Strafe

[603] Strafe ist das von einer Rechtsgemeinschaft durch Urteil verhängte Übel, welches jemand infolge seiner Schuld trifft. Voraussetzung für die Strafe ist also die Schuld, die begangen ist, und die Rechtsgemeinschaft, die durch ihre Organe Strafen verhängt. Im Naturzustande gab es also noch keine Strafe, sondern nur Rache. Höchstens war in der Familie, aus welcher der Staat erwuchs, seit je Strafgerechtigkeit. Erst mit der Entstehung der Staaten entsteht auch die Strafe, ihrem Begriff und Wesen nach. Seiner Aufgabe gemäß hat der Staat nur diejenigen Handlungen, welche die bürgerliche Rechtsordnung und Sicherheit gefährden, zu bestrafen. Überschreitungen der Moral, welche dies nicht tun, keinen anderen beeinträchtigen, auch nicht öffentliches Ärgernis geben, gehen ihn dagegen unmittelbar nichts an.

Bezüglich des Zwecks und Grunds der Strafe unterscheidet man die relativen und die absoluten Strafrechtstheorien. Jene leiten die Strafe aus einem außerhalb derselben liegenden Zweck ab, diese betrachten die Strafe als Selbstzweck. Unter den relativen Theorien sind zwei hervorzuheben: Entweder suchen die Anhänger der relativen Strafrechtstheorie den Zweck der Strafe in der Abschreckung der Menschen von dem gestraften Verbrechen oder sie suchen den Zweck der Strafe in der Besserung des Verbrechers; aber die einseitige Abschreckungstheorie bewährt sich nicht, weil, wie die Geschichte lehrt, auch die furchtbarsten Martern die Verbrechen nicht aus der Welt geschafft haben, und auch die Besserung des Verbrechers tritt nur selten ein. Die relativen Theorien finden also ihre Widerlegung[603] durch das Mißverhältnis, das zwischen Zweck und Mittel, zwischen Erstrebtem und Erreichtem besteht. Wenigstens kann der Hauptzweck der Strafe weder in der Abschreckung noch in der Besserung liegen. Nach der absoluten Theorie ist die Strafe die Aufhebung der verbrecherischen Störung der Rechtsordnung, die Wiederherstellung des Rechts, indem sie dem Gesetz Genugtuung verschafft. Nach dieser Auffassung dient die Strafe vor allem dem Schutze der Gesetze, der Heiligung der Rechtsordnung. Jede Verletzung des Rechts wird geahndet, und schon die uralte römische Strafformel lautete: »Lehre durch das Exempel deiner Strafe, alles das heilig zu halten, was du entheiligst hat!« Daß dieses der wichtigste Zweck der Strafe sei, wird meist zugegeben werden. Wollte der Staat nur ein Jahr, einen Monat lang nicht mehr dem verhöhnten Gesetze Genugtuung verschaffen, so würde bald die ganze Rechtsordnung dahin sein. Und dasselbe geht auch aus der Art hervor, wie Eltern strafen: Nicht, um sich an dem Kinde zu rächen, fügen sie ihm ein Übel zu, sondern um ihm Achtung vor ihren Geboten einzuflößen. Ebensowenig darf natürlich der Staat bei dem Strafen grausam verfahren, damit er nicht rachsüchtig erscheine. Relative und absolute Theorien lassen sich aber auch zu den Gedanken verbinden, daß die Strafe das Recht wiederherstellt und daneben vom Unrecht abschreckt und den Verbrecher bessert. Als Nebenzwecke der Strafe können immerhin die Abschreckung anderer und die Besserung der Verbrecher gelten. Jene ist deshalb nötig, weil jede Rechtsverletzung als böses Beispiel andere leicht zur Nachahmung reizt, solange sie nicht üble Folgen, d.h. Strafe, nach sich zieht. Diese darf ebenfalls als Nebenzweck der Strafe gelten. Denn da der Verbrecher Feind und Friedensstörer der Gesellschaft ist, kann diese Gesellschaft auch verlangen, daß jener zu einem friedlichen und geeigneteren Glied erzogen werde. Die Strafe darf also nicht den Rest von Ehrgefühl und Sittlichkeit, den der Bestrafte hat, ersticken, soll ihn vielmehr entwickeln. Es faßt sich also der Begriff der Strafe dahin zusammen, daß sie als ein von einer Rechtsgemeinschaft für eine begangene Schuld verhängtes Übel bezeichnet wird, durch welches vor allem die verletzte Rechtsordnung wiederhergestellt, daneben aber auch von ähnlichen Vergehen abgeschreckt und der Schuldige gebessert werden soll.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 603-604.
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