Gebēt

[405] Gebēt (von beten, d. h. ursprünglich bitten) ist eigentlich die Bitte, womit man sich an göttliche Wesen wendet; dann im weitern Sinne jede Anrufung (Anbetung) der Gottheit, verwandt mit Andacht (s.d.). Das G. ist die erste, natürlichste Äußerung der subjektiven Religion und gestaltet sich im einzelnen Fall teils zur Bitte um göttliche Hilfe (als Voraussetzung hierzu auch Schuldbekenntnis), teils zum Dank für deren Gewährung (Lobgebet), teils, da jede Religion zugleich ein Ausdruck eines Gemeinschaftsbewußtseins ist, zur Fürbitte (s.d.). In allen drei Formen setzt es voraus, daß sich der menschliche Geist dem göttlichen als ein Ich dem Du gegenübergestellt finde. Nur dem Buddhismus geht das »Du« im G. völlig ab. Während man aber neuerdings die Wirksamkeit des Gebets mehr darin sucht, daß in der Vergegenwärtigung Gottes der Betende sich über die Zufälligkeiten und den Wechsel des Daseins erhoben, ins Gleichgewicht gebracht, vom Alltäglichen und Gemeinen gereinigt, innerlich zusammengefaßt und gekräftigt fühlt, sah die offizielle Religion im G. vielmehr ein Handeln auf Gott, wodurch irgendwie ein Bestimmtwerden Gottes bezweckt wurde, vor allem auch eine von ihm geforderte Huldigung. So wurde selbst noch in den Blütezeiten der griechischen und römischen Staatenbildung bei allen wichtigern Veranlassungen das G. für unerläßliche Pflicht gehalten, deren Versäumnis den Zorn des vernachlässigten Gottes nach sich zog. Auf primitivern Stufen der Religion erscheint das G. geradezu als der das Opfer begleitende Zauberspruch, und fast überall bilden G. und Opfer die Hauptbestandteile des Kultus (s.d.). Beide wollen die Gottheit geneigter machen, die Wünsche und Bitten der Menschen zu erfüllen. Viele Gebete waren in bestimmte Formeln gefaßt, besonders die bei öffentlichen Feierlichkeiten von den Magistraten oder Priestern gesprochenen, bei denen das Versprechen oder Stocken immer für ein übles Anzeichen gehalten wurde. Selbst die äußern Gebräuche beim G. galten als bedeutungsvoll. Die gen Himmel ausgebreiteten Hände sollten die Unbeflecktheit des Betenden ausdrücken; denn mit unreinen oder gar mit blutigen Händen zu den Göttern zu flehen, war Frevel. Während aber der Grieche mit unbedecktem Haupte zur Gottheit aufschaute, verhüllte der Römer sein Angesicht beim G.

Bei den Israeliten erscheint das G. seit Entstehung des Judentums. Von Abraham an, der für den Heiden Abimelech und die sündigen Sodomiter betet, können wir es in der Geschichte der Stammväter, bei Mose, Josua, Hanna, David, Salomo, Esra, Daniel u. a. als den Ausdruck religiösen Empfindens beobachten. Eine an Ort und Zeit gebundene Gebetsformel überliefert 5. Mos. 26,5–10 bei der Darbringung der Erstlinge. Daß schon in biblischer Zeit bestimmte Gebetszeiten festgesetzt waren, ergibt sich aus Ps. 55,18 und Dan. 6,11. Diese Gebetszeiten (Schacharit, an Sabbaten, Neumonden und Festtagen auch Mussaf, Mincha und Maarib, s. d.), die den täglichen Opferzeiten entsprachen, wurden beibehalten, als das nachexilische Judentum das G. neu regelte. Als Grundstock der Gebetordnung bestimmte man das Sch'ma (s.d.) und die Schmone esre (s.d.), forderte beim Beten neben äußerer und innerer Reinheit Anstand und Andacht, die Richtung des Gesichts nach dem Tempel (Misrach, s. d.) und vieles andre. Nach und nach wurde die Gebetordnung durch Hinzufügung von Psalmen und Andachtsstücken erweitert und derart festgestellt, wie sie heute im täglichen Gebetbuch, der Tefilla (s. Siddur), und in den Festgebeten (s. Machsor) vorliegt. Mit dem Aufblühen der neuhebräischen Sprache, etwa im 9. Jahrh. n. Chr., bildete sich eine umfangreiche synagogale Poesie aus, deren Schöpfungen (s. Piut, Selicha) mit den ältern Gebeten vereinigt wurden. Die Israeliten, denen es religionsgesetzlich gestattet ist, in jeder Sprache zu beten, haben das Hebräische als Kultussprache beibehalten, daneben aber auch Gebete, Vorträge, Gesänge und Predigten in der Landessprache eingeführt. Sie beten nach altem Herkommen bedeckten Hauptes, wie analog die Juristen nicht barhaupt fungieren. Das offizielle G. erfordert eine Anzahl von zehn männlichen, religiös mündigen Personen (s. Minjan). Wo diese Anzahl mangelt, betet der Israelit privatim. Zur häuslichen Andacht gehören auch das Tischgebet, Nachtgebet u. a. Über die auf Grund des mosaischen Gesetzes verordneten, beim wochentäglichen G. anzulegenden Gebetriemen s. Tefillin. – Das G. der Christen war von alters her ausschließlich an Gott gerichtet (s. Vaterunser) und darum eigentlich allemal ein Bekenntnis zu dem einigen Gott und Vater. Bald gewann es wie zuvor im Synagogengottesdienst, so auch in den christlichen Versammlungen seine geregelte und unabkömmliche Stellung. Gebete an Märtyrer, Heilige, Engel sowie an die Jungfrau Maria kommen in den ersten Jahrhunderten nicht vor, wohl aber in dem Maß, als eine höhere Christologie (s.d.) Platz griff, an Christus. Die Sitte, stehend zu beten (Mark. 11,25), aber daneben auch das Kniebeugen (genuflexio) ist dem jüdischen Kult entlehnt; altertümlich überhaupt das Aufheben der Hände (1. Tim. 2,8). Das später aufgekommene Falten der Hände (conjunctio sive complicatio manuum et digitorum) erklärte Papst Nikolaus I. für ein Zeichen, daß sich die Christen als Knechte und Gebundene des Herrn erkennen sollten. Was die Entblößung und Bedeckung des Hauptes bei dem G. betrifft, so hielt sich die alte Kirche streng an die apostolische Vorschrift 1. Kor. 11,4ff. Dieser zufolge beteten die Männer mit entblößtem, die Weiber mit bedecktem Haupt. Auch der Gebrauch, das Gesicht nach Morgen zu richten, kam schon früh auf. Trotz Matth. 6,6 ward das Hersagen, sogar das oft wiederholte, von Gebetsformeln als verdienstliches Werk allmählich zur weitverbreiteten, von der Kirche beförderten Praxis. Auch die Gebetsstunden fanden sich wieder ein (s. Chordienst). Dagegen ist im protestantischen Gottesdienst das öffentliche G. auf einen engern Raum reduziert worden, indem es mit dem Gemeindegesang abwechselte und seine Stelle vorzugsweise nach der Predigt fand (s. Liturgie). Dabei legt Luther Wert auf das liturgisch fixierte Gemeindegebet, während Zwingli in dieser Beziehung Freiheit läßt. – Ein fest geregelter[405] Gebetsmechanismus begegnet uns auch im Islam; doch ist hier das G. mehr Preis und Dank, statt, wie im katholischen Christentum, Wunsch und Gelübde (s. Islam). Die Hindu zählen ihre Gebete an Kugeln oder Korallen ab, und man hat vermutet, daß der Gebrauch des Rosenkranzes sich von ihnen zu den Mohammedanern und von diesen zur Zeit der Kreuzzüge zu den Christen verbreitet habe. Buddhisten und Bekenner des Lamaismus haben den Gebetsmechanismus in der Gebetmaschine (s.d.) bis zum Extrem getrieben. Vgl. Stäudlin, Geschichte der Vorstellungen und Lehren von dem G. (Götting. 1825); E. v. Lasaulx, Die Gebete der Griechen und Römer (Würzb. 1842); Christ, Die Lehre vom G. nach dem Neuen Testament (Leiden 1886); E. von der Goltz, Das G. in der ältesten Christenheit (Leipz. 1901); Dibelius, Das Vaterunser. Umrisse zu einer Geschichte des Gebets in der alten und mittlern Kirche (Gießen 1903).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 405-406.
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