualität bezeichnen, wie gesagt. Das deutsche Wort ordinär, in dem allgemein üblichen heutigen Gebrauch, hat diese Bedeutung niemals. Eine Sache, ein Mensch wird ordinär genannt, wenn sie oder er schlechter ist, viel schlechter als der Durchschnitt. Das ist nun merkwürdig, weil Ordinarius mindestens dreimal aus romanischem Sprachgebiet auf das deutsche herüberkam (als ordinari, ordentlich und ordinär), in romanischen Sprachen aber von dem Übeln Sinne kaum leise Spuren vorhanden sind. Um so merkwürdiger, als das ältere Lehnwort ordentlich, das doch seinen Bedeutungswandel freier vollziehen konnte, durchaus den guten Sinn von Ordinarius beibehalten hat (in süddeutschen Mundarten wird es geradezu für gut, recht gut gebraucht: er hat ordentlich gegessen, es geht mir wieder ordentlich); während das jüngere Fremdwort ordinär seinen bösen Sinn im Gegensatz zum französischen ordinaire durchgesetzt hat. Ordinaire heißt im Französischen niemals etwas unter dem Durchschnitt. Die Bedeutung des Grundworts ordre ist nicht vergessen. Ordinaire ist, was regelmäßig und regelrecht kommt. Die regelmäßige Post, die übliche Hausmannskost oder auch das übliche Table-d'hôte-Essen (Lafontaine: D'où vient donc un si bon ordinaire). Die Portion. Auch die Portion Wein für die Dienerschaft, die Portion Hafer für das Pferd. In den meisten dieser Bedeutungen war das Wort vorübergehend in deutschen Gebrauch übergegangen; Goethe spricht von der ordinären Post, Gottheit nennt das Mittagessen an der Table-d'hôte das Ordinäri. Diese Bedeutungen verschwanden jedoch vor dem bösen Sinne, den der Franzose aus ordinaire niemals heraushört. Beachtenswert ist noch eins: das französische ordinaire heißt und hieß noch häufiger soviel wie gewohnt, gewöhnlich, was uns Deutschen in der dichterischen Sprache einen seltsamen Eindruck macht. Und auch dieser Begriff, gewöhnlich nämlich, hat im[507] Deutschen oft den Sinn von ordinär. Im Englischen hat ordinary fast alle guten Bedeutungen des französischen ordinaire, doch auch den bösen Sinn gibt es, wenigstens für Personen: an ordinary fellow, ein ordinärer Kerl. Auch common kann den üblen Sinn annehmen; freilich auch das französische commun.

Auf eine Erklärung lasse ich mich nicht ein. Der Franzose verbindet nicht einmal mit vin ordinaire, der nicht extra bezahlt wird und häufig recht schlecht ist, einen tadelnden Begriff. Ich zitiere nur noch (nach dem Deutschen Wörterbuch) Ludwigs teutsch-englisches Lexikon (1716): »die Ware ist eben nicht die beste, sie ist nur ordinär, Mittelsorte.«

1

Berthold Auerbach sagte mir noch vor etwa 30 Jahren, in einer bei ihm ungewöhnlichen pessimistischen Stimmung: »Ich werde von... darum beneidet, daß ich bei Hofe verkehre; aber glauben Sie mir, man ist da oben immer nur ein Hofnarr.«

2

Maupertuis wagte sich in seiner sonst zahmen Dissertation: »Sur l'existence de Dieu« bezüglich des Optimismus weit genug vor: »Si l'on examine cette proposition (que tout ce qui est, est bien) sans supposer auparavant l'existence d'un être tout-puissant et tout-sage, elle n'est pas soutenable. Si on la tire de la supposition d'un être tout-sage et tout-pouissant, elle n'est plus qu'un acte de foi.«

3

Duboc hat (Ztschr. f. Völkerpsychologie 1883 S. 261) sehr hübsch gesagt, Kant stehe mit seinem Bemühen, jede sinnliche Regung auf dem Gebiet des moralischen Verhaltens auszumerzen, so daß nur die unbefleckte Idee als das allein Bewegende übrig bleibe, »vor einer ähnlichen Schwierigkeit wie der Jude im Kaufmann von Venedig, wenn derselbe ein Pfund Fleisch aus dem lebenden Menschenleib loslösen soll, ohne dabei einen Tropfen Bluts zu vergießen.« Steinthals heftige Antwort auf Dubocs Aufsatz (S. 280) steht ganz unter dem Banne eines kategorischen Imperativs.

4

Die Engländer haben für ihre immer etwas relativistische Weltanschauung ein Wort, das in logischer Beziehung besser gebildet ist als der kontinentale Begriff Optimismus: meliorism. Das Wort scheint zuerst von George Elliot in ihren anregenden Privatgesprächen geprägt worden zu sein; Sully machte es zum Schlagworte eines Systems des Meliorismus, d.h. der Lehre, daß die Welt d.h. die allgemeine Wohlfahrt der Menschen verbesserungsfähig sei. Der neue Pragmatismus hat diese Lehre seinem Systeme einverleibt, als die mittlere Linie (James, Pragm. S. 183). Diese Lehre tritt gegenüber der superlativischen Redensarten vom Optimismus und Pessimismus bescheiden komparativisch auf. Die ganze Frage ist nur leider historischer Art und entzieht sich darum wohl einer wissenschaftlichen Beantwortung; wir wissen ja doch nicht, ob die Weltgeschichte irgend eine Tendenz habe, also auch nicht, ob es eine Tendenz zum Bessern gebe. (Vgl. Art. Fortschritt.)

5

Ich gebe die oft zitierten Verse in der Fassung, die sie in einem Briefe Kleists an Ulrike (Januar 1802) haben. Kleist fügt hinzu, er sei jetzt, ernsthaft gesprochen, recht vergnügt; der Vers gefalle ihm ungemein.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 2, S. 460-508.
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