Esthen

[128] Esthen (Ehsten, Esten), Volksstamm im europäischen Rußland, der zur mongolischen Rasse und zur finnischen Völkerfamilie (s. Finnen) gehört und gegenwärtig das eigentliche Esthland (s.d.), die Insel Ösel und den benachbarten Archipel (Dagö, Mohn u. a.), die nördliche Hälfte von Livland sowie kleine Teile der Gouvernements Pskow, Witebsk und St. Petersburg bewohnt. Im Mittelalter reichten die E., zusammen mit den jetzt ganz ausgestorbenen Kuren und den Liven (s.d.), bedeutend weiter nach S., doch sind sie allmählich von den Letten immer weiter nach N. zurückgedrängt worden. Ihr gesamtes Gebiet mag ungefähr 38,500 qkm (700 QM.) und ihre Volkszahl etwa 750,000 Köpfe betragen, wovon 290,000 auf das eigentliche Esthland, 440,000 auf den esthnischen Teil Livlands entfallen. Von den Russen werden die E. Tschuchni oder Tchuchonzi (»Fremdlinge«), von den Letten, ihren südlichen Nachbarn, Iggauni (»Vertriebene«, mit Anspielung darauf, daß die E. von den Letten weiter nach N. hinausgedrängt wurden), von den Finnländern Wirolaiset (»Grenzländer«) genannt. Sie selbst nennen sich Tallopoëg (»Sohn der Erde«) oder auch Maame es (»Mann des Landes«).

Der Wuchs der E. ist weder schön noch kräftig, nur die Strandbewohner machen eine Ausnahme; die im Innern des Landes aber sind kleiner, Kopf und Gesicht sind klein, breit und von gedrückter Form. Überhaupt lassen sich die mongolischen Gesichtszüge nicht verkennen: weder die eng geschlitzten Augen noch die breiten Backen und der kleine Mund. Das meist schlichte, blonde oder braune Haar hängt ungeschoren herab. Dichte Augenbrauen beschatten das tief[128] liegende graue Auge. Bei geringer Schulterbreite sind die Arme lang, die Hände dagegen breit mit kurzen Fingern. Das breite Becken ist von hintenher abgeflacht und wird von kurzen Beinen und kleinen Füßen gestützt, daher die Haltung nachlässig, der Gang schleppend ist. Die Tracht der E. ist sich ziemlich gleich. Die meisten gehen in langen, schwarzen Röcken (ohne Kragen, Aufschläge etc.) von einem Zeug, das sie Wattmann (Vadmel) nennen. Darunter tragen sie ein Wams von blauem Tuch, kurze lederne oder leinene Hosen, wollene Strümpfe und statt der Stiefel eine Art Schuhe, Pasteln genannt, die, aus ungegerbter Kuhhaut gefertigt, mit einer Schnur um den Fuß zusammengezogen werden, im Sommer einen runden Hut, im Winter eine Fuchspelzmütze und einen Schafpelz ohne Überzug. Die Weiber tragen faltige, bunt gestreifte wollene Unterröcke und einen eng anschließenden schwarzen Oberrock, die verheirateten eine eng anschließende Mütze, Haube etc., die Mädchen des revalschen Kreises und auf den Inseln dagegen ein breites Kopfband, Perg genannt. In neuerer Zeit jedoch beginnt die Nationaltracht mehr und mehr einer städtischen Platz zu machen. Die Wohnhäuser sind meist plump und roh und ohne Schornsteine, indem die Schlafkammern von den Riegen (Getreidedarren) aus geheizt werden, wo der Rauch zum Dörren des Korns von dem Ofen und Herd frei durchstreicht und durch die offen stehende Tür hinausgeht. Doch kommen neuerdings die steinernen Schornsteine mehr und mehr in Gebrauch, und es werden dann die Riegen öfters abgesondert von den Wohnhäusern gebaut.

Die esthnische Sprache gehört ihrem Grundstock nach der finnisch-ugrischen Gruppe der großen Uralaltaischen Sprachfamilie (s.d.) an und zeichnet sich vor der finnischen durch größere Kürze und Gedrungenheit aus. Sie zerfällt in drei Hauptdialekte, die man nach den vorzüglichsten Städten ihres Verbreitungsbezirks den dörptischen, revalischen (der für den reinsten gilt) und peruanischen genannt hat. Die Hauptmasse des Volkes ist durchweg national-esthnisch und versteht kaum ein Wort Deutsch. Auch in allen bisher zur Bildung der Bauern errichteten Schulen wird der Unterricht in der Sprache des Volkes erteilt. Sobald sich jemand unter den E. eine höhere Bildung aneignet, tritt er zur deutschen oder (in vereinzelten Fällen) zur russischen Nationalität über. Zur Pflege der Volkssprache besteht seit 1873 eine nur esthnisch schreibende Literarische Gesellschaft (Eesti körjameeste selts), deren Veröffentlichungen (»Toimetused«, d. h. Besorgungen) besonders für die reifere Jugend bestimmt sind und sich über alle Lehrfächer erstrecken. Vgl. Rosenplänter, Beiträge zur genauern Kenntnis der esthnischen Sprache (Pernau 1813–32,20 Hefte); Wiedemann, Esthnisch-deutsches Wörterbuch (Petersb. 1865; 2. vermehrte Aufl. von Hurt, 1891ff.); Derselbe, Esthnische Grammatik (das. 1875); Weske, Untersuchungen zur vergleichenden Grammatik des finnischen Sprachstammes (Leipz. 1873); Ploompun u. Kann, Deutsch-esthnisches Wörterbuch (Reval 1903). – Der Hang zur Poesie ist bei den E. ungemein stark. Wie die Letten improvisieren sie bei allen ihren Zusammenkünften Verse und Gedichte, die in einer melanchol ischen Tonart (immer nur fünf Töne umfassend) gesungen werden. Sie singen und dichten (und zwar vorzugsweise die Frauen) bei allen ihren Arbeiten, im Walde, auf dem Felde, zu Hause, in den Spinnstuben, in den Riegen (s. oben) etc. Nachdem das große Nationalepos der Finnen, die Kalevala (s.d.), erschienen war und die höchste Beachtung der europäischen Gelehrten hervorgerufen hatte, begann man auch in Esthland die Überbleibsel des dortigen Volksgesanges zu sammeln, die in Stoff und Charakter mit der »Kalewala« eine unverkennbare Verwandtschaft zeigen, und es glückte endlich auch, ein Gegenstück dazu herzustellen. Es führt den Namen Kalewi Poëg (»Sohn Kalews«) und enthält 20 Gesänge mit über 19,000 Versen, die sämtlich aus reimlosen, aber oft Assonanz und Alliteration zeigenden vierfüßigen Trochäen bestehen. Sein Herausgeber (Dorp. 1857) ist Fr. Kreutzwald, Übersetzungen besorgten K. Reinthal und Bertram (das. 1861) und F. Löwe (mit Anmerkungen von Reiman, Reval 1900). Vgl. Schott, Die Sagen vom Kalewi Poëg (Berl. 1863); L. v. Schröder, Zur Entstehungsgeschichte des Kalewi Poëg (in den »Verhandlungen der Gelehrten Esthnischen Gesellschaft«, Dorp. 1891). Andre Sammlungen veröffentlichten H. Neuß (»Esthnische Volkslieder, Urschrift und Übersetzung«, Reval 1850–52, 3 Tle.) und Kreutzwald und Neuß (»Lieder der E.«, Petersb. 1854). Esthnische Sagen und Märchen gab gleichfalls Kreutzwald heraus (1866; deutsch von F. Löwe, Halle 1869), ferner H. Jannsen (übersetzt und mit Anmerkungen versehen, Riga 1888). 1895 hat die livländische Ritterschaft sowie die finnisch-ugrische Gesellschaft zu Helsingfors eine namhafte Unterstützung für die Herausgabe der alten esthnischen Volksstücke, Sprüche und Melodien bewilligt.

Ursprünglich waren die E. ein wildes, kriegerisches, auch als Seeräuber über die ganze Ostsee gefürchtetes Volk, das aber seit Anfang des 13. Jahrh. in langen und schweren Kämpfen von den Deutschen Rittern unterjocht und als leibeigene Bauern 600 Jahre lang in drückender Knechtschaft gehalten worden ist. Dadurch sind Volkscharakter und Kulturentwickelung der E. wesentlich bedingt. Die Leibeigenschaft wurde zu Anfang des 19. Jahrh. aufgehoben, und es geschah vieles zur Hebung des kulturellen Niveaus und des Wohlstandes, doch sind die nationalen Gegensätze zwischen der esthnischen Landbevölkerung und den deutschen Grundherren (saksad, d. h. Sachsen), dank einer lebhaften antideutschen Agitation (jungesthnische Bewegung), auch heute noch nicht ausgeglichen, und der Charakter der E. zeigt neben den allen finnischen Stämmen eignen Zügen Mißtrauen und Verschlossenheit. Bis vor kurzem gehörten die E. durchweg zur lutherischen Kirche; neuerdings macht die griechisch-orthodoxe Propaganda, z. T. begünstigt von den nationalen Gegensätzen, immer weitere Fortschritte. Seit der Russifizierung der Ostseeprovinzen bahnt sich eine wachsende Vermischung mit russischen Elementen an, wobei die E. sich als sehr anpassungsfähig, anderseits aber auch durch Arbeitsamkeit, Geschick und wirtschaftliche Tüchtigkeit den Russen vielfach überlegen erweisen. Die Sprache wird eifrig gepflegt. Es erschienen 1901 in esthnischer Sprache 14 Zeitungen und Zeitschriften, und es besteht neben einer aufstrebenden eignen eine ansehnliche Übersetzungsliteratur. Vgl. v. Parrot, Versuch einer Entwickelung der Sprache, Abstammung etc., der Liwen, Lätten, Eesten etc. (neue Ausg., Berl. 1839); Fr. Kruse, Urgeschichte des esthnischen Volksstammes (Mosk. 1846); Wiedemann, Aus dem innern und äußern Leben der E. (Petersb. 1876); »Verhandlungen der Gelehrten Esthnischen Gesellschaft zu Dorpat« (1840ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 128-129.
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