Regeln. Kunstregeln

[966] Regeln. Kunstregeln. (Schöne Künste)

Seitdem philosophische Köpfe es gewagt haben, die Werke des Geschmaks in der Absicht zu untersuchen, die Gründe zu entdeken, auf denen der starke Eindruk, den sie auf empfindsame Menschen machen, beruhet, hat man durchgehends dafür gehalten, daß durch dergleichen Untersuchungen Regeln entdekt werden, deren Kenntnis dem Künstler nüzlich seyn können. Darum haben nicht nur Philosophen, wie Aristoteles, sondern auch Künstler, wie Cicero, Horaz, Pope, und in zeichnenden Künsten da Vinci, Rubens, Lairesse, sich ein Verdienst daraus gemacht, Regeln zu geben. Aber es scheinet bald, das einige angesehene Männer, die sich unter uns mit der Critik abgeben, dieses für ein altes Vorurtheil halten. Andere, die so viel weniger Beurtheilung zu haben scheinen, je lebhafter sie empfinden, fangen schon gar an, mit sehr entscheidender Verachtung von Regeln zu sprechen. Man hat sie mit Krüken verglichen, die dem Lahmen wenig helfen, dem Gesunden aber hinderlich sind. Darum scheinet mir diese Materie einer näheren Beleuchtung werth zu seyn.

Wollte man blos sagen, daß Kenntnis der Kunstregeln, ohne Genie und ohne Geschmak, weder ein gutes Werk, noch ein gesundes Urtheil über Kunstwerke hervorbringen, so würde man eine alte und ziemlich durchgehends erkannte Wahrheit sagen, auf deren unnöthigen Wiederholung sich Niemand etwas einbilden darf. Also scheinet es wol, daß es anders zu verstehen sey, und daß die, die mit einer Art von Triumph die Regeln wegreißen, und gleichsam mit Füßen treten, sie für schädlich halten. Dieses, nicht jene alte Wahrheit, wollen wir hier untersuchen.

Vielleicht haben die, denen die Kunstregeln so anstößig sind, gar nie nachgedacht, was diese Regeln eigentlich sind. Sie mögen keinen andern Begriff davon haben, als daß es gleichgültige Vorschriften über Nebensachen seyen, die ihren Ursprung blos [966] in der Mode, oder in zufälligen Umständen haben, wodurch Künstler, deren Werke man als Muster ansieht, vermocht worden, verschiedene an sich gleichgültige Dinge, so und nicht anders zu machen. Nach ihren Begriffen mögen alle Regeln solche willkührliche Vorschriften seyn, wie die – daß die Epopöe müsse in Hexameter geschrieben seyn – daß das Drama fünf Aufzüge haben müsse, und dergleichen. Diese mögen sie immer verwerfen, und als unnüze, oder schädliche Fesseln ansehen, wodurch dem Genie des Künstlers ohne alle Nothwendigkeit nur Hindernisse in den Weg gelegt werden.

Wahre Kunstregeln müssen nothwendige praktische Folgen aus einer nicht willkührlichen, sondern in der Natur der Künste gegründeten Theorie seyn. Theorie? Schon wieder ein anstößiges Wort. »Theorie, sagen diese Kunstrichter ist eben das, was wir nicht haben wollen, was den Geschmak und die Künste verdirbt, was die Begeisterung des Künstlers auslöscht, wie Feuer durch Wasser ausgelöscht wird; was kahle, elende, aller Kraft und alles Geschmaks völlig beraubte Werke hervorbringt.« Das kann alles wahr seyn, wenn man aus Irrthum und Unwissenheit Theorie nennet, was nicht Theorie, sondern Schulfüchserey, ein willkührliches Geschwäz ist, das ein schwacher Kopf für Theorie hält, und wonach er sich richtet. Es kann auch wahr seyn, daß ein zur Kunst unfähiger Mensch sich einbildet, er könne, durch Hülfe der Regeln ein gutes Werk machen, und daß auf diese Weise auch durch eine gute Theorie ein elendes Werk veranlasset wird. Aber davon ist hier die Frage nicht.

Die wahre Theorie ist nichts anders, als die Entwiklung dessen, wodurch ein Werk in seiner Art und nach seinem Endzwek vollkommen wird. So lange man von einer Sache nicht weiß, was sie seyn soll, ist es auch unmöglich zu urtheilen, ob sie vollkommen oder unvollkommen, gut, oder schlecht sey. Wenn wir einem Künstler in einer gewissen Arbeit zusehen, ohne zu wissen, was er zu machen sich vorgenommen hat, so wär es allerdings unmöglich zu beurtheilen, ob er gut oder schlecht verfährt; so wie wir von einem Menschen, den wir auf einer Straße gehen sehen, unmöglich sagen können, ob er auf dem rechten Weg ist, wenn wir nicht wissen, wohin er gehen will. Kennet man aber den Zwek und die Natur eines Werks, so läßt sich auch bestimmen, was es nothwendig an sich haben müsse, um das zu seyn, was es seyn soll. Eine solche Kenntnis der nothwendigen Beschaffenheit einer Sache, wird die Theorie dieser Sache genennt. Hat nun diese die nothwendige Beschaffenheit einer Sache bestimmt; so kann der, der sie machen soll, aus dieser Theorie praktische Folgen ziehen; er kann sagen: So muß mein Werk seyn – also muß ich so verfahren. Diese praktischen Folgen nun sind Kunstregeln.

Welcher vernünftige Mensch wird nun sagen, solche Regeln seyen unnüz, oder gar schädlich? Das wär eben so viel, als behaupten, jede Sache werde durch einen bloßen Zufall, das ist, ohne daß ein Grund dazu vorhanden ist, vollkommen, und wenn man sie mit Nachdenken, und nicht blos auf Gerathewol arbeite, so würde das Werk schlecht werden.

»Wie aber, wenn der Theoriste sich über den Zwek, oder die Art eines Werkes, falsche Begriffe macht?«. Alsdenn hat er keine wahre, sondern eine falsche Theorie gegeben, und die daraus gezogenen praktischen Folgen, sind falsche, deren Befolgung den Künstler vom Zwek abführen würde. Will man sagen, daß dergleichen Regeln schädlich sind; so sagt man etwas sehr unnüzes, weil es jederman schon weiß. Will man also Theorie und Regeln verwerfen, so muß man sagen, es sey keine wahre Theorie der Kunstwerke möglich; jede Theorie sey nothwendig falsch. Wenn dieses mit Grunde soll gesagt werden, so muß einer von folgenden Säzen nothwendig wahr seyn: entweder dieser; daß es nicht möglich sey den Zwek und die Art eines Kunstwerks, z.B. eines Gemähldes, eines Gedichts, eines Tonstüks zu erkennen; oder dieser; daß alles was man aus der Vorstellung des Zweks und der Art einer Sache, über ihre Beschaffenheit schließe, nothwendig auf Abwege führe, und dem Künstler schade. Wer also die Kunstregeln verwirft, muß sich auf die Wahrheit einer dieser beyden Säze stüzen; und diesem sagen wir: fahre wol, und träume vergnügt, bis du aufwachen wirst. Währender Zeit, da unser Kunstrichter schläft und träumet, will ich hier ein Gespräch einrüken, daß dieser Sache, wie ich vermuthe, einiges Licht geben wird.

»Woher kommt es, das fürtrefliche Werke der Kunst älter, als Theorien und Regeln sind? Beweißt dieses nicht, daß diese Speculationen wenigstens überflüßig sind?« Wir müssen uns recht verstehen. Was will man damit sagen, fürtrefliche Werke der Kunst seyen älter, als Theorie und Regeln? »Das [967] will sagen; Homer habe eine fürtrefliche Epopöe, Sophokles fürtrefliche Tragödien gemacht, ehe Aristoteles oder etwa ein andrer seichter Speculist, Regeln über diese Dichtungsarten gegeben hat.« Gut. Aber sollten Homer und Sophokles gar nicht gewußt haben, was sie eigentlich machten, als jener seine Epopöen, dieser seine Trauerspiehle verfertigten? Sollten sie keinen bestimmten Zwek gehabt? Sollten sie sich selbst niemal gesagt haben, dieses schikt sich, und das schikt sich nicht zu meinem Werke? Sollten sie nie aus der Vorstellung dessen, was sie sich zu machen vorgesezt, Gründe hergenommen haben, einige Sachen die ihnen einfielen, zu verwerfen, andre nachdenkend zu suchen? Sollten sie nie etwas, das ihnen in der Hize der Begeisterung eingefallen war, aus dem Grunde verworfen haben, weil sie gemerkt, es schike sich nicht in das Werk, daran sie arbeiteten?

»Es scheinet allerdings, daß sie bey ihrer Arbeit gedacht, das eine gewählt, oder gesucht, das andre verworfen haben. Aber dieses war nicht die Folge der Theorie, noch der Kenntnis der Kunstregeln, die damals noch nicht vorhanden waren.« Geschah also dieses wählen und verwerfen aus einem blinden Zufall, oder waren Gründe dazu vorhanden? »Nicht der blinde Zufall, sondern Genie und Geschmak, ein richtiges Gefühl gab diesen Männern an die Hand, was sich schikte, und nicht schikte, und wie jedes seyn müßte.« Wol. Aber wenn das, was du Genie und Geschmak nennest, nicht etwas würkliches seyn soll, wenn die Wörter Genie und Geschmak nicht leere unbedeutende Töne sind; so kann jene Erklärung nichts als dieses sagen; daß diese Männer eine so scharfe Beurtheilung, und ein so feines Gefühl dessen, was zum Zwek dienet, gehabt haben, daß ihnen ohne deutliche Entwiklung der Theorie und der Regeln, das Dienliche eingefallen, und daß sie zufolge jener Beurtheilung, und jenes Gefühls, das Unschikliche verworfen haben. Es wird sich wol Niemand getrauen zu sagen, Homer, Pindar, Phidias, Demosthenes und alle große Künstler, haben ihre Werke verfertiget, wie die Biene ihre Zelle macht;1 sie waren sich ohnfehlbar wol bewußt, was sie thaten. Dieses heißt kurz und gut; sie hatten Theorie und Regeln; aber mehr durch ein richtiges Gefühl, als durch deutliche Vorstellung der Sache. Und hier ist der Punkt, wo wir anfangen einerley Meinung zu seyn.

Es giebt also eine Theorie der Kunstwerke, aus welchen die Regeln folgen, die der gute Künstler beobachtet: aber diese Theorie kann so eingewikelt in dem Kopf des guten Künstlers liegen, daß er, ohne sich dessen deutlich bewußt zu seyn, ihr zufolge handelt, und ein fürtrefliches Werk an den Tag bringt. Hierüber bleibet nicht der geringste Zweifel. Also wäre nur noch die Frage zu entscheiden, ob es für die Künste gleichgültig, ob es nüzlich oder schädlich sey, daß ein speculativer Kopf die Theorie und die daraus fließenden Regeln, die in dem Genie des gebohrnen Künstlers, wie die künftige Pflanze in ihrem Saamenkorn, eingewikelt liegen, und ihm selbst kaum merkbar sind, entfalte, und in allen ihren Theilen deutlich vor Augen lege.

»Richtig. Und nun getraue ich mir zu behaupten, daß es nicht nur unnöthig, sondern in mancherley Absicht schädlich sey, daß die in dem Kopfe des guten Künstlers liegende Theorie, mit der Folge der Regeln, deutlich entwikelt werde. Ich will mich nicht einmal darauf stüzen, daß die Entwiklung der Theorie den Schaden nach sich ziehet, seichte Köpfe, denen es am Genie und Geschmak fehlet, in die Thorheit zu verleiten, Kunstwerke zu unternehmen, weil sie sich einbilden, die Theorie sey hinlänglich ihnen den Weg zu zeigen, den sie gehen sollen. Es würde mir nicht an einem Ueberfluß von Beyspiehlen fehlen, die diesen Mißbrauch der Theorien unwiedersprechlich beweisen. Aber dieses will ich übergehen, weil ich, ohne diesen Umweg zu nehmen, meine Sache geradezu beweisen kann.«

»Aber ich will, mit Erlaubniß, um deutlicher zu seyn, ein besonderes Beyspiehl wählen, an dem ich meinen Saz doch allgemein beweisen werde. Es ist wol unläugbar daß unser Gehen, eine Kunst sey. Wer daran zweifeln wollte, dürfte nur darauf acht haben, was für lange Uebung bey Kindern nöthig ist, ehe sie sicher und ordentlich, wie erwachsene Menschen gehen können. Ist aber das Gehen eine Kunst, so wird sie auch ihre Theorie und ihre Regeln [968] haben. Es geschiehet nicht von ungefähr, daß die Füße so und nicht anders gesezt werden, daß jeder Mensch seinen Schritt hat, und daß beym Gehen ein Schritt so weit oder lang ist, als ein andrer. Was würde es nun, um des Himmels willen, für ein unsinniges Unternehmen seyn, wenn man die Theorie dieser Kunst entwikeln, alle Regeln desselben erforschen, und dann die Kinder anhalten wollte, nach diesen Regeln gehen zu lernen?«

»Erstlich ist offenbar, daß dieses völlig unnüz wäre; weil jedes gesunde Kind, von Anfang der Welt an, bis auf diesen Tag, ohne diese Theorie gehen gelernt hat, und weil ein lahmes Kind, durch sie nimmermehr wird gehen lernen. Aber sie wär nicht blos unnüz, sondern schädlich. Denn ohne Zweifel würden sich hier und da pedantische Ammen finden, (denn die Pedanterey ist nicht blos den Gelehrten eigen) die ihr Kind, nach diesen Regeln würde unterrichten. Wehe denn dem armen Kind; es wird entweder gar nicht, oder sehr viel später, als andere gehen lernen. Denn wenn wir auch sezen, es sey schon klug genug alle Regeln des Gehens zu fassen und zu behalten, was für ein jämmerliches Gehen wird das nicht seyn, wenn der kleine Fuß keine Bewegung machen und keine Stellung annehmen soll, als bis das arme Kind die Regel davon hergesagt, oder doch der Länge nach, hergedacht hat?«

»Daß dieses gerade der Fall der Kunsttheorien sey, därf ich dir nicht lang beweisen. Es liegt am Tage, daß Künstler von gesundem Genie, ohne entwikelte Theorie fürtrefliche Werke verfertiget haben, und noch izt verfertigen, gerade so, wie die Kinder die Kunst des Gehens gelernt haben, und noch lernen. Es liegt ferner am Tage, wie schnell und glüklich der in Begeisterung gesezte Künstler, das was zu seinem Werk nöthig ist, erfindet, und dem Werk einverleibet, und daß es ihm zu unendlicher Beschwerde gereichen würde, nicht eher fortzufahren, bis er die Regeln für jeden Fall in Ueberlegung genommen hätte.«

»Und so hoffe ich erwiesen zu haben, daß entwikelte Theorien und Regeln dem Künstler nicht blos unnüz, sondern schädlich sind.«

So scheinet es: doch müssen wir sehen, ob nicht irgend in deinem Beyspiehle vom Gehen, etwas sey, wodurch die Anwendung auf unsere Frage unschiklich, und der daraus gezogene Schluß unrichtig werde.

Ich will ohne Sophisterey, und ohne das, was ich behaupte, zu erschleichen, die Kunst des Gehens auch als einen ähnlichen Fall vor mich nehmen.

Wären die schönen Künste eben so genau an die natürlichen und nothwendigsten Bedürfnisse des Menschen gebunden, als die Kunst des Gehens, so würde die Natur ohne Zweifel jedem Menschen das Genie zu diesen Künsten eben so mildthätig gegeben haben, wie die zum Gehen nöthige Fähigkeiten. Gehörte es so zu den Bedürfnissen der Menschen, daß jeder ein Dichter wäre, wie es dazu gehöret, daß jeder gehen könne, so wären wir alle gute Dichter, die wenigen ausgenommen, die durch Verwahrlosung, oder andere Zufälle an Genie lahm worden, wie einige Menschen an den Schenkeln gelähmt sind. Nun ist offenbar, daß nicht alle Menschen, deren Genie sonst ganz gesund ist, Dichter, oder Mahler, oder Tonkünstler sind. Also möchte es mit dem zum Grunde der Untersuchung angenommenen ähnlichen Fall, nicht so ganz seine Richtigkeit haben.

Vielleicht hätte sich die Kunst der Sprach besser auf unsern Fall anwenden lassen. Das Sprechen ist ohne Zweifel auch eine Kunst. Ein Theil derselben, sich verständlich auszudruken, ist ein so natürliches Bedürfnis, daß alle Menschen, die nicht verunglükt sind, diese Kunst, wie das Gehen, ohne entwikelte Theorie und Regeln, lernen. Es fällt auch der gelehrtesten Amme nicht ein, ihrem Säugling die Grammatik zu lehren, um ihm dadurch die Sprache beyzubringen. Und doch hat man die Theorie der Kunst entwikelt, und die Regeln auseinandergesezt; und noch ist es, so viel ich weiß, keinem verständigen Menschen eingefallen zu sagen, die Grammatik sey überhaupt unnüz oder schädlich. Nur ihren Mißbrauch, da man Kinder will durch die Grammatik sprechen lehren, wird von allen verständigen Menschen getadelt.

Nämlich das zierliche, reine, angenehme Sprechen, gehört nicht unter die ersten Bedürfnisse des Menschen. Ohne Theorie und Regeln würde es nicht jederman lernen, wie das Sprechen überhaupt. Darum fand man für gut, diese Theorie zu entwikeln. Niemand wird wol sagen, daß der, dem die Sprache durch den täglichen Gebrauch geläufig worden, und der nun gerne nicht blos nothdürftig sich auszudruken, sondern mit einer gewissen Zierlichkeit zu reden wünschet, sich vor der Grammatik hüten soll. [969] Ich will aber diese Vergleichung nicht weiter treiben, sondern nur bey der Kunst des Gehens bleiben, und sie richtiger auf unsern Fall anwenden. Wir sind beyde darüber einig, daß es Tollheit wäre, die Theorie des gemeinen Gehens, zur Beförderung dieser so allgemeinen Kunst, zu entwikeln. Aber da unsre Untersuchung sich nicht auf Künste bezieht, die eine Art von Instinkt alle Menschen lehret, sondern auf schöne Künste, die ein nur wenigen Menschen verliehenes Genie und einen nicht jedem angebohrnen feinen Geschmak erfodern; so dünkt mich, wäre die Kunst des Tanzens besser zur Vergleichung gewählt worden. Menschen von gewissem Genie, haben auch ohne Theorie und Regeln, Tänze erfunden. Mit diesen behilft sich auch jedes noch rohe Volk, und bekümmert sich um keine Theorie: Empfindung und Geschmak sind hinlänglich. Aber auch da haben die, die etwas scharfsinniger sind, als andere, hier und da, aus der in ihrem Kopf eingewikelt liegenden Theorie einzele Regeln gezogen, die sie, so bald sich eine Gesellschaft bloßer Naturalistentänzer zusammen gefunden hat, ihnen sagen, und die von diesen auch willig angenommen werden.

Dieses hat den ersten Grundstein zur Theorie der Tanzkunst gelegt. Man hat angefangen über den Charakter der von Natur eingegebenen Tänze nachzudenken; man hat entdekt, daß sie fröhlich, oder zärtlich, oder galant seyen u. d. gl.; man hat ferner allmählig bemerkt, daß gewisse Wendungen, gewisse Schritte, Sprünge, Gebehrden, besser, andre weniger gut, mit dem besondern Charakter gewisser Tänze übereinkommen, andre aber ihm entgegen sind. Man hat bey weiterer Untersuchung auch gemerkt, daß bey Uebereinstimmung dieser Schritte, Wendungen und Gebehrden, mit dem Hauptcharakter, diejenigen vorzüglich seyen, die zugleich Leichtigkeit, Zierlichkeit und eine gewisse Anmuthigkeit haben. Man hat genauer Achtung gegeben, worin dieses besteht, und es andern so gut, als es angienge gesagt und vorgemacht. So ist allmählig die Theorie des Tanzens entwikelt, und so sind die Regeln entdekt worden.

Wenn nun ein Theoriste kommt, und dem Tänzer sagt, daß man die verschiedenen Charaktere der Tänze wol unterscheiden müsse; daß ein Tanz ernsthaft und mit Würde begleitet; ein andrer fröhlich und zur Freude ermunternd, ein dritter verliebt und zärtlich sey u.s.f. Daß jeder Charakter seinem Wesen nach eine für ihn schikliche Geschwindigkeit habe, daß z.B. die fröhlichen Tänze nothwendig geschwindere Bewegung erfodern, als die ernsthaften; daß jede Bewegung und jede Gebehrde, außer ihrem wesentlichen Ausdruk auch Leichtigkeit und Zierlichkeit haben müsse, und was dergleichen Anmerkungen mehr sind. Wenn nun alles dieses, so bestimmt und so ausführlich, als die Natur der Sach es erlaubt, gesagt, und in ein ordentliches und faßliches System gebracht wird, so hat man glaube ich, eine Theorie des Tanzens.

»Allerdings.«

Und diese Theorie und Regeln, sind dächte ich, dem der einmal ein Tänzer seyn soll, weder unnüz noch schädlich.

»Das kann vom Tanzen so seyn. Aber in Ansehung der Dichtkunst, der Mahlerey und andrer Künste, möchte es sich anders verhalten.«

Mein Freund, ich habe izt nicht Zeit dir zu zeigen, daß der Fall auf alle schönen Künste gleich paßt. Wenn du nicht Lust hast, dich selbst davon zu überzeugen, welches ohne großes Kopfbrechen geschehen könnte, so glaube was du willst, und hiemit lebe wol.

Es läßt sich aus diesem Gespräch leicht abnehmen, daß es nicht die Absicht des Verfassers desselben gewesen, den ganzen Kram der Regeln, die man in allen Rhetoriken, Poetiken und andern Büchern über die Kunst antrift, für nothwendig zu halten. Unüberlegte Kunstrichter haben die Theorie mit einer Menge entweder blos willkührlicher, oder doch solcher Regeln, die nur auf das Zufällige der Form und der Materie gehen, überladen; sie haben, ohne zu unterscheiden, was in einem Kunstwerk wesentlich und was zufällig ist, alles, was ihnen gefallen hat, für nothwendig gehalten, und eine Regel daraus gezogen. Wo viel Wege sind, zum Zwek zu gelangen, haben sie durch eine Regel den Künstler zwingen wollen, gerade den einen, der ihnen etwas gefallen hat, zu gehen. Selbst der große Aristoteles ist nicht frey von solchen Regeln.

Wahre Regeln, die dem Künstler dienen, lehren ihn bestimmt beurtheilen, was zur Vollkommenheit seines Werks nothwendig, und was blos nüzlich ist. Man muß aber dabey den besten Regeln nicht mehr Kraft zuschreiben, als sie ihrer Natur nach haben. Sie geben dem Genie blos die Lenkung, nicht die Kraft zu arbeiten; sie sind wie die [970] auf den Landstraßen aufgerichteten Wegsäulen, nur dem nüzlich, der noch Kraft hat zu gehen, dem Müden und Lahmen aber nicht die geringste Stärkung geben.

Was der Künstler in der Hize der Begeisterung, ohne Bewußtseyn irgend einer Regel erfindet, wählet, anordnet und bearbeitet, das muß er hernach durch Hülfe der Regeln beurtheilen, und allenfalls verbessern. Einige Regeln betreffen das Mechanische der Kunst, andre den Geist und den Geschmak. Werden jene beobachtet; so wird das Werk frey von Fehlern2. Beobachtet der Künstler diese, so wird es gut.

1Ein so ganz mechanisches Verfahren soll Sophokles dem Aeschylus vorgeworfen haben. Er sagte von ihm, wie Athenäus im 1 B. berichtet; ὁτι ἐι καμ τα δεοντα ποιει, ἀλλ᾽ οκ ἐιδωσγε. Daraus könnte man schließen, daß wenigstens Sophokles immer gewußt habe, warum er jedes so und nicht anders gemacht.
2S. Richtigkeit.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 966-971.
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