Politisches Gleichgewicht

[100] Politisches Gleichgewicht, ein derartiges Machtverhältnis nebeneinander bestehender Staaten, vermöge dessen kein einzelner von ihnen die Selbständigkeit oder die wesentlichen Rechte des andern, ohne wirksamen Widerstand zu finden und mithin Gefahr für sich selbst befürchten zu müssen, auf die Dauer zu beeinträchtigen imstande ist. Der Gedanke eines politischen Gleichgewichts im Gegensatz zu der Idee eines Weltreichs kam in den italienischen Händeln am Ende des 15. Jahrh. auf; offiziell erscheint er zum erstenmal im Utrechter Frieden (1713). Namentlich in der ersten Hälfte des 17. Jahrh. bildeten sich Koalitionen der europäischen Mächte gegen die Übermacht des Hauses Habsburg, wie in der zweiten Hälfte gegen die Frankreichs unter Ludwig XIV. Frankreichs Kriegsstärke nach der französischen Revolution warf zwar die bisherigen Kombinationen über den Haufen; Napoleons I. Sturz aber gab die Leitung der Angelegenheiten Europas in die Hände der damaligen fünf Großmächte zurück, und das Prinzip des Gleichgewichts wurde auf dem Wiener Kongreß von neuem die Grundlage der politischen Verhältnisse. Die neuern Ereignisse haben es nicht erschüttert, sondern nur die Machtverhältnisse zugunsten Italiens und Deutschlands nicht unwesentlich verschoben. Das frühere System der entscheidenden Großmächte ist allerdings nicht mehr ausschließlich maßgebend, vielmehr nehmen jetzt nicht nur alle Staaten Europas, sondern vielfach auch außereuropäische Staaten an dem sogen. Europäischen Konzert (s. d.) teil.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 100.
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