Blutrache

[98] Blutrache, eine Urform der Rechtspflege, bezweckt die Wiederherstellung des durch die Tötung eines Familiengenossen zerstörten Rechtszustandes auf dem Wege der Selbsthilfe und legt dem nächsten Blutsverwandten eines Getöteten die Pflicht auf, an dem Mörder oder dessen Verwandten mit eigner Hand Rache zu nehmen. Die B. wird oft jahrelang und durch eine Reihe von Geschlechtern ausgeübt und verwickelt nicht selten ganze Familien und Stämme in blutige Fehden. – Die Idee der B. ist allen Völkern des Altertums eigentümlich und noch heute hier und da, namentlich im Orient, herrschend, z. B. bei den Arabern, Persern, den Kaukasusvölkern etc. – Bisweilen kann die B. durch Geld abgelöst werden, wie z. B. nach dem Koran. Auch bei den alten Germanen hatte sie ihren Preis (s. Wergeld), blieb aber trotz aller Verbote der Kirche und der Kaiser das ganze Mittelalter hindurch lebendig und erlosch erst mit der vollen Entfaltung der Territorialhoheit und dem Ersterben des Familienbewußtseins. Bei den Römern wurde in den frühesten Zeiten die B. nach strengem Wiedervergeltungsrecht (jus talionis) vollzogen. Allen Germanen eigen und besonders üblich in Island waren die Blutbrüderschaften, feierlich geschlossene Verbindungen auf Leben und Tod zwischen Männern, von denen der eine für den andern die B. übernahm und, wenn er sie nicht ausüben konnte oder jener starb, sich selbst tötete. Auch bei Slawen und Illyriern kamen solche Verbindungen vor, und die Karen in Birma sowie die Dajak auf Borneo schließen sie noch jetzt unter Vermittelung eines Priesters, der sie von ihrem Blute trinken läßt. Auch in West- und namentlich in Ostafrika ist B. gebräuchlich. Noch bis um die Mitte des 18. Jahrh. herrschte die B. in Korsika derartig, daß man die Zahl ihrer Opfer jährlich auf 1000 schätzte; alle Bemühungen der französischen Regierung haben sie nicht ganz auszurotten vermocht, während sich in Deutschland diese Totschlagsühne nur bis in die Mitte des 16. Jahrh. nachweisen läßt. Vgl. P. Frauenstädt, B. und Totschlagsühne (Leipz. 1881); Post, Die Geschlechtsgenossenschaft der Urzeit (Oldenb. 1875); Kohler, Zur Lehre von der B. (Würzb. 1885); Miklosich, Die B. bei den Slawen (Wien 1887).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1905, S. 98.
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