Nordische Mythologie

[354] Nordische Mythologie. Nach den Ideen der skandinavischen Urvölker liegt die Erde in der Mitte der Welt, oder der Welten, denn sie nahmen mehrere über einander liegende Welten an, welche durch Luft, Nebel, Reifschichten etc. von einander abgesondert waren. Die Erde überhaupt, wie sie vom Ocean umschlossen, von Gebirgen durchzogen, von Flüssen durchschnitten ist, heisst Manhem oder Mannheim. Der mittelste Theil der Erde heisst Midgard, und wurde, wie die Völker jener Gegenden glaubten, von ihnen selbst bewohnt. - Midgard ist das Eigenthum der Menschen, welche dasselbe bewohnen. Im Innern der Erdmasse wohnen die Zwerge oder Elfen, die Schöpfer der Steine und Metalle, die trefflichsten Arbeiter in diesen Stoffen; sie hiessen Swartalfen, ihr Reich Swartalfaheim, aus welchem sie nur selten, und dann nur, um den Menschen zu schaden, hervorkamen. Diess ist die Erde, wie sie besteht; wie sie entstanden, sangen die alten Skalden, die Dichter der Isländer, Norweger, Dänen und Schweden. Sie sagen, von Anfang und unerschaffen war nur Muspelheim und Niflheim, die Nebelwelt, worin der Alles verschlingende Brunnen Hwergelmer sich befindet, aus welchem zwölf Flüsse entsprangen, die jedoch nur so weit gingen, bis die Flüssigkeit, welche sie füllte, durch den Frost erstarrte; so thürmte sich durch das immer nachströmende und über das erste hinüberfliessende Wasser das Eis zu solcher Menge auf, dass es den Abgrund von Niflheim, in welchen es stürzte, ganz ausfüllte. - Alles, was aus Niflheim ausging, war kalt, starr und finster, dagegen alles aus dem gleichzeitig vorhandenen Muspelheim Kommende (die Licht- oder Feuerwelt, welche südlich von Niflheim lag) warm und leuchtend. Da nun die Sonnenstrahlen aus Muspelheim dem Reif aus Niflheim begegneten, so schmolz der letztere, und es entstand aus herabgefallenen Tropfen der Riese Ymmer, der Eis-Riese, dessen beide Füsse miteinander seine Nachkommen, die Eis - Riesen, erzeugten, während ihm selbst noch unter den Armen ein Mann und ein Weib erwuchs. - Zugleich mit dem Ymmer entstand aus der Vermischung von Wärme und Kälte die Kuh Andumbla, aus deren Eutern vier Milchströme flossen, von denen sich der Riese nährte. Die Kuh aber erhielt sich durch das Belecken der salzigen Reifsteine, aus denen, durch eben dieses Belecken befeuchtet, Haare, dann ein Haupt, dann ein Mann erwuchs, welcher Bure hiess; er erhielt, auf welche Weise ist unbekannt, einen Sohn, Bör; dieser nahm Bestla, eine der Töchter des Riesen Baulthorn, zum Weibe, von welcher er drei Söhne, Odin, Wile und We erhielt, welche späterhin Beherrscher des Himmels und der damals noch nicht geschaffenen Erde wurden. Die Söhne des Bör waren edel und gut, die Nachfolger Ymmer's aber verrucht, daher stets Kampf und Streit zwischen ihnen, welcher damit endete, dass der Eis - Riese erschlagen und sein Leichnam in den Abgrund geschleppt wurde; nun bildeten die Söhne des Bör die Erde aus dem Körper des Riesen. Seine Hirnschale ward als Gewölbe ausgespannt und auf vier Stützen gesetzt, zu welchen sie die Zwerge Austri, Westri, Sudri, Nordri (Osten, Westen, Süden, Norden), als Wächter setzten. Des Riesen Blut bildete das Meer und die Flüsse, seine Knochen die Berge, das Fleisch die Erde, Zähne und Kiefern die Felsen und Klippen, sein Haar wurde zu Bäumen, das Hirn zur Wolke. - Noch war Alles finster. Nun aber nahmen die Söhne Bör's die Funken, welche aus dem glänzenden Muspelheim herüberflogen, und befestigten sie am Innern der Hirnschale, damit sie die neugeschaffene Erde erleuchteten. Der Riese Narsi (finster) hatte die Nat (Nacht) zur Tochter. Diese zeugte mit Nagelfari (Luft, Aether) einen Sohn, welcher Andur hiess (Stoff); ferner mit einem zweiten Gatten Anar (Bildungstrieb) eine Tochter Jörd (Erde), endlich mit einem dritten, welcher Delingur hiess (Dämmerung), den Dagur (den Tag); dieser war so schön und heiter wie seines Vaters Geschlecht, daher ihn Allfadur mit seiner Mutter zu sich nahm; Jedes von Beiden erhielt einen mit einem Rosse bespannten Wagen. Die Rosse hiessen Skinfaxi und Hrimfaxi (Glanzmähne und Dunkelmähne); das Ross der Nacht bethauet jeden Morgen die Erde mit dem Schaum seines Gebisses, dann folgt der Tag mit dem glänzenden Rosse. Sool und Maan, zwei Kinder des Mundilfari (Sonne und Mond) waren die Lieblinge ihres Vaters, der, stolz auf der Tochter Schönheit, sie an den Gott der Freude vermählte, worüber erzürnt Alfadur beide Kinder den Eltern nahm und an den Himmel versetzte. Sool lenkte den Wagen des Tages, Maan den der Nacht. Auch die Menschen wurden von den Söhnen Bör's geschaffen. Sie wandelten einst am Meeresstrande und fanden zwei hohe Steinblöcke: aus diesen bildeten sie das erste Menschenpaar, der Mann ward Ask (Esche), die Frau Embla (Erle) genannt. Die Steinbilder wurden von den Söhnen Bör's mit Leben und Seele, mit Vernunft, Sprache und den fünf Sinnen begabt. - Im grossen Ganzen ist hier, wie beinahe unter allen Theogonien, eine gewisse Uebereinstimmung nicht zu verkennen: beinahe überall, bei den Mexicanern und bei den Griechen, bei den Römern wie im hohen Norden von Europa, sind Riesen, Giganten, Titanen, Cyclopen, die Urbewohner des Chaos; sie sind die Schöpfer und Erzeuger der milderen Götter: Zeus bei den Griechen, Odin bei den Nordländern, ist der Vermittler zwischen dem alten und dem neuen Göttergeschlecht. Die drei Söhne Bör's, Odin, Wile und We, schufen nun die Zwerge aus dem Staube der Erde, dann stiegen sie auf zum Himmel und liessen sich von ihren neuen Geschöpfen eine herrliche Stadt und prachtvolle Gärten anlegen, auch die Windhjalmsbrücke (die Himmelsbrücke) war nicht vergessen, welche Erde und Himmel verbindet, das ist der Regenbogen, strahlend in drei schönen Farben, stark genug, die guten Geister zu tragen, doch schwach unter der Last der bösen. Der rothe Streif ist das Feuer, welches den nahenden Sterblichen zur Asche verzehrt. Dort wohnen nun die Söhne Bör's: Odin liebt die Göttin des Meeres und steigt täglich hinab in deren Schooss, um in ihrer Schönheit zu schwelgen und mit ihr aus[354] goldenen Pokalen zu trinken; seine Strahlen vermählen sich mit den Dünsten der Erde und erzeugen den Gott des Donners. Nun aber fangen arge Verwirrungen an, weil die Sage eine Verwechselung zwischen dem ersten und dem zweiten Odin eintreten lässt. Alte Bücher, Chroniken und Sagen melden, dass etwa im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung vom Caucasus her ein Volk, welches sich Asen (Asiaten) nannte, gezogen sei; der Führer desselben hiess Sigge, und als er durch Russland zog, gab er diesem Lande einen seiner Söhne zum Herrscher; dasselbe geschah auf der Fortsetzung seiner Wanderung bei den Cimbriern, Sachsen, Dänen und Franken; von Dänemark, dem er Skioll, seinen fünften Sohn, gab, ging er nach Schweden, wo der König Gylf regierte, der, um nicht Krone und Leben zu verlieren, dem Fremdlinge und dessen Lehre huldigte; er begründete eine neue Gesetzgebung und einen neuen Gottesdienst, nahm den Namen Odin an, und setzte eine Priesterkaste ein, welche Rechtspflege, Gottesdienst und Orakel unter sich hatte. Der neue Odin erfand (oder brachte mit) die Buchstabenschrift, die Kunst des Gesanges, des geregelten Krieges, der Zauberei; seine Lehre setzte andere Götter ein, als diejenigen, welche bis daher das Land regierten. Es war erstlich Odin, der Gott der Götter, der nie sterbende, und Frigga, seine Gemahlin, welche mit ihm auf dem Throne Lidskialf sitzt, von welchem man in alle Lande sehen kann. Von ihnen Beiden stammt das ganze Göttergeschlecht, wesshalb er Alfadur (Vater Aller), auch Walfadur (Vater der in der Schlacht Gefallenen) heisst, welch letzterer Name ihm als dem in Walhalla Vorsitzenden zukommt. - Des Gottespaares Kinder sind: Thor, der Stärkste und Gewaltigste unter Göttern und Menschen, der Donnergott; Baldur, der schönste, reinste, jugendliche Gott; Braga, der Gott des Gesanges und der Beredtsamkeit; Tyr, der Gott des Krieges, der Führer der Schlachten, und Hödur, der blinde, starke Gott, das Sinnbild der vom Verstande nicht gezügelten Gewalt. Nach Andern ist Thor (wie oben angeführt) der Sohn Odin's und der warmen Erde; aber auch die winterliche harte Erde gebar ihm einen Sohn Wali, den Frühlingsgott, das Symbol des wachsenden Tages. - Von diesen Söhnen Odin's geht nun das ganze Göttergeschlecht aus, er ist also unmittelbar der Stammvater desselben. In Asgard, der festen Götterburg, ist der Aufenthalt aller Götter, einer mächtigen Burg, von welcher allein die Windhjalmsbrücke, Bifrost (der Regenbogen), herab zur Erde führt. Dort stand Baldur's Palast Glittner, welcher auf goldenen Säulen ruhte, und Odin's Palast Walaskialf, welcher ganz von Silber erbaut war. Dort war inmitten von Asgard, im Thale Ida, der Versammlungsplatz der Götter, wo sie zum Rath, zum Mahle niedersassen, dort war Gladsheim, der Saal der Freude, Wingolf, der Palast der Freundschaft und Liebe, und Glasor, der Hain mit goldenen Bäumen; ferner Walhalla, ein Palast von hoher Pracht, im schönsten Walde gelegen, voll immer blühender und Früchte tragender Bäume, wo die in der Schlacht gefallenen Helden wohnten. Wie Schlacht und Sieg, wie die Freuden des Mahles und der Liebe sie auf der Erde zumeist entzückt hatten, so war auch dort die Zeit in stets sich erneuernden Krieg und in Genuss aller andern Freuden getheilt. Sie lieferten Schlachten, schlugen sich schwere Wunden, allein sobald das Horn zur Tafel rief, waren die Wunden von selbst geheilt, sie schwelgten in dem köstlichen Meth, im Einheriar-Oel, im Trank der Unsterblichkeit, womit die Walküren ihnen die Becher füllten, und in den Armen der schönen Heldenmädchen ruheten sie von ihren Kämpfen aus und fanden bei den ewig jungfräulichen Wesen ewig neue unvergängliche Freuden. Odin versammelte diese Helden um sich, damit sie ihm dereinst bei dem Weltuntergang beistehen im Kampfe gegen das böse Princip, gegen die Götter der Unterwelt. Loke ist der Sohn des Riesen Farbaute und der Riesin Laufeia; er ist kein Gott, doch ein höheres Wesen, so arglistig und böse, als schön von Körper. Die Riesin Angerbode (Angstbotin - Botschaft des Unglücks) ward von ihm Mutter der Hel oder Hela, der Göttin der Unterwelt, des Wolfes Fenris, und der Schlange Jormungandur, gewöhnlich die Midgardschlange genannt. Hel ist halb blau, halb fleischfarben, von der scheusslichsten Gestalt. Ihre Wohnung liegt in Niflheim, Elidnir (Schmerz) heisst ihr Saal, Köer (Krankheit) ihr Bette, Hungur (Hunger oder Hungersnoth) ihr Tisch, Ganglati und Ganglöt (Säumniss und Langsamkeit) sind ihre Diener; zu ihr wanderten alle die Unglücklichen hinab, welche an einer Krankheit natürlichen Todes starben, während die durch Waffen Getödteten in Walhalla versammelt wurden. Fenris ist ein Ungeheuer, das, wenn es den Rachen aufsperrt, mit dem Oberkiefer den Himmel, mit dem untern den Abgrund der Unterwelt berührt. Die grosse Midgardsschlange umgibt die ganze Erde; sie ruht auf dem Boden des Meeres und erhebt nur dann und wann ihr Haupt, um ganze Fluthen zu verschlingen. - Diese vier dämonischen Gewalten sind als die bösen Principien den guten entgegengesetzt; sie werden den Untergang der Welt veranlassen, der in der nordischen Mythensprache die Götterdämmerung heisst; sechs fürchterliche Winter werden aufeinander folgen, als erstes Zeichen der Weltvernichtung. Von allen Seiten wird Schnee herabstürzen, die Kälte wird unerträglich, die Sterne werden verlöschen, die Sonne wird verborgen sein, ein wilder Krieg entzündet die ganze Erde. Nun machen die Bewohner von Muspelheim einen Angriff auf Asgard; sie stürmen die Himmelsbrücke, welche zwar unter ihnen zusammenstürzt, doch den gewaltigen Odin so wenig beschützen kann, als alle seine Helden, die, wie muthig sie mit ihm und für ihn fechten, doch fallen: der Wolf Fenris sperrt seinen Rachen auf und verschlingt das Weltall. - Aus der schrecklichen Zerstörung geht eine neue Sonne, eine neue Erde hervor. Mode und Magne (Geist und Kraft) erhalten Thor's gewaltige Waffe, den zermalmenden Hammer; Widar, der Sieger, reisst dem Wolfe den Rachen entzwei, die Flammen aus Muspelheim verlöschen; eine neue Sonne leuchtet der wiedergeborenen Erde; ein einziges gerettetes Menschenpaar, Lift und Liftrasor, von Morgenthau genährt, erneuert das Menschengeschlecht, neue Gottheiten bewohnen den Himmel, und Glück und Freude sind nun unvergänglich.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. 354-355.
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