Wurstgift

[396] Wurstgift (Allantotoxicon). Seit dem Ende des 18. Jahrh. hat man vorzüglich in Württemberg die Bemerkung gemacht, daß nach dem Genuß von Leber- u. Blutwürsten sehr gefährliche Vergiftungsfälle vorgekommen sind, ohne daß man über das Gift selbst eine genauere chemische Kenntniß besitzt. Dasselbe bildet sich, nach Justinus Kerner, wenn solche Würste mit Blut u. Milch bereitet werden, bei Anwendung verdorbener Materialien u. bes. bei schlechter Räucherung u. sorgloser Aufbewahrung. Solche giftige Würste verbreiten, wenn sie aufgeschnitten werden, einen süßlich-säuerlichen, eiter- od. käseartigen Geruch, welcher bes. von der Mitte, bisweilen nur von einer Stelle ausgeht, haben einen schlechten Geschmack u. reagiren stark sauer. Die Ursache dieser Giftigkeit ist noch nicht ermittelt, doch ist sie jedenfalls nicht in der Gegenwart einer giftigen Fettsäure zu suchen, wie man sonst annahm, ebensowenig kann das Gift ein sogenanntes Umsetzungsgift sein, welches nach Art der Fermente auf die Gewebe u. Flüssigkeiten des Organismus zersetzend einwirkt, da das Gift durch die Siedehitze nicht zerstört wird. Nach Schloßberger ist es wahrscheinlich, daß durch einen eigenthümlichen Umsetzungsproceß der Proteïnkörper giftige Alkaloide entstehen. Andere haben in neuerer Zeit die Wurstvergiftung mit der Trichinenkrankheit in Zusammenhang zu bringen gesucht. Die ersten Erscheinungen der Wurstvergiftung stellen sich manchmal schon nach 6, meistens 24 bis 30 Stunden nach dem Genusse ein. Sie bestehen in Functionsstörungen des Verdauungsapparates, des Nervensystems, der Circulations- u. Athmungsorgane. Der Kranke leidet Anfangs an Sodbrennen, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Magen- u. Leibschmerz, starkem Durste, Blutandrang nach dem Kopfe, Trockenheit der Nasen- u. Mundschleimhaut, bedeutenden Schlingbeschwerden, großer körperlicher Abspannung u. Mattigkeit; darauf folgen anhaltende Stuhlverstopfung, viel Harnabgang unter Schmerzen,[396] Zusammenschnüren der Kehle mit cronpähnlichem Husten, Heiserkeit, Doppeltsehen, Erweiterung der Pupille, Lähmung der Augenlider, Gefühl. des Ameisenkriechens in den Extremitäten, langsamer Puls, Athemnoth; es kann selbst Stimmlosigkeit, Blindheit, Lähmung der unteren Glieder eintreten. Der Kranke behält bei allen diesen Erscheinungen meist sein Bewußtsein u. ist frei von Fieber, aber sehr matt u. schwindlich. Der Tod tritt ruhig ein, selten unter Convulsionen; die Leichen zeigen starke Leichenstarre, sind wie mumienartig ausgetrocknet u. gehen nicht alsbald in Fäulniß über. Beim Überstehen dieser Erkrankung können Jahre lang Kränklichkeit, Abmagerung, Stuhlverstopfung, Doppeltsehen, Heiserkeit u. eine gewisse Eintrocknung des Körpers nebst körperlicher u. geistiger Trägheit zurückbleiben. Die Diagnose ist eine ziemlich schwierige; nur wenn man die Erkrankung mehrer Personen mit mehr od. weniger deutlichem Hervortreten der obengenannten Symptome auf den Genuß verdächtiger Wurst zurückführen kann, läßt sie sich einigermaßen bestimmt aussprechen. Alle Personen, welche von einer u. derselben giftigen Wurst gegessen haben, erkranken nicht immer gleich schwer, da die Gefährlichkeit der Vergiftung von der Menge des Genossenen, dem längeren od. kürzeren Verweilen im Darmkanale u. der verschiedenen Aufsaugung der giftigen Stoffe abhängig ist. Die Prognose ist indessen immer eine ungünstige zu nennen. Nach Schloßberger erkrankten in Württemberg von 1800 bis 1850 durch verdorbene Würste nicht weniger als 400, von diesen starben 150; die Mortalität belief sich demnach auf 371/2 Procent. Die Behandlung hat vor allem dahin zu wirken, den weiteren Genuß verdächtiger Wurst zu verbieten, bereits genossene durch Brech- od. Purgiermittel baldigst aus dem Körper zu entfernen u. die Thätigkeit aller Organe, bes. der Haut u. Nieren anzuregen. Als specifisches Gegenmittel hat man das Chlor empfohlen, in Gestalt von Chlorwasser, außerdem alkalische Schwefelleber, Pflanzensäuren, Belladonna, Campher, Phosphor, Arsen; doch ist deren Wirksamkeit nicht erwiesen; am gerathensten ist es gegen die einzelnen Symptome nach ihrer Dringlichkeitvorzugehen.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 19. Altenburg 1865, S. 396-397.
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