Instinct

[515] Instinct (instinctus, Antrieb) ist (subjectiv) eine Art des Triebes (s. d), eine Regsamkeit des psychophysischen Organismus, die, ohne Bewußtsein (Wissen) des Endzieles, eine zweckmäßige Handlung (Bewegung) einleitet. Der Instinct beruht auf einer Anlage (s. d.) des Organismus, die als Product von Willens- und Triebbetätigungen früherer Generationen und der Vererbung jener aufzufassen ist. Die Instincthandlungen sind mehr als mechanisch, sie sind zwar nicht Object des Bewußtseins, aber doch Bewußtseinsfunctionen von geringer Klarheit, (generell) mechanisierte (s. d.) Willensvorgänge. Sie gehen von inneren Reizen, Impulsen aus, welche teilweise von außen ausgelöst werden. Die individuelle Erfahrung ist nicht ohne Einfluß auf die Modification der Instincte, die sich oft mit eigentlichen Trieb- oder Willenshandlungen verbinden. Neben den individuellen, selbstischen gibt es sociale Instincte.

Die Instincte gelten bald als unbewußte Intellect- und Willenshandlungen, bald als bloße Reflexbewegungen, sie werden bald einer universalen Vernunft[515] zugeschrieben, bald als Producte individueller Erfahrung und Gewohnheit, bald endlich als vererbte mechanisierte Triebe und Dispositionen betrachtet. – Im weitesten Sinne heißt »Instinct« die »Spürkraft« des Geistes.

Über die Instincte der Tiere handelt schon SENECA (Epist. 121). Vom »instinctus naturae« (Naturtrieb) sprechen die Scholastiker (vgl. THOMAS, Contr. gent. III, 75). HERBERT VON CHERBURY betrachtet den »instinctus naturalis« als subjective Quelle teleologischer oder Wertbegriffe. »Instinctus naturales sunt actus facultatum illarum in omni homine sano et integro existentium, a quibus communes illae notitiae circa analogiam rerum internam, cuiusmodi sunt, quae circa causam, medium et finem rerum bonarum, malum, pulchrum, gratum etc.... per se etiam sine discursu conformantur« (bei RITTER, Gesch. d. Philos. X, 406). SHAFTESBURY bemerkt: »The world innate let us change it, if you will for instinct, and call instinct, that nature teaches, exclusive of art, culture or discipline« (The Moral. III, 2). REID erklärt: »By instinct, I mean a natural impulse to certain actions, without having any end in view, without deliberation, and very without any conception of what we do« (On the act. pow. III, 2). Nach BILFINGER ist der »instinctus naturalis« »species appetitus sensitivi et aversationis ea, quam sine conscientia sui concipimus« (Diluc. § 292). KANT versteht unter Instinct »ein gefühltes Bedürfnis, etwas zu tun oder zu genießen, wovon man noch keinen Begriff hat« (Relig. S. 28), »die innere Nötigung der Begehrungsvermögens zur Besitznehmung dieses Gegenstandes, ehe man ihn noch kennt« (Anthropol. I, § 79). Nach CHR. E. SCHMID ist der Instinct unerklärbar (Empir. Psychol. S. 387; vgl. S. 351). JACOB erklärt den Instinct als »Erregbarkeit des Begehrungsvermögens durch das bloße Gefühl« (Gr. d. empir. Psychol. § 223). Nach GEORGE ist der Instinct die »Gesamtheit der Bewegungen, insofern sie durch den Affect bestimmt und geregelt werden« (Lehrb. S. 171).

G. E. SCHULZE definiert: »Ist mit dem Naturtriebe eine Vorstellung oder Ahnung dessen, was dem gefühlten Bedürfnisse abhilft, schon auf angeborene Art verbunden, so wird er Instinct genannt« (Psych. Anthropol. B. 411). Nach ESCHENMAYER ist Instinct oder Trieb (s. d.) »alles, was als innere Nötigung und Aufforderung in uns vorkommt« (Psychol. S. 44). Nach BURDACH ist der Instinct unbewußte Äußerung der Lebenskraft, »organische Selbsterhaltung in psychischer Form« (Blick ins Leb. I, 206 f.). Nach SCHOPENHAUER ist der Instinct eine unbewußt-zweckmäßige Tätigkeit des Naturwillens (W. a. W. u. V. II. Bd., C. 27). Die Instincthandlungen gehen aus einem inneren Trieb hervor, welcher aber »seine nähere Bestimmung, im Detail der einzelnen Handlungen und für jeden Augenblick, durch Motive erhält« (Üb. d. Freih. d. Will. III). K. G. CARUS definiert den Instinct als die »sich unbewußt einbildende oder abbildende Idee« (Vergleich. Tierpsychol. 1866, S. 59 f.). Nach HANUSCH ist der Instinct »das der unangenehmen Empfindung entsprechende Streben, sie selbst aufzuheben (zu negieren)« (Handb. d. Erfahrungs-Seelenl. S. 49). Jede Art des Instincts ist eine besondere Weise des Strebens nach Lebenserhaltung (l.c. S. 50). Nach J. H. FICHTE ist der Instinct »ein durch apriorisches und eben darum bewußtlos bleibendes Vorstellen geleiteter Trieb« (Zur Seelenfr. S. 29), »vernunftvolles, aber vorbewußtes Wollen« (Psychol. II, 41; vgl. II, 22, 80 ff., 128 ff.). Ein System von Instincten liegt im Menschen schon vor dem Bewußtsein, als Quelle des Apriorischen, als das Apriorische selbst, bereit (l.c. II, 155; vgl. Anthropol. S. 471, 473). E. v. HARTMANN sieht im[516] Instincte ein bewußtes Wollen des Mittels zu einem unbewußt gewußten Zweck (Philo(s. d.) Unbew. I10, 76). Nach CARNERI ist der Instinct »ein Denken auf dem Standpunkt der bloßen Empfindung«, unbewußtes Denken (Sittl. u. Darwin. S. 47). Er ist »das Bewußtsein an sich in unterschiedsloser Objectivität« (l.c. S. 51). Es gibt eine Anpassung, Selection, Vererbung der Instincte (l.c. S. 49). – VOLKMANN versteht unter dem Instinct »jene organische Präformation, infolgederen ein bestimmter Trieb sich in eine bestimmte Leibesbewegung ohne Vermittlung einer klar vortretenden Vorstellung in constanter Weise umsetzt« (Lehrb. d. Psychol. II4, 438). Nach FROHSCHAMMER ist der Instinct »die von Natur (Geburt) aus innewohnende Befähigung der lebendigen Wesen, ohne vorangehende Erfahrung und ohne Unterweisung das zu tun, was der Trieb... erfordert. Instinct ist lebendig gewordene und über das Individuum dem Raum und der Zeit nach hinausreichende teleologische Einrichtung des Tieres«, »noch unfreier Verstand« (Monad. u. Weltphantas. S. 30). Nach A. DÖRING ist der Instinct »der in der unbewußten Taxierung seines Vermögens, in der unbewußten Wahl der Mittel und der unbewußten Umgehung der Hindernisse unfehlbare und daher stets erfolgreiche Trieb« (Philos. Güterlehre S. 190). O. SCHNEIDER: »Instinct ist das psychische Streben nach Arterhaltung ohne Bewußtsein des Zweckes von diesem Streben« (Der menschl. Wille S. 109). KREIBIG definiert die Instincte als »das Willenscorrelat von Bewegungen, bei deren Zustandekommen der biologisch nützliche Zweck unbewußt bleibt, aber die Veranstaltung der Bewegungen und zum Teil auch die Wahl der Mittel mit Bewußtsein erfolgt« (Werttheor. S. 76). Es gibt Instincte der Selbsterhaltung und solche der Arterhaltung (l.c. S. 77). Vgl. LOTZE, Medicin. Psychol. S. 534 ff.

Auf Gewohnheit und Erfahrung führt den Instinct HUME zurück (Treat. III, sct. 16). Die Vernunft (s. d.) ist ein wunderbarer »Instinct« unserer Seele, der uns von Vorstellung zu Vorstellung leitet (ib.). CONDILLAC bestimmt den Instinct als »moi d'habitude« (Trait. des anim. 5). Auf die Gewohnheit bezieht den Instinct RENOUVIER (Nouv. Monadol. p. 83). – Zur Erfahrung und Association bringt ER. DARWIN den Instinct in Beziehung (Zoonom.), zur Gewohnheit CUVIER. Auf vererbte Gewohnheiten führt die Instincte CH. DARWIN zurück (Entsteh. der Art. S. 217). Diese Gewohnheiten entstehen durch natürliche Zuchtwahl (ib.). H. SPENCER bezeichnet die Instincte als »zusammengesetzte Reflextätigkeiten« (Psychol. I, § 194, S. 451), Combinationen von Eindrücken, auf welche Combinationen von Zusammenziehungen folgen (l.c. S. 453). In den höheren Formen des Instincts besteht wahrscheinlich ein rudimentäres Bewußtsein (ib.). Die Instincte sind Producte wiederholter Associationstendenzen in den Generationen (l.c. § 196, S. 458 f.). Der Instinct ist »eine Art von organisiertem Gedächtnis« (l.c. § 199, S. 465). Nach PREYER ist der Instinct ein »vererbtes Gedächtnis« (Seel. d. Kind.3, S. 186), nach EIMER eine »vererbte Gewohnheitstätigkeit« (Entsteh. d. Art. I, 240); vgl. G. H. SCHNEIDER (Der tier. Wille S. 146; Der menschl. Wille S. 68 f.). W. JAMES nennt den Instinct »a mere excitomotor impulse, due to the preexistence of a certain reflex arc in the nerve-centres of the creature« (Princ. of Psychol. II, 391). Der Instinct ist »the faculty of acting in such a way as to produce certain ends, without foresight of the ends, and without previous education in the performance« (l.c. II, 383; vgl. p. 385, 389: Variabilität des Instinctes). Nach ZIEHEN sind die Instincte »sehr complicierte, aber... außerhalb des Vorstellungslebens sich vollziehende[517] Reflexe« (Leitfad. d. physiol. Psychol.2, S. 12). Viele Instincte sind aber »automatische Acte« (l.c. S. 13).

Nach FECHNER ist es wahrscheinlich, »daß auch die Natur die instinctiven Fähigkeiten und Fertigkeiten ihrer Tiere erst erlernen mußte, mit Bewußtsein erlernen mußte, um sie nachher mit halbem Unbewußtsein anzuwenden« (Zend. Av. I, 280). Auf Einübung, Vererbung und Mechanisierung des Eingeübten beruht der Instinct nach L. WILSER (Die Vererb. d. geist. Eigensch. S. 9), LEWES (»lapsing of intelligence«) ROMANES (Geist. Entwickl. S. 24), RIBOT (»conscience éteinte«, L'héréd. psychol.5, p. 19), S. EXNER (Entwurf ein. physiol. Erkl. d. psych. Erschein. I), besonders nach WUNDT. Nach ihm sind die Instincthandlungen »Bewegungen, die ursprünglich aus einfachen oder zusammengesetzten Willensacten hervorgegangen, dann aber während des individuellen Lebens oder im Laufe einer generellen Entwicklung vollständig oder teilweise mechanisiert worden sind«. Sie sind automatisch gewordene psychische Leistungen, die aber teilweise unter dem Einflusse von Motiven stehen. Sie sind das Resultat der Arbeit zahlloser Generationen. Der Vervollkommnung sind sie fähig. Durch Empfindungen und Gefühle werden sie ausgelöst; im Nervensystem sind fertige Dispositionen zu zweckmäßigen Bewegungen vorhanden (Grdz. d. physiol. Psychol. II4, 510 ff., 591, 594; Essays 8, S. 217; Vorles.2, S. 422, 429, 437; Syst. d. Philos.2, S. 590). Die Instincte sind »Triebhandlungen«. »Die physiologischen Ausgangspunkte der für die Instincte vornehmlich maßgebenden Empfindungen sind... die Nahrungs- und die Fortpflanzungsorgane. Demnach lassen sich wohl alle tierischen Instincte schließlich auf die beiden Klassen der Nahrungs– und der Fortpflanzungsinstincte zurückführen« (Gr. d. Psychol.5, S. 338). »Bei allen Instincten gehen die individuellen Triebhandlungen von äußeren oder inneren Empfindungsreizen aus. Die Handlungen selbst sind aber den Trieb- oder einfachen Willenshandlungen zuzurechnen, weil bestimmte Vorstellungen und Gefühle als einfache Motive ihnen vorausgehen und sie begleiten. Die zusammengesetzte, auf angeborener Anlage beruhende Beschaffenheit der Handlungen läßt sich hierbei nur aus generell erworbenen Eigenschaften des Nervensystems erklären, infolgederen auf gewisse Reize sofort und ohne individuelle Einübung angeborene Reflexmechanismen ausgelöst werden« (l.c. S. 339). Es gibt individuelle und sociale Instincte (Eth.2, S. 109). Ähnlich KÜLPE (Gr. d. Psychol. S. 340), W. JERUSALEM (Lehrb. d. Psychol.3, S. 187 f.) u. a. Vgl. A. J. HAMLIN, An Attempt at a Psychol. of Instinct, Mind VI, 1897, p. 59 ff.; FOUILLÉE, L'Origine del' Instinct; JODL, Psychol. SULLY, Mind VI.

Die Ursprünglichkeit socialer Instincte (Triebe, Neigungen) betonen GROTIUS, BODIN, SHAFTESBURY, HUTCHESON, CLARKE, WOLLASTON, HUME, A. SMITH u. a. (vgl. Social). Vgl. Trieb.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 515-518.
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