Keßlerloch

[863] Keßlerloch, durch die Reichhaltigkeit und gute Erhaltung ihrer Einschlüsse ausgezeichnete vorgeschichtliche Fundstätte dicht an der Eisenbahn von Konstanz nach Schaffhausen, 1 km westlich von Thaingen. Das K. ist eine in den weißen Jurakalk des Randen eingelagerte, mit zwei Ausgängen versehene Höhle, deren Bodenablagerungen Merck seit 1873, Nüesch seit 1893 sehr zahlreiche Geräte und Kunsterzeugnisse, aber auch Tierknochen sowie menschliche Skelette und Teile von solchen entnommen haben, so daß wir durch diese Funde in Verbindung mit denen vom Schweizersbild (s. d.) und vom Dachsenbüel ein sehr genaues Bild von den klimatischen und faunistischen Verhältnissen der nördlichen Vorschweiz vom Ende der Diluvialzeit an besitzen; vor allem aber läßt sich das Tun und Treiben der vorgeschichtlichen Menschen auf Grund dieser Funde sehr gut rekonstruieren. Im Gegensatz zum Schweizersbild, das vom Ende der Renntierzeit an bis zur Gegenwart als gelegentlicher Unterschlupf benutzt worden ist, hat das K. nur am Ende der Mammutzeit und im Anfang der Renntierepoche als Wohnort Verwendung gefunden. Daß dieses immerhin durch sehr lange Zeiträume hindurch geschehen ist, wird bewiesen durch die ungeheure Menge der zerschlagenen Knochen von Tieren, die nicht weniger als sechs verschiedenen Faunen angehören: der alten präglazialen Ebenenfauna mit Löwe, Wolf, Fuchs, Biber, Wildschwein, Edelhirsch, Bison, Urstier; der alpinen Fauna mit Murmeltier, Reh, Steinbock; der Steppenfauna mit Löwe, Ziesel, Wildpferd, Wildesel, Hamster, Marmelkatze; der Tundrafauna mit Eisfuchs, Vielfraß, Alpenhase, Lemming, Mammut, Rhinozeros, Renntier etc.; schließlich einer großen Reihe an Wald und Wasser gebundener Tiere. Im ganzen lassen sich 33 Arten Säugetiere, 10 Arten Vögel und je eine Art Reptilien und Amphibien nachweisen, deren Angehörige z. T. in großen Massen, z. T. nur vereinzelt in der Umgebung des Keßlerloches vom paläolithischen Menschen gejagt und erlegt worden sind. Ausgezeichnet ist das K. dann durch den Reichtum und die Schönheit der in ihm gefundenen Kunstleistungen der Angehörigen der ältern Steinzeit. Berühmt ist das einst vielumstrittene »weidende Renntier vom K.«; ähnlich gut und naturalistisch gezeichnete Ritzarbeiten sind seither noch mehrfach gefunden worden. Anthropologisch interessant ist das K. endlich durch das Vorkommen von menschlichen Skeletteilen auffallend kurzer Dimensionen, aus denen Kollmann den Nachweis einer alteuropäischen Pygmäenrasse versucht hat, die sich der heutigen Bevölkerung unsers Erdteils in ähnlicher Weise unterlagert wie die Pygmäen- und Negrito in Afrika und Indonesien. Vgl. Heim, Über einen Fund aus der Renntierzeit (in den »Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich«, Bd. 18, 1874); Merck, Der Höhlenfund im K. bei Thayngen (ebenda, Bd. 19, 1875); Heierli, Urgeschichte der Schweiz (Zürich 1901); Nüesch, Das K., eine Höhle aus paläolithischer Zeit (Basel 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 863.
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