Säugen

[957] Säugen (Stillen, Lactatio), Ernährung des Kindes (Säuglings) durch Einsaugen der Milch aus der Brust der leiblichen Mutter od. einer Stellvertreterin, einer Frau (Säugamme) od. eines weiblichen Thieres, z.B. der Ziege. Die Muttermilch ist die naturgemäßeste Nahrung des neugeborenen Kindes u. kann nur nothdürftig durch Ammenmilch od. anderswie ersetzt werden. Das Selbststillen ist für die Mutter nicht weniger als für das Kind eine diätetische Forderung. Bisweilen wird das S. durch Bildungsfehler am Kinde (Hasenscharte, Wolfsrachen) unmöglich, durch Anwachsen des Zungenbändchens erschwert od. durch Milchmangel, durch normale Bildung od. krankhafte Zustände der Brust od. Brustwarzen der Mutter behindert. Wenn die Mutter krank, zu schwach od. zu alt ist, wodurch die Milchabsonderung sowohl der Menge als der Beschaffenheit nach unzureichend od. sonst ungesund wird, so ist das S. zu unterlassen. Zum ersten Male wird das Kind 4–6, höchstens 12 Stunden nach der Geburt angelegt u. sodann aller 2–3 Stunden, u. allmälig gewöhnt man das Kind nachtsüber die Brust seltner zu beanspruchen. Ost geschieht es, daß Kinder, bald nachdem sie sich an der Brust vollgetrunken, einen Mund voll ungehackte Milch ausspeien, was für gewöhnlich nicht als Krankheitszeichen zu deuten ist. Ist das Kind nach Austrinken der einen Brust noch nicht befriedigt, so reichtman ihm die andere. Bezüglich der Diät stillender Frauen soll darauf Bedacht genommen werden, daß gewisse Stoffe, wie Eisen, Kochsalz, phosphorsaurer Kalk, in der Nahrung nicht fehlen, dagegen Pöckelfleisch, Fische, Krebse, Muscheln, Schwämme, Pilze, Essigsalate, Knoblauch, Körbel, Kohl, Krautsalat, Spargel, Zwiebel, Käse, Gefrornes, frisches Obst, Kuchen u. alle erhitzende Getränke vermieden werden. Tägliche Bewegung in freier Luft u. psychische Ruhe sind Säugenden ganz nothwendig. Dem Kinde soll in der Regel während der ersten 6 Lebensmonate keine andere Nahrung gegeben werden. Hat die Mutter zu wenig Milch, so wird dem Kinde Kuhmilch gereicht, unvermischt od. verdünnt, je nach dem Alter des Kindes mit einem Zusatz des sogenannten Milchpulvers, welches hauptsächlich den Zweck hat, den in der Kuhmilch reichlich enthaltenen Käsestoff weniger leicht gerinnbar u. um so verdaulicher zu machen. Bei der Wahl einer Säugamme ist nicht nur deren körperlicher, sondern auch deren moralischer u. geistiger Zustand zu berücksichtigen. Womöglich soll der Zeitunterschied zwischen der Niederkunft[957] der Mutter u. der Amme nicht über 2–3 Monate betragen, ferner muß die Amme eine reichliche u. sich schnell ersetzende Milch von guter Beschaffenheit in der Brust haben u. in dieser Hinsicht von dem Arzte geprüft werden, sowie bezüglich ihres sonstigen Gesundheitszustandes, des Vorhandenseins etwaiger erblicher Krankheiten in der Familie. Die Lebensweise der Amme soll der der stillenden Mutter ähnlich, aber nicht allzu abweichend von der früher gewohnten sein. Manche haben die Ziegen als Säugammen empfohlen; diese Thiere müssen dazu abgerichtet werden, freilich ist der Bockgeruch der Milch oftmals störend, doch soll er bei weißen Ziegen geringer als bei schwarzen sein u. dadurch vermindert werden, daß man Kochsalz unter das Futter der Ziege mischt. Die Entziehung der Muttermilch u. der Übergang zu anderweiter Ernährungsweise des Kindes ist allmälig (binnen 6–8 Wochen) vorzunehmen u. zwar sobald einige Zähne durchgebrochen sind. Eintreten der monatlichen Reinigung bei der Säugerin ist keine Veranlassung zum Entwöhnen, wohl aber erneuerte Schwangerschaft. Will man naturgemäß verfahren, so reicht man dem Kinde bis zum 6. Lebensmonat ausschließlich die Brust, sodann gibt man täglich einmal nach einigen Wochen zweimal (Früh u. Abends) eine Untertasse voll dünner Milch- od. (Hühner-, Kalb-, Rind-) Fleischbrühsuppe, zuweilen auch letztere mit Milch versetzt, od. zur Abwechslung Wassersuppe mit Gries, Reis, Sago. Hat sich das Kind im Verlauf von 1–2 Monaten (im 7. od. 8. Lebensmonat) hinreichend an die Suppenkost gewöhnt, so reicht man ihm die Brust weniger u. weniger u. gibt ihm höchstens dafür Kuhmilch mit Milchzucker (1 Theelöffel auf 1 Tassenkopf) od. gleichzeitig mit Milchpulver versetzt. Auf diese Weise werden Kind sowie Mutter vor den Gefahren des plötzlichen Entwöhnens bewahrt bleiben.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 14. Altenburg 1862, S. 957-958.
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