Veitstanz

[387] Veitstanz (Chorea St. Viti), 1) Großer V. (Chorea major), Krampfkrankheit, welche in Paroxysmen auftritt u. in unwillkürlichen Bewegungen besteht, welche den zweckbewußten ganz ähnlich sind u. wobei das Bewußtsein mehr od. weniger afficirt ist. Jeder Anfall kündigt sich durch Reizbarkeit, Ängstlichkeit, Muskelzittern, Herzklopfen, Athembeklemmung etc. an. Der Anfall beginnt damit, daß der Kranke wider Willen allerlei Bewegungen macht, hüpft, tanzt, klettert, sich im Kreise dreht, gesticulirt etc., wobei er erhitzt aussieht u. seine Augen glänzen. Bisweilen tritt Lachen, Singen, Schreien, Weinen u. Nachahmen von Thiertönen ein. Im höchsten Grade kommt es zu einer Art Verzückung (Ectasis), welche theilweis mit Bewußtlosigkeit verbunden ist, so daß der Kranke nach dem Erwachen nicht weiß, was vorgefallen ist. Die Dauer der Anfälle beträgt Minuten, selbst halbe Stunden u. enden mit Schlaf, Schweiß u. Abspannung, von Zeit zu Zeit kehren sie wieder, werden nach u. nach seltener u. schwächer u. hören endlich auf, noch längere Zeit Nervenreizbarkeit, Abmagerung u. Muskelschwäche hinterlassend. Selten nur steigert sich die Krankheit zu einem dauernden Zustande von Idiosomnambulismus, wobei die Kranken mit geschlossenen Augen handeln, wahrsagen, bauchreden u. dergl., od. hinterläßt Blödsinn ob. Fallsucht. 2) Kleiner V. (Englischer od. Sydenham'scher V., Chorea minor s. Anglorum s. Sydenhami, Ballismus), die nicht seltenen Muskelkrämpfe, welche sich gegen den Willen des Kranken als eine eigenthümliche Muskelschwäche zu erkennen geben u. ihn gerade dann befallen, wenn er willkürliche Bewegungen auszuführen versucht, so daß allerlei verwirrte Gruppen von Muskelthätigkeiten entstehen, welche nicht selten den Anschein von Schabernak, Possen u. Albernheiten an sich tragen. In seltenen u. gefährlichen Fällen erfolgen stoßweise periodische Erschütterungen (Chorea electrica) od. förmliche tonische Zusammenziehungen (Ch. tetanica). Zuweilen besteht die Krankheit nur in stetem Drehen des Körpers nach einer Seite od. Kreiselbewegungen (Ch. rotatoria), od. in einem Vor- u. Rückwärtsgehen wider Willen (Ch. procursiva). Vorzüglich Kinder u. Knaben bis zur Pubertät hin sind dazu geeignet, mehr aber die Mädchen. Die Ursachen liegen in der ganzen Konstitution u. sind zarte sogenannte nervenschwache Kinder am ehesten gefährdet. Auch ererbt kann die Anlage sein. Gelegenheitsursachen sind Schreck, Furcht, Onanie, Würmer etc. Durch den Nachahmungstrieb steckt die Krankheit auch andere nervenschwache Kinder an u. kann, z.B. in Schulen, gleichsam epidemisch werden. Selten dauert die Krankheit länger als 1–2 Monate, zuweilen aber Jahre lang. In den meisten Fällen wird sie mit eintretender Pubertät geheilt. Außer Beseitigung der Ursachen fordert die Krankheit leichte, aber gut nährende Kost u. zweckmäßige psychische Behandlung. Von Arzneimitteln stehen Zinkblumen, Baldrian, Castoreum u.a. in besonderem Credit. Angeblich ist diese Krankheit davon benannt, daß man bis ins 14. u. 15. Jahrh. dieselbe durch Anrufung des St. Veit zu heilen versuchte, s. jedoch Tänzer u. Tarantel. Vgl. E. C. Wicke, Der Große V. u. die unwillkürliche Muskelbewegung, Lpz. 1844; V. Leonhardi, De quatuor choreae Sancti Viti speciebus, ebd. 1845.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 18. Altenburg 1864, S. 387.
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