Gebet

[153] Gebet, Erhebung des Herzens in Andacht zu Gott, das Herz mag sein Gefühl nun in Worten aussprechen (lautes Gebet), oder es mag keine Worte für dasselbe finden (stummes Gebet), welches letztere stets der Fall sein wird, wenn die Bewegung des Gemüths allzumächtig ist. Der Nutzen geschriebener und gedruckter Gebete ist kein anderer als der, daß dem Drange des Gefühls Worte dargeboten werden, wenn es selbst zu mächtig aufgeregt ist, um in sich dieselben zu finden. Zu gleichem Zwecke pflegt man Kranken, besonders Sterbenden, wol auch vorzubeten. Das Herz findet eine Beruhigung in dem Worte, wenn es seine tiefsten Gefühle auszudrücken vermag. Hierin liegt ein Theil der beseligenden Kraft des Gebets; am kräftigsten wirkt aber das Gebet auf den Menschen durch das mit demselben in unumstößlicher Gewißheit wachwerdende Gefühl, daß, wie wenig der endliche Verstand auch die Gegenwart Gottes inne wird, doch der liebende, weise, mächtige Vater es ist, der alle unsere Schicksale lenkt und jedes Leid wie jede Freude zu unserm wahren Besten, als Mittel zu unserer geistigen Erziehung, zur Gottähnlichkeit uns sendet. Der Mensch soll beten in allen Lagen seines Lebens, denn er steht stets in der Hand Gottes, und der gute und fromme Mensch wird beten, weil er nichts Höheres, kein reineres, ihn selbst höher ehrendes Vergnügen kennt, als den steten Umgang mit Gott. Des frommen Menschen ganzes Leben ist Gebet, insofern ihn der Gedanke Gottes niemals verläßt; all' sein Streben ist, daß er in Gott und Gott in ihm lebe. Es gibt keine Religion ohne Gebet, denn dadurch allein hat der Mensch Religion, daß er in Wahrheit göttlichen Geschlechts und ihm daher der Umgang mit Gott höchstes Bedürfniß ist. Nicht Elend und Schwäche führen den tüchtigen Menschen zum Gebet, sondern das Gefühl seiner eignen höchsten Würde, welches er im Umgange mit Gott findet und ohne das er nichts ist. Wie die christliche Religion die Religion der Wahrheit ist, so hat sie auch zuerst das rechte und wahre Gebet gelehrt. »So ihr in meinem Namen betet, werdet ihr Erhörung finden«. lehrt Christus, d.h. so ihr als Sohn zum Vater, als Geist zum Geiste redet. Das Gebet des Mundes, wenn nicht das Herz dabei ist, hat gar keinen Werth, ist überhaupt nur scheinbar Gebet, denn nur das Herz kann beten. Das christliche Gebet darf ferner nicht mit Angst geschehen, sondern es muß eine freie Erhebung des Herzens sein, denn Gott will nicht Knechte, sondern Kinder; ein kindliches Herz aber kennt keine Pflicht, die es aus Furcht thut, sondern der Grund all seines Handelns ist die Liebe. Daher verwirft die christliche Kirche die ängstlichen Gebetsübungen, welche nichtchristliche Völker, Juden und Mohammedaner, noch den Lehren ihrer Religion regelmäßig abhalten müssen. Das Gebet hat keine Kraft nach außen, sondern seine Macht ist rein innerlich, daher schafft es keine äußerliche Gerechtigkeit vor Gott, sondern macht in der Brust des Menschen nur das Gefühl der ihn aufnehmenden Gnade Gottes lebendig.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 153.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien: