Tragisch

[657] Tragisch (griech.) ist ein ästhetischer Begriff, durch den eine an bestimmte Vorstellungsgebilde geknüpfte, ebenso intensive wie verwickelte Gefühlswirkung summarisch bezeichnet wird. Die objektive Grundlage des Tragischen besteht in der Zerstörung von Lebensinhalten, die durch besondere Werte ausgezeichnet sind: diese besondern Lebenswerte offenbaren sich in ästhetischen Eigenschaften, nämlich in denen des Schönen (s. d.) oder des Erhabenen (s. d.); nicht das alltägliche Leben, sondern nur das durch die Vorzüge des Schönen oder des Erhabenen hervorragende Leben kann Gegenstand einer t. wirkenden Vernichtung werden. Zu solcher Vernichtung ist der physische Tod nicht erforderlich; Kleists Leben war tragischer als sein Tod, Grillparzers Medea bewahrt am Ende des Dramas das Leben, aber ihre tragische Vernichtung ist vollkommen. Die Vernichtung kann sich auf die Lebensgüter, in denen sich die Werte des Erhabenen oder des Schönen geltend machen, erstrecken, oder aber (und dies in besonderm Maß) auf die im Erhabenen oder Schönen sich betätigenden Willenskräfte des Menschen; und nicht nur die Willenskräfte des Einzelnen, sondern auch die einer menschlichen Gemeinschaft können der tragischen Vernichtung erliegen. Am gewaltigsten wirkt das Tragische dort, wo die innigsten Bande der Sympathie zerstört werden (Rüdiger von Bechelaren und die Burgunden, Gretchen und Faust, Max Piccolomini und Wallenstein, Elsa und Lohengrin, Brunhilde und Wotan etc.), und der Höhepunkt der tragischen Wirkung ist erzielt, wenn die Vernichtung in demselben Augenblick erfolgt, in dem das reichste Glück erwartet wird (Elsa und Lohengrin). Nicht minder wichtig als die Beschaffenheit des Gegenstandes der tragischen Zerstörung ist die Beschaffenheit der zerstörenden Kraft oder der tragischen Gegenmacht. Sie kann entweder in Naturvorgängen oder in menschlichen Willenskräften in die Erscheinung treten, und die letztern sind wiederum entweder solche des Einzelbewußtseins oder des Gesamtbewußtseins; insbes. aber entstehen tragische Wirkungen auch durch das unberechenbare und unerwartete Zusammenspiel verschiedener wirkender Kräfte des Lebens. Die Gegenmacht ist immer dann t. bedeutsam, wenn sich in ihr die Kraft des Erhabenen betätigt; so ist die vernichtende Gewalt der Elemente oder das dem Einzelnen überlegene Gesamtbewußtsein erhaben und als Gegenmacht ästhetisch wirksam; dagegen ist das Einzelbewußtsein in der Regel als Gegenmacht unzulänglich. Zur Erhöhung seiner Kraft bedient es sich daher häufig der Intrige, die aber, da ihr der Charakter des Erhabenen abgeht, keine echt tragische Wirkung übt. Oft wird als unerläßliche Gegenmacht die Schuld hingestellt, und es ist zweifellos richtig, daß das Gefühl der Schuld zur Verschärfung der tragischen Leiden erheblich beiträgt. Aber abgesehen davon, daß es sehr viele tragische Fälle gibt, wo von einer Schuld gar nicht die Rede sein kann (wie z. B. bei dem Tode der Desdemona oder Kaiser Friedrichs III.), führt dieser Begriff der Schuld die Betrachtung des tragischen Problems auf das moralische Gebiet hinüber, mit dem sie nur indirekt verbunden ist; in den meisten Fällen, wo eine offenbare Schuld vorliegt (wie bei dem gemeinen Verbrecher), kann von Tragik nicht die Rede sein. Daher haben manche Theoretiker eine tragische Schuld nur dort angenommen, wo der Handelnde, durch die Umstände gezwungen, etwas tut, was er eigentlich verabscheut (wie z. B. Rüdiger von Bechelaren oder Max Piccolomini); aber so ungemein erschütternd solche Vorgänge auch sind, so hieße es doch das weite Reich des Tragischen auf ein sehr beengtes Gebiet einschränken, wenn man das Tragische nur in solchen Erscheinungen erblicken wollte. Ein Irrtum liegt auch darin, wenn man (mit Hebbel u. a.) unbedingte Notwendigkeit als ein unerläßliches Merkmal der tragischen Geschehnisse ansieht: das Tragische erfordert allerdings eine unmittelbar einleuchtende Folgerichtigkeit des Geschehens, aber eine starre, platte Notwendigkeit, wie sie etwa dort vorliegt, wo für ein bestimmtes Vergehen eine bestimmte, unabwendbare Strafe verwirkt ist, gehört nicht mehr in das Gebiet ästhetisch reizvoller, also auch nicht in das Gebiet tragischer Gebilde; vielmehr macht sich die lebendigste Wirkung dann geltend, wenn dem Betrachter, trotz seiner Einsicht in die Folgerichtigkeit der Vorgänge, doch das Gefühl übrigbleibt, daß alles auch anders hätte kommen können. Der verwickelten Vielseitigkeit der tragischen Gegenstände entsprechend ist auch die Gefühlswirkung, die das Tragische ausübt, ein aus vielen Faktoren zusammengesetztes Ganzes, das sich nicht mit Aristoteles durch Mitleid und Furcht hinreichend deuten läßt. Es dürfte zunächst nicht der Hinweis auf die starke Wirkung fehlen, die der Betrachter durch die Vergegenwärtigung der positiven Werte des Schönen und Erhabenen gewinnt; mit diesen Gefühlen der Luft, Erregung und lebhaftesten Spannung vereint sich ein allmählich bis zum Schauder sich steigerndes Gefühl der Unlust darüber, daß gerade dasjenige dem Untergange bestimmt ist, was den kräftigsten Lebenstrieb atmet; aber mit dieser Dissonanz pflegen tragische Darstellungen nicht zu enden: in der Regel führen, wenigstens in ästhetischen Gebilden, Betrachtungen mannigfaltiger Art schließlich zu befreienden Gefühlen der Entspannung und Lösung, die dem Gemüt die Rückkehr zu normaler Haltung ermöglichen. Diese Mannigfaltigkeit der tragischen Wirkungen läßt sich nicht auf eine eindeutige Formel bringen. Vgl. Lipps, Der Streit über die Tragödie (Leipz. 1885); Volkelt, Ästhetik des Tragischen (Münch. 1897, 2. Aufl. 1906); Elster,. Prinzipien der Literaturwissenschaft, Bd. 1 (Halle 1897).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 657.
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