Pietisten

[544] Pietisten, lat.-dtsch., Frömmler, bezeichnet im ursprünglichen Sinne die Anhänger einer besondern protest. Secte, welche am Ende des 17. Jahrh. mit Ph. J. Spener u. A. H. Francke (s.d.) ihren Anfang nahm. Ersterer erklärte der starren und unfruchtbaren Symbolgläubigkeit seiner Zeit gegenüber die Religion als Sache des Herzens, behauptete, daß das Predigtamt dieselbe vor allem dem Gemüthe einzuprägen habe und hielt seit 1670 zu Frankfurt a. M. Versammlungen (collegia pietatis), wo das fromme Gefühl durch Bibelauslegungen und Gespräche angeregt wurde. Er gewann Anhang durch Schriften sowie als Oberhofprediger in Dresden (1686–1691), zumal seine Frömmigkeit aufrichtig und seine Gedanken die vieler bessern Protestanten seiner Zeit waren. Unter seinen Anhängern stifteten in Leipzig A. H. Francke u. andere 1686 ein Collegium philobiblicum u. hielten seit 1689 Collegia biblica, erbauliche Vorlesungen über die hl. Schrift, die großes Aufsehen machten und bald bedeutende Gegner erweckten. Die Seele der letztern wurde J. B. Carpzov (s.d.) sowie die theologische Facultät in Wittenberg. Sie warfen den P. Verachtung des öffentlichen Gottesdienstes, der Wissenschaft, Kopfhängerei u. Sectenhochmuth vor u. zogen die weltlichen Machthaber um so erfolgreicher in den Streit, weil die Anklagen nicht alle ohne Grund waren. Während der Pietismus in Leipzig und anderorts gewaltsam unterdrückt wurde und in Hamburg 1693 Aufstände veranlaßte, wurde die 1694 gestiftete Universität Halle zur Metropole desselben und alle vereinzelten Verbote vermochten im 18. Jahrh. das Conventikelwesen nicht gänzlich zu unterdrücken. Die P. wirkten vielfach gut auf das religiöse Leben des Volkes u. förderten die Vermittlung der Theologie mit den Fortschritten der Wissenschaft; anderseits war ihre Klage, daß man die Chiliasten, Inspirirten, Stillen im Lande, Herrnhuter, Separatisten, sogar die Dippelianer u.s.f. zu ihnen zähle, eine unberechtigte, denn 1) waren sie mit all diesen Secten einig im rührigen Haß gegen die kath. Kirche, 2) wollten sie gleich diesen keine Autorität für Bibelerklärung über sich anerkennen u. lief 3) ihr ganzes Gebahren auf eine religiöse Gefühlsschwärmerei im Gebiete der Religion hinaus, welche von jeher allen möglichen und mitunter den abscheulichsten Verirrungen, vor allem aber dem Pharisäismus und dem Geisteshochmuthe Thür und Thor öffnet und thatsächlich bei den eigentlichen P. auch geöffnet hat. Vgl. Muckerei. – Was von den alten P. gilt, gilt mehr oder minder auch von den heutigen, den sogen. Neu-Evangelischen, die als mystischer Gegensatz zum Rationalismus u. im Zusammenhange mit der romantischen Poesie der Bestrebungen Schleiermachers u. der Jubiläumsfeier von 1817 sich neu erhoben, 1827 in Berlin die »Evangelische Kirchenzeitung« als Organ gewannen, sich gegenwärtig besonders in Preußen eines außerordentlichen Einflusses erfreuen und als die einzig und allein Orthodoxen sich gebahren, während im Protestantismus der äußerste Rationalismus und Atheismus eben auch als »orthodox« vertheidigt werden können, insofern grundsätzlich jeder Einzelne das Recht hat, »nach seiner Façon selig zu werden.«

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1856, Band 4, S. 544.
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