Kuss

[243] Kuss. Ist der Mund die Pforte des Herzens, der Quell der Rede und Ueberzeugung, so entströmt ihm auch die Liebe, die Liebe in all' ihren wundersamen Offenbarungen, deren Morgenroth der Blick verkündigt, deren heilige Glut, verschmelzend in einer Doppelflamme, die Lippen besiegeln! Daher der Drang, was der Mund gesprochen, durch den Druck des Mundes zu bekräftigen; es gilt, Seele in Seele zu hauchen, wo der Ausdruck fehlt, reden nur die Lippen in heiliger, keuscher Vermählung, alle irdische Seligkeit, Liebe, Wohlwollen, Treue, Innigkeit hat sich in ihren Spitzen concentrirt; wie eine Flamme die andere sucht, um mit ihr zu verschmelzen, so hier die Lippen und in ihnen das vergeistigte Feuer, welches Herz und Seele ausgeströmt. – Nicht allein die Liebe küßt, auch die Verehrung, das Wohlwollen! Der Vater drückt den Segenskuß auf den Mund seines Kindes und das Kind lechzt nach dem Kusse der Mutter, wenn es dem Drange seiner Gefühle noch nicht Worte zu geben vermag. Der Abschiedskuß, von Thränen befeuchtet, ist das feurige Denkmal der Erinnerung, das geistige Stammbuchsblatt für ein ganzes Leben. Alles Große und Erhabene personificiren wir im Bilde des Kusses; die Sonne küßt das Meer, der Mond die grünende Landschaft, der Himmel im Lenz die Erde; der Meister drückt seinem Kunstwerke den Kuß der Vollendung auf etc.; von der Liebe geküßt tritt der Mensch[243] , in's Leben und der Schmerz haucht dem Sterbenden, der Leiche den letzten Abschiedskuß auf die erblaßten Lippen. – Der Engel Gottes, so sagt uns der Glaube, wird uns auch jenseits mit einem Kusse zum bessern Leben erwecken! – Die Seligkeit des Liebeskusses schildert ein Dichter mit folgenden Worten:

Das Auge hat im Auge

Gespiegelt sich vor Wonne,

Im Angesicht der Sonne

Sich selbst entbrannt zur Sonne.

das Wort hat es verkündet,

In zauberischen Klängen.

Es strömt so reich vom Herzen

Und möcht' es doch zersprengen

Und Seufzer nur verkünden,

Was heiß die Seel' erfüllet,

Und müssen Glut entzünden,

Wenn sie die Glut gestillet. –

Und wie die Seufzer starben,

Blieb nur des Athmens Beben,

Der Seele leis' Geflüster,

Ihr Pulsschlag und ihr Leben. –

Und wenn auch er will schwinden,

Dann müssen sich die Lippen

Im sel'gen Rausche finden;

Dann strömem Herz und Seele

Mit göttergleichen Flammen

Im Doppelfluß zusammen.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 6. [o.O.] 1836, S. 243-244.
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