Thugut

[508] Thugut, Johann Amadeus Franz de Paula, Freiherr von, österreich. Staatsmann, geb. 31. März 1736 in Linz, gest. 28. Mai 1818 in Wien, stammte von bürgerlichen Eltern (die Familie hieß ursprünglich Thunichtgut) her, fand 1752 Aufnahme in die orientalische Akademie zu Wien, ward 1754 als Sprachknabe (Dolmetschgehilfe) mit einer Gesandtschaft nach Konstantinopel geschickt, hierauf 1757 zum Dolmetsch bei der Pforte, 1766 zum Hofdolmetsch und Hofsekretär bei der Wiener Staatskanzlei ernannt. 1766–74 diente er Ludwig XV. als geheimer Korrespondent. Er ward 1769 Geschäftsträger bei der Pforte, 1770 Resident und 1771 Wirklicher Internunzius daselbst, hob Österreichs Einfluß bei der Pforte, wofür ihn Maria Theresia 1771 in den Ritterstand erhob, und bewirkte 1775 die Abtretung der Bukowina an Österreich. Nachdem er an den Höfen von Neapel, Versailles und Berlin diplomatisch tätig gewesen, ging er 1780 als Gesandter nach Warschau, verweilte dann 1783–87 in Paris in der Absicht, in den französischen Staatsdienst zu treten; als dieser Plan mißlang, kam er 1787 nach Neapel und 1790 als königlicher Kommissar in die Moldau und Walachei, deren Verwaltung er bis Ende des Jahres leitete. 1791 ging er nach Paris, trat dort mit Mirabeau in Verbindung und soll zwischen ihm und der Königin Marie Antoinette vermittelt haben. Von Paris begab er sich nach Brüssel und nach Ausbruch des Krieges mit Frankreich nach Wien und ward 27. Mai 1793 Generaldirektor der Staatskanzlei unter Kaunitz und damit tatsächlich, nach Kaunitz' Tod 1794 auch formell, Minister der auswärtigen Angelegenheiten. Sein Programm war, der Verbindung Rußlands und Preußens zum Zwecke der Erweiterung ihrer Machtsphäre durch eine Verbindung Österreichs mit England ein Gegengewicht zu bieten. Sein Haß gegen Preußen ward nur noch von dem gegen die Jakobiner übertroffen, die ihn daran hinderten, in den Besitz seiner französischen Gelder zu gelangen. In dem englisch-russisch-österreichischen Dreibund vom 28. Sept. 1795 verwirklichte sich sein Programm. Als die Kriegsereignisse und Bonapartes Siege Österreich im Herzen bedrohten, schloß T. zwar den Präliminarfrieden von Leoben 24. Mai 1797 ab, schob aber, in der Hoffnung auf einen Parteienkrieg in Frankreich, den Definitivfrieden so lange hinaus, bis der Staatsstreich des 18. Fructidor in Paris ihn zwang, nachzugeben. Seine Rechnung auf die erwähnte Tripelallianz bewährte sich schlecht, da Rußland in dem Augenblick absprang, als Bonaparte aus Ägypten zurückkehrte und zu neuen Schlägen gegen Österreich ausholte. Nach der Niederlage Erzherzog Johanns bei Hohenlinden (3. Dez. 1800) mußte T. der Friedenspartei am Hofe definitiv weichen, nachdem er schon früher, nach dem ohne sein Wissen geschlossenen Parsdorfer Waffenstillstand 20. Sept., seine Entlassung gegeben hatte, aber tatsächlich noch die Geschäfte besorgte. Sein Nachfolger wurde jetzt Colloredo, dem Graf Trauttmansdorff zur Seite stand. Auf Betreiben seiner Feinde mußte T. Wien verlassen und zog sich für einige Zeit nach Preßburg zurück, um später wieder nach Wien heimzukehren. Vgl. Vivenot, T., Clerfayt und Wurmser 1794–1797 (Wien 1869), T. und sein politisches System (das. 1870, 2 Tle.) und Vertrauliche Briefe des Freiherrn v. T. (das. 1872, 2 Bde.); Zeißbergs Artikel »T.« in der »Allgemeinen deutschen Biographie«, Bd. 38.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 508.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika