Anredeformen

[553] Anredeformen. Die ursprüngliche und noch jetzt bei Naturvölkern vorhandene Sitte, jedermann in der zweiten Person Singularis, also im Deutschen mit Du, anzureden (ihn zu duzen), machte mit steigender Zivilisation allmählich der Gewohnheit Platz, fremde und höher stehende Personen im Pluralis majestatis anzusprechen. Nach dem Annolied (XXVIII) wäre derselbe zuerst dem Cäsar beigelegt worden, und dieser hätte das Ihrzen den deutschen Völkern gebracht, »um sie zu ehren«. Nach Grimm nahmen in Deutschland einzelne Stände zuerst im 9. Jahrh. das vom Ausland kommende Ihrzen (gürzen, girzen) an. Bis zum 13. Jahrh. wurden geihrzt Höhere von Niedern, der Vater von den Kindern, Geistliche, Fremde, vornehmere Eheleute voneinander etc.; geduzt wurden Niedere von Höhern, Kinder von Eltern, gewöhnliche[553] Leute gegenseitig etc. Im 15. und 16. Jahrh. kam es auf, Könige, Fürsten und hohe Würdenträger mit ihrem Titel: Majestät, Fürstliche Gnaden etc. anzureden und dann ging die Rede in der dritten Person fort, und zwar im Singular oder im Plural, je nach der Anrede; in direkter Beziehung auf den Angeredeten wurde jedoch noch geihrzt. Seit dem 17. Jahrh. wurde »Herr« und »Frau« in der Anrede bloßes Höflichkeitszeichen, und bald sing man an, die indirekte dritte Person dazuzusetzen (Erzen und Siezen im Singular). Die Anrede mit Ihr ward nun eine Mittelstufe zwischen Duzen und Erzen und Siezen. Gegen Ende des 17. Jahrh. begann die Anrede in der dritten Person des Plurals (Siezen im Plural), und um 1740 war diese Sitte in der vornehmen Welt allgemein herrschend. Quäker und Tiroler, besonders außerhalb ihres Landes, reden alle Welt mit Du an; auch der Dichter hat die Freiheit des Duzens. Die Holländer brauchen meist Ihr (gij). In Frankreich wird Du (tu) nur bei dem vertraulichsten Verkehr unter intimen Freunden und in der Familie angewendet. Auch Kinder werden von Fremden und Lehrern vous genannt. Die dritte Person wird von Franzosen nur bei höhern Titeln angewendet. In England beschränkt sich die Anrede Du (thou) in der Regel auf das Gedicht und das Gebet. Dagegen ist in Italien lei, Sie, in Spanien usted und in Portugal vóssê, eine Zusammenziehung aus vossa mercê (spanisch vuestra merced, Euer Gnaden), mit der dritten Person des Singulars üblich und nur in vertraulicherer Rede Du oder Ihr im Brauch. Den Schweden ist Du (du) die vertrauliche und väterliche Anrede, er die an weniger bekannte Personen von geringerm Stande und ni das Zeichen besonderer Hochachtung; die Dänen brauchen stufenweise Du (du), Ihr (j) und Sie im Plural (de); doch konstruieren Dänen wie Schweden zu ihrer pluralen Anrede das Verbum im Singular. Slawen reden, wie die Neugriechen, mit Ihr an; nur die Polen duzen sich oder sprechen in der dritten Person mit Pan oder Pani (Herr oder Frau).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 553-554.
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