Stachelhäuter

[819] Stachelhäuter (Echinodermen, Echinodermata, hierzu Tafel »Stachelhäuter I u. II«), einer der Hauptstämme des Tierreiches. Die S. sind Tiere von radiärem, gewöhnlich fünfstrahligem Bau und lassen diesen meist sofort erkennen; nur die Seegurken (Tafel I, Fig. 3–5) ähneln bei oberflächlicher Betrachtung den Würmern. Besonders ausgeprägt ist die typische Form bei den Seesternen und Schlangensternen (Tafel II, Fig. 7–9), weniger bei den Seeigeln (Fig. 4–6). Ganz vollständig ist die radiäre Anordnung insofern nirgends durchgeführt, als immer ein oder das andre Organ in der Einzahl vorhanden ist, ohne zugleich in der Hauptachse zu liegen, um die sich die Radien (Strahlen) gruppieren. Charakteristisch für alle S. ist erstens die Ablagerung von Kalk in der Haut, die dadurch zu einem mehr oder minder starren Panzer wird, wobei die Haut häufig mit Stacheln besetzt ist (daher der Name S.). Bei den Seegurken freilich liegen in der Haut nur viele Räder, Stäbchen, Anker etc. (Tafel I, Fig. 6) und bilden kein förmliches [819] Skelett; da nun auch die Muskeln unter der Haut bei ihnen kräftig entwickelt sind, so bleibt ihr Körper völlig beweglich. Bei den Seesternen und Haarsternen sind die Arme meist der Bewegung in hohem Grade mächtig, weil sie, ähnlich dem Rückgrate der Wirbeltiere, aus vielen aneinander eingelenkten Kalkstücken bestehen; dagegen ist die Rückenfläche des Körpers mit einer nur wenig nachgiebigen Haut bedeckt. Die Seeigel aber haben fast immer ein unbewegliches Hautskelett, das aus 20 oder mehr in Meridianen geordneten Reihen fester, durch Nähte verbundener Kalkplatten besteht (Tafel II, Fig. 6 links, und die Textfigur).

Schale eines fünfstrahligen Seeigels, von oben. m Madreporenplatte, R Radien mit den Poren für die Ambulakralfüßchen, g Geschlechtsorgan mit seiner Öffnung nach außen, J Interradien.
Schale eines fünfstrahligen Seeigels, von oben. m Madreporenplatte, R Radien mit den Poren für die Ambulakralfüßchen, g Geschlechtsorgan mit seiner Öffnung nach außen, J Interradien.

Übrigens sind fast alle S. zum Ortswechsel befähigt, nur die Haarsterne (Tafel I, Fig. 1 u. 2) sitzen mit einem von der Rückenfläche ausgehenden Stiel zeitlebens oder in der Jugend auf Steinen etc. fest. Die äußerst dünne Lage der Haut bleibt stets unverkalkt und hat zu äußerst Wimperepithel, das sich aber von manchen Teilen ablöst. Die Seesterne und Seeigel besitzen außen am Körper die sogen. Pedicellarien, gestielte, durch ein besonderes Kalkgerüst gestützte, klappen- oder zangenartige Greiforgane (Tafel II, Fig. 2).

Ein weiteres, sehr wichtiges Merkmal für sämtliche S. ist das eigentümliche Wassergefäßsystem oder Ambulakralsystem. Es besteht aus einem Ringgefäß um den Schlund und aus fünf davon ausgehenden Radialgefäßen; die wässerige Flüssigkeit in ihnen wird durch Wimpern in Bewegung erhalten und durch einen besondern Filtrierapparat dem Seewasser entnommen. Von dem Ringgefäß nämlich gehen ein oder mehrere Anhänge (Steinkanäle) aus und hängen entweder frei in die Leibeshöhle hinein (bei Seegurken und Haarsternen), so daß sie erst auf diesem Umwege mit der Außenwelt kommunizieren, oder reichen bis an die Haut heran und enden in ihr jede mit einer sogen. Madreporenplatte (s. Textfigur m), deren Poren den Durchtritt des Seewassers ermöglichen. Von den Radialgefäßen entspringen Kanäle, die durch Öffnungen des Hautskeletts hindurchtreten und in ebenso viele Hautschläuche (Ambulakralfüßchen, Tafel I, Fig. 4) hineinreichen. Zu jedem solchen Füßchen gehört noch eine kleine Blase (Ampulle), die gleichfalls am Radialgefäß sitzt. Wird nun der Inhalt der Blase durch Kontraktion ihrer muskulösen Wandung in das Füßchen gepreßt, so schwillt dieses an und dehnt sich bedeutend in die Länge. Anordnung und Verteilung der Füßchen ist nach den einzelnen Gruppen sehr verschieden; auch die Funktion ist nicht dieselbe, denn sie dienen nicht nur der Ortsbewegung, ihrer hauptsächlichen Funktion, sondern auch als sogen. Ambulakralkiemen zur Atmung, teils auch als Tentakel zum Fühlen, meistens allerdings zur Bewegung. Letztere geschieht in der Weise, daß sich die ausgedehnten Füßchen mit einer kleinen Saugscheibe an einen Gegenstand anheften, dann sich kontrahieren, wobei ihr Wasser in die Ampullen zurücktritt, und so in ihrer Gesamtheit den Körper nach sich ziehen; sie heißen daher auch Saugfüßchen.

Alle S. haben einen von der Leibeshöhle gesonderten Darmkanal. Der Mund liegt meist zentral auf der Bauchseite (Tafel II, Fig. 4) und führt in den oft sehr kurzen und geraden, oft auch mehrfach gewundenen Darm, an dem man Speiseröhre, Magendarm und Enddarm unterscheiden kann. In der Regel ist auch ein After vorhanden und liegt entweder auf dem Rücken oder auf dem Bauch (Tafel II, Fig. 5 A). Bei manchen Stachelhäutern fehlt er aber gänzlich, so daß der Darm blind endet. Besondere Anhänge des Darmes, die zum Teil weit in die Arme hineinreichen, dienen zur Vergrößerung der verdauenden Fläche. In der Nähe des Mundes finden sich häufig besondere zahnartige Gebilde, oder es ist sogar ein förmlicher Kauapparat (Laterne des Aristoteles, Tafel II, Fig. 3) vorhanden. Das Blutgefäßsystem besteht aus einem ringförmigen Gefäß um den Mund und davon ausgehenden, radiär verlaufenden Gefäßen, bei Seegurken und Seeigeln außerdem aus einem am andern Körperpol gelegenen Ring und einem beide miteinander verbindenden Längsgeflecht; letzteres läuft neben dem Steinkanal her und ist wahrscheinlich kontraktil. Das Blut ist eine meist klare Flüssigkeit mit farblosen Blutkörperchen. Die Atmung vermitteln die äußern Anhänge und die der Leibeshöhle zugewandte Fläche der innern Organe, besonders des Darmes. Das Wasser tritt, wie für die Seesterne nachgewiesen ist, durch Poren des Hautskelettes und wahrscheinlich auch durch Öffnungen der Madreporenplatte in die Leibeshöhle und wird dort durch Wimpern in Bewegung erhalten. Auch dienen zur Atmung die schon erwähnten Ambulakralkiemen, ferner die mit der Bauchhöhle kommunizierenden Schläuche auf der Rückenfläche der Seesterne und am Mund einiger Seeigel, endlich die sogen. Wasserlungen der Seegurken, zwei große verästelte Schläuche, die in den Enddarm münden, vom After aus mit Wasser gefüllt und durch ihn entleert werden. Besondere Exkretionsorgane scheinen zu fehlen. Das Nervensystem besteht im wesentlichen aus fünf in den Radien verlaufenden Hauptstämmen als Zentren, die unter sich durch einen Nervenring um den Mund in Verbindung stehen. Augen besitzen die Seesterne am Ende jedes Armes und die Seeigel, zumal Diadema setosum, über den ganzen Körper verbreitet. Die Seegurke Synapta hat fünf Paar sogen. Gehörbläschen. Tastorgane sind die Tentakeln der Seegurken etc. sowie die obenerwähnten Ambulakralfüßchen und Pedicellarien, die aber auch andern Zwecken dienen. Die Fortpflanzung ist fast immer geschlechtlich; nur wenige S. sind Zwitter. Die Geschlechter sind äußerlich nicht voneinander verschieden. Eine Begattung findet nicht statt, vielmehr werden die Eier fast immer außerhalb des mütterlichen Körpers im Seewasser befruchtet; nur verhältnismäßig selten kommt eine Brutpflege durch Bildung von Bruträumen, welche die Eier bergen, außen am Körper vor. Meist entsprechen Zahl und Lage der Geschlechtsteile der radiären Anordnung des gesamten Körpers (Näheres bei den einzelnen Gruppen; s. obige Textfigur, g). Die Entwickelung ist nur selten direkt (Seegurken und lebendig gebärende Seeigel und Seesterne, s. d.), sondern verläuft meist mit einer ganz[820] bedeutenden Metamorphose. Aus dem Ei geht ganz allgemein eine kugelige oder birnförmige, mit Wimpern versehene Larve hervor; an einem Punkte der Oberfläche stülpt sich ein Teil zu einer tiefen Grube ein. Später bilden sich außen am Körper allerlei Auswüchse von oft ganz wunderlicher Form, entweder weich oder mit Kalkstäben im Innern, meist auch mit besondern Wimperschnüren; dabei ist aber die Larve in ihrer Gesamtheit noch streng zweiseitigsymmetrisch gebaut und verrät durch nichts, daß sie sich zu einem radiären Körper umformen werde. Von innern Organen enthält sie zunächst nur den Darm, der sich durch die erwähnte Einstülpung gebildet hat (hierbei ist die Öffnung der Einstülpung der After, während der Mund später entsteht), und die Anlage des Wassergefäßsystems und der Leibeshöhle, die sogen. Vasoperitonealblase, als Anhang des Darmes. Beide lösen sich später aus dem Zusammenhang mit ihm und untereinander, wobei die Anlage des Ambulakralsystems, das sogen. Hydrocöl, schon bald eine radiäre Gestalt annimmt. Aus der Larve bildet sich dann das Strahltier allmählich heraus, indem die provisorischen Larvenorgane teils abgeworfen, teils umgeformt werden und neue Organe entstehen. Während übrigens die Larven stets die Oberfläche der See bevölkern und sich frei schwimmend bewegen, kriechen die erwachsenen Tiere immer auf dem Grund umher; in solchen Meeren aber, wo die heftige Brandung den Larven schädlich wird (z. B. an den Kergueleninseln), ist die Zeit des Schwärmens für dieselben entweder sehr verkürzt, oder sogar ganz in Wegfall gekommen. Alsdann entwickeln sich die Eier in besondern Bruträumen des Muttertieres (Tafel II, Fig. 1), durchlaufen die ersten Stadien rasch und bleiben auch wohl nach der Geburt noch einstweilen beisammen. – Eine Art ungeschlechtlicher Vermehrung kommt bei den Seesternen dadurch zustande, daß sich einzelne Arme ablösen, um allmählich die Scheibe samt den übrigen Armen aus sich heraus neu zu bilden. Überhaupt besitzen die S. ein sehr großes Vermögen zur Regeneration von verloren gegangenen, freiwillig abgeworfenen oder verstümmelten Armen, Teilen des Darmes oder sogar der ganzen Eingeweide etc.

Alle S. sind Seetiere; nur wenige unter ihnen sind immer oder in der Jugend mittels eines Stieles festgewachsen, die meisten kriechen langsam umher, und nur vereinzelte Arten leben oder lebten schwimmend auf der hohen See (Pelagothuria, Ophiopteron, die fossile Saccocoma). Sie ernähren sich teils von Algen, teils von Weichtieren, Krebsen etc., die sie mit ihren Saugfüßchen festhalten. Die Seegurken füllen entweder ihren Darm mit Sand oder lecken ihre Tentakeln ab (s. Seegurken). Manche Tiefseeformen stehen in naher Verwandtschaft zu den ausgestorbenen Stachelhäutern, namentlich zu denen aus der Kreide. Fossil treten die S. schon vor der silurischen Zeit auf; die ältesten Reste gehören den Haarsternen an. Über die Beziehungen aver der S. zu den andern Tierstämmen ist nichts Sicheres ermittelt, jedenfalls stehen sie in der Gegenwart ganz isoliert da. Als die ursprünglichste Gruppe der S. betrachten einige Forscher die Haarsterne, andre die Seegurken, noch andre die Seesterne, alle aber halten die Seeigel für abgeleitete Formen, was gewiß auch für die Seegurken gilt. Näheres s. bei den vier Klassen der S., nämlich den Haarsternen (Tafel I, Fig. 1 u. 2), Seesternen (Tafel II, Fig. 7–9), Seeigeln (Tafel II, Fig. 4–6) und Seegurken (Tafel I, Fig. 3–6). Vgl. Agassiz, Monographie d'Échinodermes vivants et fossiles (Neuchâtel 1838–42); E. Forbes, A history of British Starfishes and other animals of the class Echinodermata (Lond. 1841); J. Müller, Über die Entwickelung der Echinodermen (Berl. 1846–54) und Über den Bau der Echinodermen (das. 1853); Metschnikow, Studien über die Entwickelung der Echinodermen und Nemertinen (Petersb. 1869); Ludwig, Morphologische Studien an Echinodermen (Leipz. 1877–82) und Die Echinodermen (in Bronns »Klassen und Ordnungen etc.«, das. 1889 ff.; fortgesetzt von O. Hamann); Th. Mortensen, Die Echinodermenlarven der Plankton-Expedition (Kiel 1898).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 819-821.
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