Opfer

[73] Opfer (v. lat. operari, »verrichten«), im allgemeinen Gaben, die man der Gottheit darbringt, entweder um irgend ein Gut von ihnen zu erlangen, oder um ihr Liebe und Dankbarkeit zu erweisen, oder um ihren Zorn zu versöhnen und sie günstig für sich zu stimmen, oder um drohendes Unheil abzuwenden. Der Opferdienst beruht somit auf dem Abhängigkeitsgefühl des Menschen der Gottheit gegenüber und ist so alt wie die Religion überhaupt. Die Vorstellung, daß die Götter sinnliche Bedürfnisse hätten wie die Menschen, die Bildungsstufe, auf der die Opfernden standen, ihre Beschäftigung und Lebensweise und die Beschaffenheit der Produkte, die ihr Boden hervorbrachte, bestimmten in alten Zeiten die Art der O. Hirten und Jäger brachten Tiere, ackerbauende Völker Früchte und Brot dar, ein jeder das Beste, was er besaß; aber auch Menschenopfer waren ursprünglich bei den meisten Völkern im Gebrauch. Und da man in dem Feuer ein sichtbares Symbol der Götter, gleichsam einen Boten derselben erkannte, so ward bald dieses als Mittel ausersehen, die für die Gottheit bestimmten O. in Empfang zu nehmen, sie zu verzehren und als Rauch zum Göttersitz emporzutragen. So entwickelte sich das Brandopfer. Jene materielle Seite trat aber allmählich in den Hintergrund, das O. wurde immer mehr ein symbolisches, und schließlich kam die Auswahl der edelsten Erstlingsfrüchte, der reinsten und makellosesten Tiere nur noch den Priestern zugute, sofern man nur die unbrauchbaren Teile der Tiere (Fetteile, Knochen etc.) mit Salz, Mehl, Honig und Weinspenden opferte, die genießbaren und wohlschmeckenden dagegen selbst verzehrte. Darauf bezieht sich die griechische Sage vom Prometheus, der den Zeus bei der Opfermahlzeit um die besten Teile betrogen haben sollte. An die Brandopfer schloß sich das noch mehr symbolische Rauchopfer (s. d.), bei dem an die Stelle der Speisen Spezereien traten, wie es noch jetzt in der katholischen Kirche gebräuchlich ist. Nur langsam verschwanden die Menschenopfer (s. d.), zu denen man gefangene Feinde und Fremde bestimmte. Witwenopfer fanden in Indien bekanntlich bis in die neueste Zeit statt. Mit der steigenden Kultur und dem zunehmenden Reichtum der Völker nahmen auch die O. an Zahl und Kostbarkeit zu. So schlachteten Griechen und Römer oft große Mengen von Opfertieren (vgl. Hekatombe), die überdies ganz untadelhaft sein mußten. Eine eigentümliche Art der O. bildeten die Weihgeschenke und die Keuschheitsopfer. Jene bestanden in Waffen, in einem Teil der Kriegsbeute, in Kleidern, in Werkzeugen; Jünglinge und Jungfrauen gaben ihre Haare, Dichter und Philosophen die Werke ihres Geistes etc. Die Keuschheitsopfer bestanden darin, daß das weibliche Geschlecht, besonders Jungfrauen, seine Keuschheit preisgab in dem Glauben, eine der Gottheit wohlgefällige Handlung zu verrichten. Dies geschah in Babylon im Dienste der Mylitta, in Persien in dem der Anaïtis, auf Cypern in dem Tempel der Venus,[73] in Phönikien im Dienste der Astarte. Als Opferplätze dienten die Tempel, und zwar in der Regel bestimmte Abteilungen derselben, ferner besondere Altäre, Bäume, Haine, Steine (Opfer- oder Altarsteine), Schluchten etc.

Hinsichtlich der einzelnen Völker ist folgendes hervorzuheben. In Israel wurzelt die Idee des Opferkultus bereits in den Anfängen seiner Geschichte (Kain und Abel), sie entwickelte sich von den sogen. Stammvätern, bis der Mosaismus oder richtiger, nach Auffassung der neuern Bibelkritik, eine spätere Zeit ihr dauernde Formen und ein einheitliches Ritual gab. Begriff und Bedeutung zeigen die ältesten Namen des Opfers an, es ist entweder »Mincha«, Gabe, Geschenk der Dankbarkeit, Huldigung und Ergebung, oder »Korban«, ein Darbringen im Sinne der Weihe, mit dem lat. se offerre sich deckend. Nicht Zweck an sich, sollten die O. Förderer des religiösen Empfindens und Wirkens und Symbole des hingebenden Lebens vor Gott sein. Sie zerfielen in Schlacht- (Tier-) und Speise- (Trank-) opfer oder ihrer Darbringung nach in fünf Hauptklassen: 1) Mahl- und Liebesopfer (Schelamim und Sebachim) mit ihren Unterarten: der Dank-, Gelübde-, freiwillige, Schenkungs-, Passah-, Zehnt-, Erstgeburts- und Erstlingsopfer; 2) Sühnopfer: Sünd- und Schuldopfer (Chattath u. Ascham); 3) Ganzopfer (Ola), besonders als Festganzopfer bekannt; 4) Speise- oder vegetabilische O. (Menachot), teils selbständig, teils als Beigabe der Tieropfer dargebracht, und 5) Trankopfer (Nessachim). Außerdem erscheinen noch das Asaselopfer am Versöhnungstag (s. unten), das O. der roten Kuh (4. Mos. 19,1 ff.) und ein eigenartiges Sühnopfer (egla arufa, 5. Mos. 21, 1 ff.). Das priesterliche Gesetz hatte als Opferstätte allein den Vorhof und für das Rauchopfer (Ketoret) den goldenen Räucheraltar im Heiligen des Tempels bestimmt; doch wurde in älterer Zeit überall auch auf Höhen geopfert, und im Reich Israel kannte man gar keine gesetzliche Opferstätte. Die Kosten mußte der Privatmann bestreiten; für die öffentlichen O. aber sorgte entweder der König oder der Tempelschatz. Brandopfer fanden als Morgen- und Abendopfer beim täglichen Gottesdienst statt, außerdem bei den großen Nationalfesten, aber auch bei wichtigen Ereignissen des privaten Lebens. Mit ihnen regelmäßig verbunden waren Speise- und Trankopfer, aus Mehl, Öl und Wein bestehend. Am wichtigsten war das Sühnopfer für das Volk, das jährlich am großen Versöhnungstag (s. d.) stattfand (vgl. Asasel). Die Priester pflegten die Darbringenden, zum Zeichen ihrer Versöhnung mit Gott, mit dem Blute der geschlachteten Tiere (als dem Sitz des Lebens, das Gott gehörte) zu besprengen und, wenn es einer allgemeinen Buße und Entsündigung des ganzen Volkes galt, das Opfertier zu verbrennen, dagegen bei Sühnopfern für einzelne das Fleisch selbst zu genießen.

Die O. der Ägypter waren Spenden, dargebracht, um die Gottheit zu speisen und ihr die sonstigen materiellen Freuden des Daseins zu verschaffen. Reine untadelige Stiere, Kälber wurden geschlachtet. Auch Schweine, Ziegen, Schafe, allerlei Früchte sowie Weizen- und Gerstenähren wurden geweiht. In späterer Zeit wurde der Leib des Opfertiers mit Brot, Honig und Räucherwerk angefüllt und unter Begießung von Öl verbrannt. – Die O. der Indogermanen waren in der Zeit der Urgemeinschaft wohl nur erst Bittopfer: man opferte, um ein Gut zu erlangen, während Dankopfer der Urzeit noch abzusprechen sind. Vgl. Schrader, Reallexikon der indogermanischen Altertumskunde, S. 596–606 (Straßburg 1901). – Die O. der alten Inder waren entweder sogen. Hawischopfer, d.h. Darbringungen von Milch, Opferbutter, Kuchen, Brei, Getreidekörnern, oder sogen. Somaopfer, d.h. Darbringungen des aus der Somapflanze gepreßten berauschenden Saftes. Dazu kommt das Tieropfer, das aber meist als ein bestimmter Teil des Hawisch- und Somaopfers funktioniert. Zu den bedeutendsten Opfern der ältern Zeit gehörten das mehrtägige Königsweihopfer (Râdschasûya) und das berühmte Roßopfer (Açvamêdha). Der Opferdienst selbst war mit einem weitläufigen Zeremoniell verknüpft, das auf das genaueste befolgt werden mußte, wenn das O. Erfolg haben sollte. Im übrigen betrachtete man das O. gewissermaßen als einen Vertrag des Menschen mit den Göttern, der gegenseitig verbindliche Kraft hatte, und die Erfüllung der Bitte war bei richtig vollzogenem O. nicht eine Gnade von seiten der Götter, sondern eine vertragsmäßige Pflicht; ein Dank- oder Sühnopfer, wie die Hebräer, kannten die Inder nicht. Vgl. A. Hillebrandt, Das altindische Neu- und Vollmondsopfer (Jena 1880); Schwab, Das altindische Tieropfer (Erlang. 1886); Oldenberg, Die Religion des Veda (Berl. 1894). Abbildungen der zahlreichen Opfergeräte in der »Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft«, Bd. 9.

Bei den Griechen und Römern war das O. Hauptbestandteil des Kultus und Mittelpunkt der meisten Feste, dargebracht von einzelnen, von Familien oder vom Staate. Nach der Art der Gaben unterscheidet man passend zweierlei O., unblutige und blutige. Jene bilden die Erstlinge des Feldes und der Bäume, Kuchen, Rauchwerk (Zedernholz, Lorbeerblätter, Weihrauch) und Trankopfer (Wein, Honig, Öl). Letztere kommen vor bei Gebeten um das Gelingen eines Unternehmens, bei Verträgen, Totenopfern und beim eignen Trunk, indem die ersten Tropfen als Spende für die Gottheit ausgegossen werden. In bezug auf die blutigen O. ist zu bemerken, daß die Sitte der Menschenopfer zur Zeit, wo wir die Griechen und Römer kennen lernen, bereits im Absterben begriffen ist; dagegen sind Tieropfer ganz allgemein; für sie schreibt die Religion gewisse, peinlich zu beobachtende Rücksichten vor. Nur gesunde, makellose (anders freilich in Sparta), noch nicht zum Dienste für den Menschen verwendete Haustiere (nur die Jägerin Artemis erhält Hirsche, Herakles Wachteln) werden geopfert; den himmlischen Göttern gebühren weiße, den unterirdischen schwarze, den männlichen Gottheiten männliche, den weiblichen weibliche Tiere. Oft ist die Zahl der O. erheblich groß (in Rom einmal im zweiten Punischen Kriege 300), obgleich Hekatombe nicht gerade ein O. von 100 Tieren, sondern nur ein großes, feierliches O. bedeutet. Mannigfaltig und genau bestimmt sind auch die Gebräuche beim O. Der Opfernde trägt einen Kranz oder Binden um das Haupt, zum Zeichen, daß er unter dem Schutze der Gottheit steht; geschmückt ist auch das Opfertier. Nachdem alle Anwesenden sich mit geweihtem Wasser besprengt haben und zu heiliger Stille ermahnt sind (»euphemeite!« »favete linguis!«), bestreut man das Tier mit geweihter Gerste, schneidet ihm einen Büschel Haare von der Stirn, den man ins Feuer wirft, und schlägt es dann zu Boden, worauf man ihm, um für die Besprengung des Altars das Blut zu erhalten, die Kehle durchschneidet. Den Göttern werden das Fett und einzelne Fleischteile, namentlich die Schenkel, verbrannt, das übrige verzehrt teils der Opferer[74] mit seinen Gästen, teils kommt es den Priestern zugute. – Oft war mit dem O. eine Eingeweideschau verbunden (bei den Römern besorgt durch die haruspices, s. d.), um den Willen der Götter zu erkunden. Eigentümlich den Römern waren die Göttermahlzeiten (s. Lectisternium), die nach einem Sieg in der Weise veranstaltet wurden, daß die Altäre mit Speisen besetzt und die Bildnisse der Götter um den Altar herumgelegt wurden; ferner die Suovetaurilia, die darin bestanden, daß am Ende eines jeden fünften Jahres nach vollendetem Zensus ein Schwein, ein Schaf und ein Stier (sus-ovis-taurus) um die Volksversammlung geführt und dann geopfert wurden.

Auch die germanischen Völker opferten sowohl Menschen als Tiere. Die Menschenopfer galten dem Wodan und Ziu, im Norden dem Thor; ihnen legte man eine große sühnende Kraft bei. Nicht nur wurden nach errungenen Siegen die gefangenen Feinde zum Wohlgefallen der Götter an den Bäumen aufgehängt, auch die eignen Leute opferte man, wenn man die Götter erzürnt glaubte. Eigentümlich war der schwedische Brauch, bei eintretender Hungersnot den König zu opfern, als das Köstlichste, was man den Göttern darbringen konnte. Zu Tieropfern wählte man gern besonders wertvolle Geschöpfe aus: edle Rosse und Stiere, den Zuchteber (altnord. sonargoltr, langobard. sonorpair) als das schönste Stück der Herde, Widder; aber auch Hunde, Katzen, zahmes und wildes Geflügel (Habichte) etc. Die unblutigen O. bestanden in Festkuchen und Festbroten, in Bier, Eiern, Milch, Honig etc. Die unblutigen O. durfte der Opfernde selbst darbringen; die blutigen dagegen wurden von den Priestern vollzogen, und zwar meist bei Anlaß großer Festlichkeiten im Beisein der gesamten Gaubewohnerschaft. Im Norden veranstaltete man jährlich drei große O., die mit den drei großen Festen (s. Feste, S. 463) zusammenfielen; außerdem beging man in Schweden alle neun Jahre in Upsala ein großes Sühnfest, wobei neun Häupter von jeder Tiergattung dargebracht wurden, und ein andres Opferfest, ebenfalls alle neun Jahre zur Sühne, feierten die Dänen den Todesgöttern, indem sie in Lethra auf Seeland 99 Menschen sowie Pferde, Hunde und Hähne oder Habichte, jedes in gleicher Anzahl, schlachteten. Außerordentliche O. gab es vorzüglich bei kriegerischen Unternehmungen, bei Königswahlen und Leichenbestattungen. Der Gebrauch, Kriegsgefangene zu opfern, dauerte sogar noch unter den zum Christentum bekehrten Völkern, z. B. den Goten, Herulern, Langobarden, Sachsen, fort. – Bei den Galliern (Kelten) besorgten die Druiden den Opferdienst, und zwar hielt man Menschen für die den Göttern angenehmsten O. Götzenbilder, deren Glieder aus Weiden geflochten waren, wurden mit Menschen angefüllt und verbrannt. Man schlachtete Verbrecher, in deren Ermangelung aber auch Knechte, Kriegsgefangene, selbst Weiber und Kinder. Mit den Gestorbenen ward als Totenopfer alles verbrannt, was ihnen teuer war, auch die Sklaven und Schutzgenossen. Ähnliche Gebräuche fanden sich bei den Finnen, Esthen, Liven, Preußen, Letten, Slawen, wenn auch nach Örtlichkeit, Glauben etc. verschieden.

Die bereits von den Propheten des Alten Testaments erkannte Wahrheit, daß der Mensch der Gottheit nichts anbieten könne, was nicht an und für sich schon ihr Eigentum und ihre Gabe sei, machte das Christentum dadurch geltend, daß es den jüdischen und heidnischen Opferdienst gänzlich beseitigte und den Tod Jesu als die ein für allemal und immer gültige Genugtuung für die Sünden der Menschen und als die letzte Erfüllung der alten Opferidee darstellte. Es ist dies übrigens eine Vorstellung, die auch dem Heidentum nicht völlig fremd geblieben war, wie aus dem Somadienst der Inder, dem Mithrasdienst der Perser sowie dem Osiris-, Dionysos- und Balderkultus hervorgeht. Der ständigen Vermittelung der Früchte des Selbstopfers Christi an die Menschen dient im katholischen Kultus das zugleich als erhabenster Gottesdienst betrachtete Meßopfer (s. Messe, S. 656), in dem durch den Priester Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi verwandelt und Gott geopfert werden, so daß eine unblutige Erneuerung des blutigen Opfers Christi am Kreuz erfolgt (daher unblutiges O. genannt). Opfercharakter tragen auch die Oblationen (s. Oblation). Vgl. Nitzsch, Die Idee und die Stufen des Opferkultus (Kiel 1889).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 73-75.
Lizenz:
Faksimiles:
73 | 74 | 75
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Titan

Titan

Bereits 1792 beginnt Jean Paul die Arbeit an dem von ihm selbst als seinen »Kardinalroman« gesehenen »Titan« bis dieser schließlich 1800-1803 in vier Bänden erscheint und in strenger Anordnung den Werdegang des jungen Helden Albano de Cesara erzählt. Dabei prangert Jean Paul die Zuchtlosigkeit seiner Zeit an, wendet sich gegen Idealismus, Ästhetizismus und Pietismus gleichermaßen und fordert mit seinen Helden die Ausbildung »vielkräftiger«, statt »einkräftiger« Individuen.

546 Seiten, 18.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon