Energie, specifische

[269] Energie, specifische, ist die eigenartige Erregungsweise eines Sinnesorganes, die Tatsache, daß jedes Sinnesorgan auf verschiedene äußere Reize stets mit den gleichen Empfindungsqualitäten antwortet. Dies weist wohl auf eine phylogenetisch entstandene Anpassung der Sinnesorgane und Sinnesnerven an besondere Reize der Außenwelt hin, dergestalt, daß jeder derselben stets einen bestimmten, specifischen Erregungsvorgang (inneren Reiz) in jedem Sinnesorgane zur Folge hat.

Die Grundverschiedenheit der einzelnen Sinnesfunctionen betont GALEN (en tais aisthêtikais dynamesi: III, 639). DESCARTES erklärt sie aus der Verschiedenheit der Nerven und Nervenbewegungen. »Horum sensuum diversitates, primo ab ipsorum nervorum diversitate, ac deinde a diversitate motuum, qui in singulis nervis fiunt, dependent« (Princ. phil. IV, 190). BONNET erklärt: »Chaque sens a une organisation qui lui est propre, d'ou résultent ses effets« (Ess. de Psychol.c. 27). PLATNER betont: »Daß die Nerven eines jeden Sinneswerkzeugs eine besondere Beschaffenheit haben, ist nicht unwahrscheinlich« (Phil. Aphor. I, § 156). Diese Ansicht ist bei den Physiologen des 18. Jahrhunderts verbreitet (vgl. DESSOIR, Gesch. d. Psychol. I2, S. 401).

Neu begründet wird (im Anschlusse an KANTS Apriorismus, (s. d.)) die Lehre von den »specifischen Sinnesenergien« durch JOH. MÜLLER. Nach ihm kommt den Sinnesnerven eine ursprüngliche »eingeborene Energie« zu, vermöge deren sie auf die verschiedensten Reize stets mit der gleichen Empfindungsart antworten, so daß die Empfindungen rein subjective Zeichen für unbekannte Vorgänge sind (Handb. d. Physiol. d. Sinne 1837, I, 261; Zur vergleich. Physiol. d. Gesichtssinn. 1826, S. 45, 52 ff., Lehrb. d. Physiol. d. Mensch.4 I, 1844, S. 667.). HELMHOLTZ verwertet dieses Gesetz für die Theorie der Ton- und Lichtempfindungen (Physiol. Opt.2, S. 233; Lehre von d. Tonempf., Abschn. 3 u. 4). Aber nur die »Modalität« der Empfindungen ist durch den Sinnesapparat bestimmt, die »Qualität« wird durch den äußeren Reiz mitbestimmt. Alle Nervenfäden haben dieselbe Structur, dieselbe Erregbarkeit (Vortr. u. Red. I4, 98 ff., 296 ff.). So auch H. SPENCER, JODL (Lehrb. d. Psychol. S. 182 ff.), RIEHL (Phil. Krit. II 1, S. 52 ff.). Er betont, daß der äußere Reiz erst einen inneren erzeugt, der erst den adäquaten Anlaß zur Empfindung (z.B. der Lichtempfindung) bildet. Der Sinn wählt vermöge seiner Adaptation an specifisch[269] bestimmte Reize denjenigen Teil eines Reizcomplexes aus, der seinen adäquaten Reiz enthält. Ferner ißt der Sinnesapparat »selbst ein Teil der objectiven Welt«. »Außer quantitativen oder meßbaren Wirkungen müssen die Dinge auch qualitative Wirkungen austauschen, so gewiß es specifische Empfindungen gibt, und die Empfindung stellt sich uns als die vollendete Entwicklung der Beschaffenheit der Reize dar; sie ist durch die Beschaffenheit der Sinne mitbestimmt, aber nicht durch diese allein erzeugt« (Zur Einf. in d. Philo(s. d.) Gegenw. S. 63 ff.). Auch WUNDT erklärt sich gegen die Einseitigkeiten der Energie-Theorie. Bei den chemischen Sinnen findet eine »Transformation« der Reize in innere Processe statt (Gr. d. Psychol.5, S. 51). Das »Gesetz der specifischen Energie« ist aus drei Gründen unhaltbar: 1) steht es in Widerspruch mit der Entwicklungsgeschichte der Sinne. Diese setzt eine Veränderlichkeit der Sinneselemente voraus, und das wieder eine Modificierbarkeit dieser durch die Reize. »Darin liegt eingeschlossen, daß die Sinneselemente überhaupt erst in secundärer Weise, nämlich infolge der Eigenschaften, die sie durch die ihnen zugeführten Reizungsvorgänge annehmen, die Empfindungsqualität bestimmen« (l.c. S. 52 f.). 2) »Der Begriff der specifischen Energie widerspricht der Tatsache, daß in zahlreichen Sinnesgebieten der Mannigfaltigkeit der Empfindungsqualitäten eine analoge Mannigfaltigkeit der physiologischen Sinneselemente durchaus nicht correspondiert« (l.c. S. 53). 3) »Die Sinnesnerven und die centralen Sinneselemente können deshalb keine ursprüngliche specifische Energie besitzen, weil durch ihre Reizung nur dann die entsprechenden Empfindungen entstehen, wenn mindestens zuvor während einer zureichend langen Zeit die peripheren Sinnesorgane den adäquaten Sinnesreizen zugänglich gewesen sind« (l.c. S. 54). »Alles spricht demnach dafür, daß die Verschiedenheit der Empfindungsqualität durch die Verschiedenheit der in den Sinnesorganen entstehenden Reizungsvorgänge bedingt ist, und daß die letzteren in erster Linie von der Beschaffenheit der physikalischen Sinnesreize und erst in zweiter von der durch die Anpassung an diese Reize entstehenden Eigentümlichkeit der Aufnahmeapparate abhängen. Infolge dieser Anpassung kann es dann aber auch geschehen, daß selbst dann, wenn statt des adäquaten, die ursprüngliche Anpassung der Sinneselemente bewirkenden physikalischen Reize ein anderer Reiz einwirkt, die dem adäquaten Reiz entsprechende Empfindung entsteht. Doch gilt dies weder für alle Sinnesreize noch für alle Sinneselemente« (l.c. S. 54). Zwischen Empfindungen und physiologischen Reizungsvorgängen besteht ein Wechselverhältnis, insofern verschiedenen Empfindungen stets verschiedene Reizungsvorgänge entsprechen (Satz vom »Parallelismus der Empfindungsunterschiede und der physiologischen Reizunterschiede«) (l.c. S. 55; vgl. Grdz. d. phys. Psychol. I5, C. 8). Vgl. Qualität, Sinn.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 269-270.
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