Wiedererkennen

[742] Wiedererkennen ist das Constatieren eines Bekannten, Gekannten, schon Erlebten als solchen, das Finden bezw. Beurteilen eines Erkenntnisinhaltes als eines bereits Gehabten, Gewußten. Das unmittelbare Wiedererkennen beruht auf einem unterbewußt sich vollziehenden Assimilationsvorgang oder auf einem bewußten Vergleichen des Wahrgenommenen mit Reproduciertem. Das Bekanntheitsgefühl ist die Wirkung latent bleibender Dispositionen (s. d.) früherer Vorstellungen, welche der Wahrnehmung entgegenkommen, sie[742] anders appercipieren lassen als das Unbekannte. Wahrend das Wiedererkennen das Erkennen eines bestimmten Inhaltes als eines erlebten ist, besteht das Erkennen (psychologisch) m der, ähnlich gearteten, Apperception eines Inhalts in seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse von Objecten. Das Kennen ist das Wissen (s. d.) um etwas, das als Product des Erkennens auftritt.

CHR. WOLF erklärt: »Ideam reproductam recognoscere dicimus, quando nobis conscii sumus, nos eam iam antea habuisse« (Psychol. empir. § 173). – Nach FRIES heißt Kennen »einen Gegenstand von andern unterscheiden« (Syst. d. Log. S. 362). nach J. E. ERDMANN »eine bestimmte Vorstellung haben« (Gr. d. Psychol. § 137). Nach BIUNDE erkennen wir, wenn »das Erscheinende gefunden wird als unter der Vorstellung oder dem Begriffe stehend, der darauf im Denken bezogen wurde« (Empir. Psychol. I, 2, 233). »Das Erkennen macht nicht die Dinge bekannt, nur ihre Verhältnisse zu anderen Dingen« (l. c. S. 245). Wiedererkennen ist »das Erkennen, daß das erscheinende Ding dasselbe sei, welches auch früher schon erschien« (l. c. S. 238). – Nach GL. GERBER ist das Kennen »die stets bereite Erinnerung an ein Vorgestelltes« (Das Ich, S. 283).

In der neueren Psychologie herrschen zwei gegensätzliche Ansichten über das directe Wiedererkennen. Nach der einen (viele Engländer, HÖFFDING u. a.) ist das Wiedererkennen ein unmittelbarer Proceß, der sich an die Vorstellungen selbst knüpft, nach der andern (LEHMANN, WUNDT u. a.) beruht es auf Association oder bewußter Vergleichung.

HÖFFDING führt das unmittelbare (directe) Wiedererkennen auf eine »Bekanntheitsqualität« bereits einmal gehabter Vorstellungen zurück. Diese Qualität beruht auf bestimmten Dispositionen. »Das Wiedererkennen (und die Bekanntheitsqualität) entsprechen der Leichtigkeit, mit welcher vermöge der Disposition des Gehirns die Umlagerung bei Wiederholung des Eindrucks geschieht« (Psychol. S. 162 ff.. vgl. Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos. XIII, 420 ff., XIV, 27 ff.. Philos. Stud. VIII, 86 ff.). »Das Wiedererkennen beruht darauf, daß zwischen neuen und früheren Erfahrungen ein Zusammenhang besteht. Im Acte des Wiedererkennens werden alle zwischenliegenden Erfahrungen beiseite gedrängt, und die neue Erscheinung wird unmittelbar oder mittelbar, unwillkürlich oder nach einiger Überlegung mit einer früher vorgekommenen Erscheinung identificiert« (Philos. Probl. S. 34). Auf einem »feeling of familiarity« beruht das Wiedererkennen u. a. nach BALDWIN (Handb. of Psychol. I2, ch. 10, p. 172 ff.. vgl. MORGAN, Introd. to compar. Psychol. ch. 4, u. a.). Nach FOUILLÉE: knüpft sich die »familiarité« an die »facilité de représentation«, an eine »diminution de résistance et d'effort« (Psychol. d. id.-forc. I, 235 ff., 242). Wiedererkennen (reconnaître) ist zunächst »avoir conscience d'agir avec une moindre résistance« (l. c. p. 242). Es ist »un jeu d'optique intérieure produit par des opérations appétitives et sensitives« (l. c. p. 247 ff.). »la conscience des ressemblances et des différences, qui fait le fond de la reconnaissance, vient de ce que chague image vive est saisie simultanément et classée avec d'autres quoique différents par leurs cadres et leurs milieux« (l. c. p. 250). Daß das Wiedererkennen nicht auf Vergleichung beruht, betont H. BERGSON (Mat. et Mém. p. 91 ff.). Nach H. CORNELIUS ist das Wiedererkennen eine ursprüngliche Tatsache, die ohne Vergleichung sich schon vollzieht (Psychol. S. 28 ff.). Die Ähnlichkeit des Neuen mit dem Vergangenen tut sich uns unmittelbar kund (Einl, in d. Philos. S. 213). »Die Bedingung, unter welcher allein ein Inhalt als ein gewohnter, d.h. eben als ein von früher her bekannter erscheinen kann,[743] ist die im Bewußtsein vorhandene Nachwirkung eben jener früheren Erlebnisse, durch welche er zum gewohnten geworden ist« (l. c. S. 216). Diese Nachwirkung faßt ZIEHEN rein physiologisch auf, als »Abstammung« von Rindenzellen, die diese für ähnliche Erregungen zugänglicher macht (Leitfad. d. physiol. Psychol.2, S. 141 ff.. vgl. MÜNSTERBERG, Beitr. zur exper. Psychol. 1. H.).

Nach LAZARUS erkennen wir, indem wir »das Bild, welches jetzt in unserem Innern entsteht, mit den früheren gleichartigen Bildern verknüpfen und damit als gleichzeitige auffassen« (Leb. d. Seele II2, 44 ff.). Nach JODL wird erkannt »dasjenige, was durch frühere partiell identische oder ähnliche Eindrücke, die zu einer gegebenen Erregung hinzufließen und sich mit ihr summieren, verdeutlicht wird« (Lehrb. d. Psychol. S. 484). Nach B. ERDMANN wird ein Gegenstand erkannt, »sofern derselbe auf Grund der Sinnes- oder Selbstwahrnehmung als dieser bestimmte einzelne, als Exemplar einer Art oder als Art einer Gattung vorgestellt wird«. »Alles Erkennen ist Wiedererkennen« (Log. I, 41). »Das Wiedererkennen beruht auf der Zusammenwirkung des durch die gegenwärtigen Reize Gegebenen mit den Gedächtnisresiduen früherer Vorstellungen« (l. c. I, 41 f.. vgl. Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos. X, 318 f.).

Nach A. LEHMANN beruht das Wiedererkennen auf mittelbarer Association, auf einer Assimilation von Elementen von Vorstellungen (Philos. Stud. V, 69 ff.. VII, 169 ff.). Nach WUNDT gibt es keine specifische Bekanntheitsqualität, wohl aber ein »Bekanntheitsgefühl«, »Wiedererkennungsgefühl« (Grdz. d. physiol. Psychol. II4, 442 ff.. Gr. d. Psychol.5, S. 285). Beim sinnlichen Wiedererkennen eines schon einmal (vor kurzem) erlebten Eindruckes pflegt sich die dem Wiedererkennen zugrunde liegende Association »unmittelbar als eine simultane Assimilation zu vollziehen, wobei sich der Vorgang von den sonstigen... Assimilationen nur durch ein eigentümliches begleitendes Gefühl, das Bekanntheitsgefühl, unterscheidet. Da ein solches Gefühl immer nur dann vorhanden ist, wenn zugleich in irgend einem Grad ein Bewußtsein davon existiert, daß der Eindruck schon einmal dagewesen sei, so ist dasselbe offenbar jenen Gefühlen zuzurechnen, die von den dunkleren im Bewußtsein anwesenden Vorstellungen ausgehen. Der psychologische Unterschied von einer gewöhnlichen simultanen Assimilation muß also wohl darin gesehen werden, daß in dem Moment, wo sich bei der Apperception des Eindrucks der Assimilationsvorgang vollzieht, zugleich irgend welche Bestandteile der ursprünglichen Vorstellung, die nicht an der Assimilation teilnehmen, in den dunkleren Regionen des Bewußtseins auftauchen, wobei nun ihre Beziehung zu den Elementen der appercipierten Vorstellung in jenem Gefühl zum Ausdruck kommt« (Gr. d. Psychol.5, S. 285). »Verfließt... eine gewisse Zeit, bis die allmählich im Bewußtsein aufsteigenden früheren Vorstellungselemente ein deutliches Wiedererkennungsgefühl hervorrufen, so trennt sich der ganze Vorgang in zwei Acte: in den der Auffassung und den der Wiedererkennung.« Das »mittelbare Wiedererkennen« besteht »darin, daß ein Gegenstand nicht vermöge der ihm selbst zukommenden Eigenschaften, sondern mittelst irgend welcher begleitender Merkmale, die nur in zufälliger Verbindung mit ihm stehen, wiedererkannt wird, also z.B. eine begegnende Person mittelst einer andern, die sie begleitet und dgl.« (l. c. S. 286 f.. vgl. VILLA, Einl. in d. Psychol. S. 293).

KÜLPE erklärt: »Das Wiedererkennen kann sich in sehr verschiedener Weise vollziehen, bald in der Form allgemeinerer oder speciellerer Urteile, die die Bekannschaft[744] mit einem Gegenstande oder einem Ereignis ausdrücken, ohne daß die ihrer früheren Wahrnehmung entsprechenden Empfindungen reproduciert werden – unmittelbares Wiedererkennen. bald mit Hülfe reproducierter Empfindungen, die sich an das eben Wahrgenommene oder Vorgestellte anschließen und gewisse Umstände andeuten, die der früheren Situation angehörten – mittelbares Wiedererkennen. Nach meiner Erfahrung findet die Reproduction der der früheren Wahrnehmung entsprechenden, sie mehr oder weniger treu wiederholenden Erinnerungsbilder nur selten statt.« Die Grundlage eines unmittelbaren Wiedererkennungsurteils besteht »teils in der besondern central erregenden Wirksamkeit der bekannten Eindrücke oder Erinnerungsbilder, teils in der eigentümlichen Stimmung, in die sie uns zu versetzen pflegen« (Gr. d. Psychol. S. 177). »Jeder Eindruck veranlaßt ein bestimmtes Verhalten des lebenden Wesens ihm gegenüber, die bekannten Erscheinungen reproducieren mit relativer Leichtigkeit und Sicherheit ein früher bereits angewandtes und bewährtes sensorisches und motorisches Verhalten, die unbekannten müssen erst zu einer entsprechenden Reactionsform verarbeitet werden« (l. c. S. 178 f.. vgl. S. 180). »In gewissen Fällen, namentlich, wenn sich die Erinnerung nur mühsam im vollen Umfange wieder einstellt, läßt sich ein wirkliches Vergleichen zwischen den reproducierten und den peripherisch erregten Eindrücken beobachten« (l. c. S. 181 f.). – Nach W. JERUSALEM ist das Wiedererkennen »ein Urteil, daß auf Grund von Ähnlichkeits- und Berührungsassociationen gefällt wird« (Lehrb. d. Psychol.3, S. 82). – Nach A. MEINONG ist die Bekanntheit keine Qualität von Vorstellungen, sondern von Urteilen (Zeitschr. f. Psychol. VI, 1894, S. 375). – Nach REHMKE gibt es keine Bekanntheitsqualität. Das Bekannte ist »dasjenige unseres Bewußtseinsinhaltes, was als früher schon Gehabtes uns bewußt ist«. Es beruht auf einem Vergleichen (Allgem. Psychol. S. 497, 502 ff., 509 ff.). Ein Act des Vergleichens ist das Wiedererkennen auch u. a. nach F. FAUTH (Das Gedächtnis, 1898). Vgl. Notal.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 742-745.
Lizenz:
Faksimiles:
742 | 743 | 744 | 745
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon