Hemmung

[433] Hemmung: Aufhebung oder Erschwerung einer Tätigkeit durch eine Widerstandskraft:[433] a. physikalisch, b. physiologisch, durch Hemmungsnerven, durch Großhirnerregungen, c. psychologisch, durch Gefühle, Affecte, Strebungen, Überlegung, kurz durch die Willenstätigkeit des Ich, insbesondere durch den besonnenen Willen (die active Apperception, (s. d.)), welcher den Zudrang von Vorstellungen, den Associationsverlauf u.s.w. zu hemmen, aufzuhalten vermag. Die Wirkung der Hemmung besteht in einer Verdunkelung des Gehemmten im Bewußtsein. Fixierung und Hemmung von psychischen Inhalten sind Correlate, beide ergeben sich aus einem Acte.

Den Begriff der psychischen Hemmung kennt bereits ARISTOTELES (De sens. 7; Eth. X 4, 1174 b 17 squ.). Auch bei LEIBNIZ (Erdm. p. 740 b) und KANT (WW. I, 142) ist er angedeutet. CHR. WOLF betont: »sensatio fortior obscurat debiliorem« (Psychol. empir. § 76).

HERBART nimmt an, daß gleichzeitig auftretende, partiell oder total entgegengesetzte Vorstellungen einander »hemmen«, d.h. ihre Intensität verringern, sich gegenseitig verdunkeln, aus dem Bewußtsein verdrängen (Psychol. a. Wiss. I, § 36 ff.). »Vorstellungen werden Kräfte, indem sie einander widerstehen. Dieses geschieht, wenn ihrer mehrere entgegengesetzte zusammentreffen« (Lehrb. zur Psychol.3, S. 15). Dabei verwandelt sich das wirkliche Vorstellen in ein Streben, vorzustellen (l.c. S. 16). Die Vorstellungen hemmen einander; die »Reste nach der Hemmung« sind die Teile einer Vorstellung, die unverdunkelt bleiben (ib.). Die »Statik und Mechanik des Geistes« beschäftigt sich mit der Berechnung des »Gleichgewichts« und der »Bewegung« der Vorstellungen. »Vorstellungen sind im Gleichgewichte, wenn den notwendigen Hemmungen unter ihnen gerade Genüge geschehen ist. Nur allmählich kommen sie dahin; die fortgehende Veränderung ihres Grades von Verdunkelung nenne man ihre Bewegung« (l.c. S. 17). Wichtig ist die Bestimmung der »Hemmungssumme« und des »Hemmungsverhältnisses«. Erstere ist »gleichsam die zu verteilende Last, welche aus den Gegensätzen der Vorstellungen entspringt« (l.c. S. 17), sie ist »das Quantum des Vorstellens, welches von den einander entgegenwirkenden Vorstellungen zusammengenommen muß gehemmt werden« (Psych. a. Wiss. I, § 12). Hemmungsverhältnis ist »dasjenige Verhältnis, in welchem sich die Hemmungssumme auf die verschiedenen, widereinander wirkenden Vorstellungen verteilt« (l.c. § 43). Durch eine Proportionsrechnung findet man den »statischen Punkt« einer jeden Vorstellung, d.h. den »Grad ihrer Verdunkelung im Gleichgewichte« (Lehrb. z. Psychol.3, S. 17). »Die Summe sowohl als das Verhältnis der Hemmung hängt ab von der Stärke jeder einzelnen Vorstellung, – sie leidet die Hemmung im umgekehrten Verhältnis ihrer Stärke, und von dem Grade des Gegensatzes unter je zweien Vorstellungen, denn mit ihm steht ihre Wirkung aufeinander im geraden Verhältnis« (ib.). Die Hemmungssumme muß als möglichst klein betrachtet werden, »weil alle Vorstellungen der Hemmung entgegenstreben, und gewiß nicht mehr als nötig davon übernehmen« (ib.). Unter den Bewegungsgesetzen der Vorstellungen ist das einfachste folgendes: »Während die Hemmungssumme sinkt, ist dem noch ungehemmten Quantum derselben in jedem Augenblick das Sinkende proportional« (l.c. S. 19 ff.; Psych. a. Wiss. § 43, § 75; vgl. Hauptpunkte der Metaphys. § 13). Der metasphysische Grund, weswegen entgegengesetzte Vorstellungen einander widerstehen, ist die Einheit der Seele, deren Selbsterhaltungen sie sind. »Alle Vorstellungen würden nur einen Act der einen Seele ausmachen, wenn sie sich nicht ihrer Gegensätze wegen hemmten, und sie machen wirklich nur einen Act aus, inwiefern sie[434] nicht durch irgend welche Hemmungen in ein Vieles gespalten sind« (Lehrb. z. Psychol.3 S. 21). Nach VOLKMANN ist Hemmung »die ganze oder teilweise Außer-Wirksamkeit-Setzung des Vorstellens einer Vorstellung«, »die Aufhebung oder Verminderung des Bewußtwerdens einer Vorstellung«. Die Hemmung trifft eigentlich nicht die Vorstellung, sondern das Vorstellen, sie bedeutet »keine Vemiehtung, sondern nur ein Latentwerden des Vorstellens, ein Unbewußtwerden der Vorstellung« (Lehrb. d. Psychol. I4, 341). Hemmung ist »Herabsetzung der Klarheit« (l.c. S. 342). »Gleichzeitige entgegengesetzte Vorstellungen hemmen einander und verschmelzen sodann, d.h. sie setzen so viel ihres Vorstellens außer Wirksamkeit, als der Vereinigung widerstrebt, und vereinigen den Rest in einem Gesamtact« (l.c. S. 437). »Die Hemmungssumme ist als ein Druck zu betrachten, der auf den zu hemmenden Vorstellungen gemeinsam ruht. Diesem Drucke jedoch setzt jede der Vorstellungen einen andern Widerstand entgegen, und der Druck selbst fällt auf jede der Vorstellungen in anderer Intensität« (l.c. S. 349; vgl. DROBISCH, Mathem. Psychol. § 37 ff.). G. A. LINDNER erklärt: »Je schwächer eine Vorstellung ist, desto größer ist der Anteil, den sie von der Hemmungssumme auf sich nehmen muß. Wird dieser Anteil größer als ihre ursprüngliche Stärke, so wird die Größe ihres wirklichen Vorstellens unter Null herabgesetzt, d.h. die Vorstellung sinkt unter die Schwelle des Bewußtseins... Die Erfahrung lehrt, daß die Vorstellungen, von der Hemmung getroffen, beständig unter die Schwelle des Bewußtseins sinken, um andern Vorstellungen Platz zu machen« (Lehrb. d. empir. Psychol.9, S. 68 ff.). – Nach FORTLAGE ist die Hemmung ein Nebenerfolg der Verschmelzung des Ungleichartigen zweier Vorstellungen (Syst. d. Psychol. I, 176). Nach J. H. FICHTE sind nicht die Vorstellungen hemmende Kräfte, das Hemmende ist allein der Geist als Ganzes (Psychol. II, 172 f.). Die Hemmungstheorie Herbarts mit ihrer Mathematik ist auch von den meisten neueren Psychologen als willkürliche Construction erkannt worden. Gegen die Theorie u. a. WUNDT (Grdz. d. phys. Psych. II3, 392 f.). Nach ihm geht die psychische (Klarheits-)Hemmung nicht von den Vorstellungen, sondern von der Apperception (s. d.). aus (ib.), welche, indem sie bestimmte Inhalte fixiert, klar macht, andere zum Sinken unter die Klarheitsschwelle bringt. G. HEYMANS versteht unter psychischer Hemmung »die allgemeine Tatsache, daß ein Bewußtseinsinhalt durch das gleichzeitige Gegebensein eines andern Bewußtseinsinhaltes einen Intensitätsverlust erleidet, also entweder geschwächt oder vollständig aus dem Bewußtsein verdrängt wird« (Unters. üb. psych. Hemm., Zeitschr. f. Psychol. 21. Bd., S. 321 ff.). In seiner »Actionstheorie« (s. d.) berücksichtigt MÜNSTERBERG die hemmende Wirkung motorischer Gehirnfunctionen (Grdz. d. Psychol. I, 527 ff.). Vgl. Complication, Reproduction, Verschmelzung, Bewußtsein (NOIRÉ).

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 433-435.
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