Kalewala

[460] Kalewala (spr. kálewala, »Kalewa-Heim«), Name des finnischen Nationalepos, das die Taten der drei Kalewasöhne schildert: des alten Wäinämöinen, eines zaubergewaltigen Sängers und Erfinder der Zither Kantele, bei dessen Tönen die ganze Natur aufhorcht, die Menschen weinen und die Götter lächeln; des kunstreichen Schmiedes Ilmarinen, und des kampfeslustigen Lemminkäinen, eines nordischen Don Juantypus. Die Geschichten der K. drehen sich hauptsächlich um zwei Punkte: 1) handelt es sich darum, die Tochter Louhis, der bösen Wirtin des hohen dunkeln Nordens Pohjola, als Frau zu gewinnen. Die wichtigste Bedingung, die Ilmarinen löst, ist das Schmieden des Sampo, einer Zaubermühle, die Mehl, Salz und Geld auswirft und überall Fruchtbarkeit und Gedeihen ausbreitet; 2) gilt es, diesen Glückshort von Pohjola zurückzuerobern, was den Kalewalahelden auch unter vielen Gefahren gelingt; die Louhi verwandelt sich in einen Adler, der auf seinem Rücken die Pohjolamannen trägt, und schießt auf das flüchtende Kalewaschiff herunter, der Sampo zerschlägt sich im Wasser und nur die glückbringenden Splitter werden aus Kalewaufer gespült. Die Darstellung ist in echt epischem Ton ganz objektiv gehalten. Mit individualisierender Kraft wird die Wirklichkeit bis ins einzelne hinein ausgemalt. Von der Landschaft, den Tieren und Menschen des baltischen Nordens wird ein farbenhelles Bild entworfen. Die Gemütsart der nordischen Menschen, die, mit der Zärtlichkeit fürs Kleine den Sinn für das Große und Maßlose vereint, tritt überall hervor (Rosencranz). Unter den mannigfachen Episoden, an denen die Dichtung reich ist, sind besonders der hochpoetische Abschnitt von Külervo, des Repräsentanten der Blutrache, die sinnigen Hochzeitslieder und die liebliche Sage von der unglücklichen Jungfrau Aino hervorzuheben. Den eigentümlichsten Zusatz aber bilden die zahlreichen Zauberlieder, magische Beschwörungen in poetischer Form. Das Versmaß besteht aus fortlaufenden vierfüßigen Trochäen mit Stabreim und Gedankenreim[460] (Alliteration und Parallelismus). Dies Epos wurde 1835 von Elias Lönnrot aus Volksliedern zusammengestellt, die er hauptsächlich bei den Kareliern im Gouvernement Archangel ausgezeichnet hatte. Die Kalewalalieder werden noch heute bei ihnen und in dem Gouvernement Olonetz, hart an der Grenze Finnlands, im östlichsten und südöstlichsten Finnland (nördlich und westlich vom Ladogasee) sowie im Petersburger Gouvernement (Ingermanland) gesungen; auch bei den Esten in den Ostseeprovinzen sind überall Varianten anzutreffen. Im mittlern und Westfinnland haben sich nur die magischen Lieder erhalten, doch wurden da vor hundert Jahren auch epische ausgezeichnet. Im ganzen sind ca. 100,000 Varianten und Bruchstücke mit ein paar Millionen Zeilen gesammelt worden. Nach den neuern Forschungen sind die epischen Lieder größtenteils entweder in Westfinnland oder Esthland, die magischen in Westfinnland entstanden. Auf karelischem Gebiet fließen die Gesänge von diesen beiden Quellen zusammen, erhalten neue Zuflüsse aus dem heimatlichen karelischen Boden und das Ganze gerät gleichsam in einen Strudel, aus dem immer neue schäumende Wogen emportauchen. Die Strömung geht hier vom Süden nach Norden. In Ingermanland sind die schon ziemlich häufigen Verbindungen verschiedener Themata meistens lose und unverschmolzen; die magischen Lieder haben sich nur selten mit den epischen vermischt, und die Persönlichkeiten von Wäinämöinen und Ilmarinen (ursprünglich Götter des Wassers und der Luft) treten nur erst in einigen wenigen Gesängen auf. In Finnisch-Karelien sind aus den Verbindungen verschiedener Themata durch vollständige Verschmelzung neue Gesänge entstanden, eine ganz neue Art episch-magischer Dichtung hat sich herausgebildet, und einige Personennamen beginnen alle übrigen zu verdrängen. In Russisch-Karelien ist diese Entwickelung noch weiter vorgeschritten. Die Lieder gruppieren sich um gewisse Personennamen; um diese zu vereinigen, erscheinen weitere Neubildungen; es entstehen Gesangszyklen, und einer von diesen, der Sampozyklus, wird gleichsam zu einem Mittelpunkte, der alles in die Nähe Kommende zu sich heranzieht. An diese letzte Entwickelungsform reiht sich Lönnrots Zusammenstellung. – Eine ältere Ansicht über die Entstehung der Kalewalagesänge auf karelischem Boden vertreten A. Ahlqvist (»Das Karelertum des K.«, finnisch, 1887) und D. Comparetti (s. unten, Literatur), der die epischen Lieder aus der magischen Poesie und diese aus dem Schamanismus erklären; nach der modernern Ansicht sind die Zauberlieder aus der katholischen Magie entstanden und durch den Einfluß der episch-lyrischen Poesie entwickelt. – Was Lönnrots Arbeit betrifft, sind die ältesten handschriftlichen Redaktionen von 1833 genau untersucht worden (A. R. Niemi, Die Zusammenstellung des K., I, finnisch, 1898). Mehr als neun Zehntel des Werkes sind sicher rein volkstümlich; auch das übrige enthält gewöhnlich Reminiszenzen aus den echten Volksliedern, da Lönnrot kein selbständig schöpferisches poetisches Talent besaß. Doch verfuhr er nicht wie ein pedantischer Gelehrter bei der Auswahl der Zeilen aus den Varianten ein und desselben Liedes, sondern folgte einfach seinem poetischen Instinkt. Auch gebrauchte er Interpolationen aus andern Volksliedern zur Ausschmückung eines Gesanges nach der Art der Volkssänger, die ein Lied gerade mit Hilfe andrer weiter entwickeln. Einen Beweis für das seine Gefühl, das Lönnrot für die Volksdichtung besaß, liefert die Tatsache, daß in den später ausgezeichneten Volksliedern Verschiedenes in derselben Weise ausgeführt worden ist, wie im K., nachweislich ohne hiervon beeinflußt zu sein. Der Zweifel einiger Autoren in betreff der Volkstümlichkeit der K. beruhen auf den Ausführungen von K. B. WiklundOm K.«, 1901), denen jedoch, wie K. Krohn in den »Finnisch-ugrischen Forschungen« (1902) nachweist, keinerlei Quellenforschungen, sondern nur lose Mutmaßungen zugrunde liegen. Elias Lönnrots erste Auflage der K. erschien 1835 und wurde in französische Prosa von Léouzon le Duc in »La Finlande« (Par. 1845, 2 Bde.) übersetzt, von Jakob Grimm (»Über das finnische Epos«, in den »Kleinern Schriften«, Bd. 2) besprochen. Die zweite, von 12,000 auf 22,000 Zeilen vermehrte Redaktion Lönnrots folgte 1849 und wurde von A. Schiefner (Helsingfors 1852) und H. Paul (das. 1885–86, 2 Bde.) übersetzt. Eingehend behandelt das Epos Julius Krohn in der »Finnischen Literaturgeschichte«, Bd. 1 (finn. u. schwed., Helsingf. 1883–85 u. 1890) und Kaarle Krohn in der »Geschichte der Kalewalagesänge«, Bd. 1: »Sampo« (finn. 1903), sowie in deutschen Aufsätzen der »Finnisch-ugrischen Forschungen«, 1901 ff. Ältere Kommentatoren sind: Cäsar, Das finnische Volksepos K. (Stuttg. 1862), und v. Tettau, Über die epischen Dichtungen der finnischen Völker, besonders die K. (Erfurt 1873); Comparetti, Der K. (deutsche Ausg., Halle 1892).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 460-461.
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